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Intellektuelles Belarus 2040

von Dr. Wolfgang Sender

Zukunftsvorstellungen über das künftige wirtschaftliche Wachstum in Belarus

Auf einem Wissenschaftlerkongress in Minsk verabschiedete die wissenschaftliche Elite des Landes am 12. und 13. Dezember 2017 den Entwurf einer Strategie „Wissenschaft und Technologie: 2018 - 2040“. An dem Kongress nahmen über 2.000 Delegierte aus Belarus und rund 500 internationale Gäste aus führenden ausländischen Wissenschaftsakademien und Wissenschafts- und Forschungszentren teil.

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Wissenschaftler nutzen einen neu entwickelten Touch Screen. | © CommScope / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0 © CommScope / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0
Wissenschaftler nutzen einen neu entwickelten Touch Screen. | © CommScope / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Das Abschlussdokument des Kongresses soll der Republik Belarus langfristig den Einstieg in die High-Tech-Märkte, die Steigerung wissenschaftlicher Anteile am Bruttoinlandsprodukt und stärkere praktische Forschungsergebnisse ermöglichen. Kann das Land hier-durch für die Herausforderungen der Zukunft fit gemacht werden?

Der federführend durch die Nationale Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus entwickelte Strategieentwurf wurde nach der Erörterung im Ministerrat Ende Oktober 2017 wenige Tage später der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt. Nach der Diskussion des Entwurfs auf dem Wissenschaftlerkongress arbeitet die Nationale Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus gegenwärtig die gesammelten Vorschläge und Anregungen ein. Nach der Verabschiedung durch die Regierung soll die Strategie die Ausrichtungen für die staatliche Innovationspolitik und Instrumente für die Entwicklung des wissenschaftlichen und technischen Potentials des Landes langfristig bestimmen.

Obwohl gegenwärtig noch unklar ist, wie die Endfassung dieser Strategie nach der Aufbereitung durch die Wissenschaftsakademie aussehen wird, geben die Ecksteine und konzeptionellen Ansätze des Dokuments einen Eindruck über die gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Denkansätze im Land.

Dies gilt umso mehr, als die Entwickler des Strategieentwurfs ihr Dokument als eine konzeptionelle Antwort auf die in anderen Ländern hervorgebrachten Zukunftsvisionen über die Grundlagen des wirtschaftlichen Wachstums positionieren, wie beispielsweise konzeptionelle Vorstellungen der „Industrie 4.0“ oder das japanische Modell einer „Gesellschaft 5.0“. Durch die umfassende Einführung von digitalen Technologien, den Aufbau eines „neo-industriellen“ Komplexes und einer „hochintellektuellen“ Gesellschaft soll laut der aktuellen Vorschläge ein „intellektuelles Belarus“ entstehen.

Zeitliche Reichweite und Umsetzungsetappen der Strategie

In einer ersten Etappe bis 2020 beabsichtigen die wissenschaftlichen Autoren des Strategieentwurfs die vorhandenen Ergebnisse im wissenschaftlichen und technischen Bereich, die Position des Landes in der internationalen Arbeitsteilung und Kooperation sowie die Ziele der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung zunächst zu festigen. Die zweite Etappe von 2021 bis 2030 soll sich auf die Schaffung von systemischen Bedingungen für die digitale intellektuelle Modernisierung der traditionellen Wirtschaftszweige und die Auswahl von Wachstumspunkten für die wissenschaftsintensive Wirtschaft konzentrieren. In der abschließenden dritten Etappe von 2031 bis 2040 werden die Steigerung der Kompetenzen in den ausgewählten Segmenten der intellektuellen Wirtschaft und das Einnehmen von weltweit führenden Positionen in diesen Segmenten angestrebt.

Die Wissenschaftler schlagen vor, sich bei diesen Prozessen an den globalen Trends des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts sowie an den Bedürfnissen von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft zu orientieren und auf die internationale wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit zu stützen.

Ausgangsanalyse

Die Strategie schaltet der Zukunftsvision zunächst eine durchaus kritische Analyse der Ausgangspositionen vor. Einerseits wird das Vorhandensein einer Struktur für die innovative Entwicklung der Wirtschaft festgestellt. Deren Basis stellt die Nationale Akademie der Wissenschaften dar, die wie in anderen post-sowjetischen Staaten eine wesentliche Rolle in der Forschung einnimmt, während die belarussischen Universitäten einen starken Fokus auf den Lehrbetrieb haben. Im Entwurf werden einzelne wissenschaftliche Bereiche angesprochen, in denen Belarus durchaus Wettbewerbsvorteile besitzt. Andererseits werden auch die Defizite des wissenschaftlichen Bereichs angeführt, darunter ein niedriger Anteil der Beschäftigten im Forschungs- und Entwicklungssektor. Gerade einmal 0,6 Prozent der Beschäftigten sind hier tätig, dies ist selbst um das 1,4-fache niedriger als in Russland und beinahe zweimal niedriger als in Ländern mit moderner Wissenschaftsstruktur. Bemängelt wird auch der Altersdurchschnitt unter habilitierten Doktoren der Wissenschaften: Über 80 Prozent dieser Personen sind über 60 Jahre alt, 15 Prozent von ihnen sogar über 80 Jahre. Auch der Anteil der Ausgaben für die Wissenschaft und Innovationen am Bruttoinlandsprodukt wird hier kritisch beleuchtet: Er liegt bei nur 0,5 Prozent, wohingegen bei den führenden Ländern dieser Wert im Durchschnitt 2,5 bis drei Prozent ausmacht.

Auch die gesamtwirtschaftlichen Probleme, mit denen Belarus konfrontiert wird, werden im Strategieentwurf bemerkenswert schonungslos aufgedeckt und teilweise kommentiert: Die niedrige Konkurrenzfähigkeit einzelner Wirtschaftszweige und Unternehmen, niedriges Wirtschaftswachstum, hohe Importanteile, das Schwinden des Bevölkerungspotenzials, die langsame Reaktion des Bildungssystems auf die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und die Bedürfnisse der Wirtschaft und schließlich die steigende internationale Konkurrenz im Bereich natürliche und menschliche Ressourcen.

Vision für 2040

Das bis 2040 aufzubauende „Intellektuelle Belarus“ umfasst nach dem vorgelegten Entwurf drei Schlüsselelemente. Erstens geht es um eine umfassende Digitalisierung im Land. Die digitalen Technologien sollen künftig den technologischen Kern der intellektuellen Wirtschaft darstellen. Zweitens wird der „neoindustrielle Komplex“ konzeptuell gefasst. Es geht um die Produktion von Waren und Dienstleistungen auf Basis von Nano-, Bio-, IT- und additiven Technologien, von Verbundwerkstoffen mit vorgegebenen Eigenschaften sowie um Smart Energy. Drittens schließlich wird auf das Feld der „hochintelligenten Gesellschaft“ Bezug genommen, die auf einem geistig tätigen Menschen aufbaut, der seine Kompetenzen ständig steigert. Es soll eine Harmonisierung der Bedürfnisse eines jeden Menschen mit den Bedürfnissen der ganzen Gesellschaft und dadurch eine Maximierung der gesellschaftlichen Güter erreicht werden.

Dabei wollen die Wissenschaftler die angestrebte „intellektuelle Wirtschaft“ auf dem Fundament der traditionellen Wirtschaftszweige aufbauen: Industrie, Agroindustrie, Bauwesen, Energie, Gesundheitswesen. Diese industrielle Grundlage sollte anhand von Durchbruchsentwicklungen modernisiert werden.

Geplante Durchbruchsprioritäten

Die traditionellen Wirtschaftszweige sollen laut Strategieentwurf zunächst bis 2030 komplett digitalisiert werden, damit die Produktion dann bis 2040 umfassend modernisiert werden kann. Ziel soll dabei eine „Neue Industrie 2040“ sein, die im Grunde genommen der Konzeption der Industrie 4.0 entspricht. Die Agrarwirtschaft soll sich nach dieser Vorstellung auf eine Konzeption der „präzisen Landwirtschaft“ gründen, das Gesundheitswesen auf eine personalisierte Medizin und das Bauwesen auf intelligente Gebäude.

Dafür wollen die Wissenschaftler laut Strategieentwurf Durchbrüche in den Bereichen Robotechnik und Mechatronik, Zukunftsenergien, Weltraumsysteme und fahrerlose technische Systeme, Nano- und Bioindustrie, additive Technologien, Verbundwerkstoffe und Intelligente Werkstoffe (smart materials) und Umwelttechnologien erzielen.

Wie soll das funktionieren?

Das „intellektuelle Belarus“ soll vor allem durch das Fördern des menschlichen Potentials aufgebaut werden. Hierfür ist beabsichtigt, das Bildungssystem praxisorientiert zu gestalten und die Kooperation zwischen dem Bildungssystem, der Grundlagenforschung und der angewandten Wissenschaft zu intensivieren. Der Strategieentwurf sieht ein lebenslanges Fördern von kreativen, erfinderischen und unternehmerischen Eigenschaften des Menschen vor. Die Strategieautoren planen weiterhin, die Bildungstechnologien zu digitalisieren und das Bildungssystem selbst in die internationalen Bildungsnetzwerke zu integrieren.

Weitere Vorschläge des Entwurfs zur Intensivierung der wissenschaftlichen und innovativen Tätigkeit betreffen die Optimierung der rechtlichen Regelung und der staatlichen Steuerung dieses Bereichs mit dem Ziel, die Verbindung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft auszubauen. Bereits 2018 soll mit diesem Ansatz die Wissenschaftsintensität des Bruttoinlandsprodukts auf 0,66 Prozent, 2020 auf 1,5 Prozent, 2030 auf 2,5 Prozent, und 2040 auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden.

Zu erwartende Ergebnisse

Für eine erste Etappe (2018 – 2020) schlug der Wissenschaftlerkongress einen Aktionsplan (Road Map) zur Modernisierung der traditionellen Wirtschaftszweige auf Basis von High-Tech-Entwicklungen vor. In diesem Zeitraum wollen die Wissenschaftler wissenschaftliche und technische Forschungen und Arbeiten in prioritären Bereichen planen und durch den Staat bewilligt bekommen. Hierfür seien eine rechtliche Basis sowie neue Bildungsstandards erforderlich.

In der zweiten Etappe (2021 – 2030) soll eine wirtschaftliche und organisatorische Plattform für eine ausgeglichene Wirtschaft entstehen. Die Wirtschaft soll strukturell und technisch modernisiert werden, dabei soll – dieser Vorschlag ist für Belarus außerordentlich bedeutsam – die systematische staatliche Unterstützung der nicht rentablen Zweige und Unternehmen aufgegeben werden. Ebenso sollen die Voraussetzungen für die Entwicklung der High-Tech-Unternehmen und für die Sensibilisierung der Wirtschaft für die Innovationen geschaffen werden.

In der dritten Etappe (2031 – 2040) sollen die geschaffene materielle Basis und das hohe Niveau des menschlichen Kapitals den Ausbau der Kompetenzen in ausgewählten Segmenten der intellektuellen Wirtschaft und einen Durchbruch zu weltführenden Positionen in diesen Segmenten ermöglichen.

Im Ergebnis dieser Maßnahmen hoffen die Wissenschaftler bis 2040 einen Anteil der High-Tech-Sektoren – z.Z. gehört dazu Nano-, IT-, Bio-, Weltraum-Industrie – an der wirtschaftlichen Struktur von zehn Prozent, einen Anteil der innovativen Produkte der Industrieunternehmen an der gesamten industriellen Produktion von 25 Prozent (2016 – 16,3 Prozent) und einen Anteil der Forschung und Entwicklung mit Durchbruchscharakter an den gesamten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten von 30 Prozent zu erreichen.

Wertung

Sollte diese Strategie tatsächlich die schlussendliche Zustimmung der Regierung erhalten, dann kann durchaus eine Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit und Nachhaltigkeit der belarussischen Wirtschaft erwartet werden. Ebenso kann sich die Attraktivität der Investitionen in die Innovationen und Infrastruktur steigern. Zu beachten ist dabei, dass die Entwickler der Strategie vom Aufbau einer „neoindustriellen“ Gesellschaft reden, obwohl die Ansätze der Strategie im Grunde genommen auf den Aufbau einer „postindustriellen“, d.h. innovativen Gesellschaft und Wirtschaft abzielen, die auf entwickelten menschlichen Ressourcen basieren. Das Wortspiel könnte in diesem Fall ein Zugeständnis gegenüber den politischen Führungskräften sein, die bestehende Strukturen nicht oder nicht zu schnell aufbrechen wollen.

Generell wird abzuwarten sein, inwieweit der durchaus innovative und durchdachte Vorschlag der Wissenschaftler tatsächlich auch von der Regierung angenommen und umgesetzt wird. Es hatte sich in den vergangenen Jahren wiederholt gezeigt, dass die politische Führung des Landes eher strukturkonservativ agiert und wirkliche Änderungen – vor allem am für diese Modernisierung nötigen Bildungssystem, am Wissenschafts- und Forschungsbereich, an der Reform traditioneller Industriezweige, an der dafür nötigen Privatisierung und einer größeren Freiheit für die Wirtschaft sowie an der Herstellung einer hohen Rechtssicherheit für Investoren – scheut.

Jüngste Verbesserungen für Kleinunternehmer und in der Digitalbranche deuten aktuell zwar auf große Reformbereitschaft hin. Der Erfolg der vorgeschlagenen Strategie wird aber maßgeblich davon abhängen, inwieweit diese konsequent umgesetzt wird. Dringend und massiv sind vor allem die Modernisierungserfordernisse im Bildungssystem. Eine höhere Bezahlung und Auslese der Lehrkräfte, kompetenzorientierte Curricula und ein moderner Fächerkanon sind zunächst leichte und erfolgversprechende, aber doch grundlegende Handlungsfelder.

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