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Die Kunst der Unterscheidung

von Prof. Michael Gabel

Serie: „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“ (3)

Gut zu sein ist besser als gut zu scheinen. Mit ihren Nachbardisziplinen hilft die Theologie bei der Suche nach dem Weg zwischen rechtem Glauben und menschlicher Vernunft

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Es geht um mein Leben!" So klar begründen selbst Leute von der Straße ihre

Zustimmung zur genbiologischen Forschung. Damit ist den sogenannten

Lebenswissenschaften naturwissenschaftlicher Provenienz gelungen, worauf

andere Disziplinen neidvoll blicken, die volksnahe Begründung ihres Daseins.

Demgegenüber scheinen die Geisteswissenschaften schlechte Karten zu haben.

Zudem haben sie Angst vor Mittel- und Stellenkürzungen für ganze

Fachkulturen. Das Jahr der Geisteswissenschaften lädt dazu ein, noch einmal

zu prüfen, ob sie der Öffentlichkeit wirklich so schlecht zu vermitteln

sind. Ist doch ihr Gegenstand die menschliche Lebenswirklichkeit selbst, so

unterschiedlich sie auch geschichtlich, sozial, kulturell und religiös

geprägt sei.

Offensichtlich liegt genau darin das Problem der Geisteswissenschaften. Sie

handeln von dem, was die Menschen unmittelbar angeht. Indem sie es aber in

seiner unerschöpflichen Vielfalt und atemberaubenden Vielzahl an

Perspektiven untersuchen, fühlen sich Außenstehende eher verwirrt. Während

aus Objektivität - bildlich gesprochen – der Forscher sich immer tiefer über

seinen Gegenstand beugt und sich in ihm geradezu verliert, scheint vielen

der Gegenstand - ihre Lebenswirklichkeit – unrettbar verloren zu gehen.

Gegen diesen Eindruck hilft nur Beteiligung. Die Geisteswissenschaften

müssen sich über die Schulter schauen lassen, sie müssen ihre Arbeit über

alle Ausdifferenzierung hinweg in eine gemeinsame Perspektive eintragen, die

sich für die Menschen einsichtig mit den Erfordernissen ihres Lebens

verbindet.

Geisteswissenschaften üben die Kunst der Unterscheidung aus. Kunst nicht in

der ästhetischen Bedeutung, sondern im platonischen Verständnis der

Fertigkeit, des verständigen Umgangs mit Dingen. Was so gewonnen wird, ist

der Beliebigkeit entrissen und hat bleibenden Wert. Der Begriff

Unterscheidungskunst hält im aristotelischen Sinn den wissenschaftlichen

Charakter der Geisteswissenschaften fest. Das Unterscheiden erschließt die

Sache auf doppelte Weise. So trennt es, rein formal, den

Forschungsgegenstand aus dem Ganzen heraus. Seine Definition verlangt die

Unterscheidung der Besonderheiten vom allgemeinen Zusammenhang, von dem her

die Sache sich gibt. In diesem umfassenden Sinn ist Unterscheidung für jede

Wissenschaft unverzichtbar, auch für die Naturwissenschaften.

Und ebenso für den Alltag: Dreht man die Dinge nämlich hin und her, prüft

sie wieder und wieder, dann unterscheidet man hier wie da, um zu gewinnen,

was Bestand hat. Insofern Wichtiges und Gültiges nur in der Unterscheidung

vom scheinbar Wichtigen gewonnen wird, Bleibendes in der Unterscheidung vom

vergänglich Dahingehenden, Richtiges in der Unterscheidung vom Irrtum,

Wahres in der Unterscheidung von Lüge und Gutes in der Unterscheidung vom

Bösen, ist die Tätigkeit des Unterscheidens auch material zutiefst

bedeutsam. Als methodisch gesicherte Reflexion verbindet Unterscheiden die

Geisteswissenschaften, als täglich neue Anstrengung um Rat und Orientierung

sichert es erfolgreiches Bestehen des menschlichen Alltags.

Beim Unterscheiden gehen Wissenschaften und Alltagswelt Hand in Hand, wie

sich an zwei Beispielen zeigen lässt. Das erste stammt aus der

Gegenwartskultur. "Zappen oder Blättern". Zappend springen wir beim

Fernsehen von Augenblick zu Augenblick, ohne dass sich der einzelne Eindruck

wiederholen oder verstetigen ließe. Beim Blättern hingegen kann man zum

bereits Gelesenen zurückkehren und ihm nachgehen. Bei beiden

Wahrnehmungsweisen handelt es sich nicht nur um verschiedene Aspekte,

sondern um unterschiedliche "Wirklichkeitswelten".

"Zappen" steht für eine präsentisch gedachte Realität ohne wiederholende

Vergegenwärtigung, "Blättern" dagegen für ein von Wiederholung, Erinnerung

und Gedächtnis bestimmtes Wirklichkeitsverständnis. Geisteswissenschaften

zeigen, dass hinter den Einrichtungen unserer Alltagskultur grundlegende,

miteinander konkurrierende Weisen des Sich-Aufhaltens in Welt und Geschichte

stehen. Forschung markiert nicht nur Entscheidungsmöglichkeiten in

Alltagsfragen, sondern vertieft Alternativen durch den Aufweis ihrer

Konsequenzen.

Das zweite Beispiel ist Platons Wertschätzung der Unterscheidungskunst, wenn

er Sokrates im Dialog "Gorgias" sagen lässt, es komme nicht darauf an, gut

zu scheinen, sondern gut zu sein. Platon verstand die Maxime als

philosophischen Einspruch in der Debatte um die Gestaltung von Politik als

verantwortlicher Umgang mit Macht. Die Missachtung dieses Unterschiedes ist

das Einfallstor des Machtmissbrauchs. Gegen solche Täuschungsversuche steht

die Philosophie als Aufklärung durch Unterscheidung. Ähnlich haben die

Geschwister Scholl gegenüber dem Nationalsozialismus mit ihrem Leben auf dem

Unterschied von Schein und Sein bestanden. Gut scheinen, ohne es zu sein -

das ist in Wahrheit Beugung des Rechts, Missbrauch des Staates, Betrug an

den Menschen und letztlich Betrug an sich selbst, weil der eigene Auftrag zu

einem verantworteten Leben mit Füßen getreten wird.

Oft können Geisteswissenschaften den Missbrauch nicht verhindern, sie

schärfen aber kritisches Bewusstsein und tragen zu seiner Entlarvung und

Überwindung bei. So stützen sie die demokratischen Strukturen. Diese

Unterscheidungskunst betrifft aber auch die Geisteswissenschaften selbst,

insofern sie zu prüfen haben, inwieweit ihre Arbeit gegenüber den

Auftraggebern allein dem Maßstab guter Wissenschaft folgt. In Verbindung mit

der Korrekturbereitschaft wird Unterscheidungskunst zum inneren Prinzip

persönlicher menschlicher Reife wie gesellschaftlicher Entwicklung. Wer mit

eigener Fehlbarkeit rechnet, ermöglicht Neuanfang. Das Schuldbekenntnis, in

dem sich die Kirche im Jahr 2000 ihrer Geschichte im Umgang mit dem Dritten

Reich stellte, war ein solches Zeichen geisteswissenschaftlich geschulter

Unterscheidungskunst.

Die Unterscheidung von Schein und Sein ist von größter Bedeutung für jede

Wissenschaft. Die nie abgeschlossene Aufklärung des Scheines treibt die

Erkenntnis voran. Was vertraut und bekannt scheint, erweist sich in dieser

Unterscheidung als noch immer fremd und längst nicht durchschaut. Dem damit

verbundenen Verlust an Sicherheit steht der Gewinn an Dynamik in der

Forschung gegenüber. Im Vollzug dieser Differenz wird Wirkliches vom

Unwirklichen geschieden, denn die Vernunft sucht nach dem Bleibenden und

trennt es vom Zufälligen. So verwirklicht sich in der Unterscheidungsarbeit

der Mensch als Träger des Geistes, als Vernunftwesen.

Das Bestehen auf dem Unterschied von Schein und Sein verlangt seinerseits

nach Unterscheidung. Verwerfen wir den Schein, weil uns das Sein klar vor

Augen steht, oder weil wir den Schein als Schein entlarven? Letzteres ist

Lernen aus Fehlern und die bescheidenere Position. Sein als Sein,

Wirklichkeit hundertprozentig zu erkennen, ist als Forderung Überforderung

und als Anspruch Anmaßung. Die Wirklichkeit im Ganzen kann nicht in gleicher

Weise erkannt werden wie einzelne Gegenstände. Wohl kann sie als Grenze

verstanden werden, die jede Einzelerkenntnis berührt, ohne sie zu

überschreiten. Dies festzuhalten ist Aufgabe der Philosophie. Platon ging in

den Dialogen diesen Weg. Edmund Husserl hat ihn im 20. Jahrhundert durch die

Methode des Einklammerns beschritten, die nicht Skepsis meint, sondern

Denken als Gang versteht, der nicht vorzeitig gestoppt werden darf. Wird das

beachtet, muss man Relativismus nicht fürchten.

Ein halbes Jahrtausend früher hat der deutsche Kardinal und Philosoph

Nikolaus von Kues für das Berühren dieser Grenze ohne ihre Überschreitung

den Begriff des gelehrten Nichtwissens geprägt. Ein Bekenntnis zum gelehrten

Nichtwissen ist nicht Faulheit, sondern äußerste Anstrengung in der

Unterscheidungsarbeit, die für alle Wissenschaften den Grund ihres Tuns

bedenkt.

Im Christentum weiß sich der Mensch genau auf diese Grenze gestellt, aber

ohne ihr Herr zu sein. In ihr offenbart sich ihm Gott als tragender Grund

und bergendes Geheimnis aller Wirklichkeit. Der Theologie als

wissenschaftlicher Reflexion des geoffenbarten Glaubens erwächst daraus der

Auftrag einer doppelten Unterscheidung. Sie hat dafür zu sorgen, dass der

Glaube Glaube bleibt, nämlich Erwartung der Vollendung von Mensch und Welt

durch Gott. Der Glaube muss deshalb von der Versuchung einer menschlichen

Bemächtigung des Handelns Gottes unterschieden werden, mit der das Unwesen

von Religion beginnt.

Hier ist der Theologe sowohl Anwalt des Gott gemäßen Glaubens wie der dem

Menschen gemäßen Vernunft. So nimmt die Theologie teil an der

Selbstunterscheidung menschlicher Vernunft zwischen einem seiner Grenzen

bewussten Vernunftgebrauch und einer pathologischen Vernunft. Paulus hat das

in seiner Kreuzestheologie gewusst, Karl Barth mit mächtiger Stimme

eingefordert. Unlängst galt das Gespräch zwischen dem damaligen Kardinal

Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., und Jürgen Habermas dieser Aufgabe.

Die zweite theologische Unterscheidung gründet in der Verheißung des

Glaubens, Gott werde einst alles in allem sein (l. Korinther 15,28) und

darin Mensch wie Welt Gericht und Vollendung finden. In dieser Perspektive

denkt die Theologie nicht mehr nur vom Menschen her auf die äußerste Grenze

hin. Sie trägt umgekehrt von der Grenze her das Ziel der Verheißung heran an

die menschliche Lebenswirklichkeit als deren grundlegendste und alles

erfüllende Bestimmung. Theologisch fundiert lässt der Glaube den Unterschied

zwischen einem Leben sehen, das sich allein von menschlicher Begrenztheit

her erschließt, und einer Perspektive des Heiles, die in der Zuwendung

Gottes gründet.

Erst diese Unterscheidung, die mit dem Menschen als Geschöpf seine

Vergänglichkeit bejaht und mit der göttlichen Erwählung seiner Geistnatur

zugleich die Zugehörigkeit zum Ewigen bedenkt, bestimmt den Menschen in

umfassender Weise. Droht diese Einsicht in immer neuen Unterscheidungsgängen

verloren zu gehen?

Nikolaus von Kues, der Philosoph mit dem Kardinalshut, verweist auf einen

eigenartigen Umstand. Dringen wir durch unablässiges Unterscheiden bis zum

letzten Grund vor, zeigt sich dieser als Ineinsfall alles Unterscheidbaren,

als Nichtunterschiedenheit. Ohne es in ein verfügbares Wissen zu bringen,

fördert deshalb alles Unterscheiden die Ahnung dieser Nichtunterschiedenheit

als letztem Zusammengehören -ion Gott, Mensch und Welt. In dieser

Perspektive ist nichts Vergängliches nur vergänglich, erstickt Endliches

nicht in Endlichkeit. Die Unterscheidungsarbeit der Geisteswissenschaften

erfüllt ihren Anspruch, den Menschen würdige und gültige Perspektiven zu

öffnen, "damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Johannes 10,10).

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Bestellinformationen

Herausgeber

Prof. Günther Rüther und Prof. Jörg-Dieter Gauger

verlag

Herder

ISBN

978-3-451-29822-6

erscheinungsort

Berlin Deutschland