Einleitung
Eine glasklare Niederlage bei einer Nachwahl des Verwaltungschefs im Stadtteil Gangseo der Hauptstadt Seoul ließ Anfang Oktober die Alarmglocken bei der People Power Party (PPP) läuten: die Wahl galt aufgrund einer besonderen Verwicklung des Präsidenten in die Kandidatenwahl der PPP als Abstimmung über die Regierung und bedeutende Prognose für die kommende Parlamentswahl.[i] Dort will die PPP der Opposition die Mehrheit abringen, um die Pläne ihres Präsidenten auch mit Gesetzen unterstützen zu können.
Noch im Oktober rief die PPP als Reaktion auf die Wahlniederlage in Gangseo ein Innovation Committee ins Leben und deutete den Willen für einen tiefgreifenden Neustart an. Der Ausschuss legte in seinen Vorschlägen großen Wert auf die Interessen der jungen Bevölkerung und den Nachwuchs in der Partei und rief altgediente Abgeordnete explizit dazu auf, ihre Kandidatur einer neuen Generation zu überlassen. Doch am 7. Dezember, zwei Wochen vor Ende seines Mandats, verkündete der Leiter des Ausschusses frühzeitig dessen Auflösung ohne konkrete Ergebnisse. Weniger als eine Woche später legte der Parteivorsitzende Kim Gi Hyeon überraschend sein Amt nieder. Er hatte die Position erst im Mai übernommen, um die Partei geeint in die Wahl zu führen.[ii]
Verwirrung und Durcheinander auf konservativer Seite sind unübersehbar. Hintergrund der Aufregung ist auch eine anhaltende Unzufriedenheit der Wählerschaft mit der Regierung. Der Vorwurf: Diese bemühe sich, teils erfolglos, zu viel um internationale Vernetzung statt um die eigene Bevölkerung. In der konkreten Kritik stehen unter anderem die gescheiterte Bewerbung um die EXPO 2030 und ein Debakel bei der Ausrichtung eines globalen Pfadfindertreffens. Beides gilt als symptomatisch für den Fokus der Yoon-Administration auf Diplomatie und Außenpolitik. Obwohl die außenpolitischen Initiativen Yoons ihm im Westen und der Region viel Beifall eingebracht haben, wird der Wahlkampf auf innenpolitischen Themen konzentrieren. Hier performt die jetzige Regierung bis dato in den Augen der Wählerschaft schwächer. [iii]
Zudem nutzt die Opposition wiederholt ihre Parlamentsmehrheit zur Durchsetzung von Gesetzesentwürfen, die zwar vom Präsidenten mit Zurücksendungen beantwortet werden, aber gleichzeitig die Schwachpunkte dieser Präsidentschaft reflektieren.Sie offenbaren, auf welch schlechtem Fuß PPP und Minju und damit Regierung und Parlament miteinander stehen.
Innovation gescheitert?
Für den Vorsitz ihres Innovation Committee traf die PPP eine durchaus bemerkenswerte Wahl: Dr. Ihn Yohan, auch unter dem Namen John A. Linton bekannt, wuchs als Sohn einer US-amerikanischen Missionarsfamilie auf, die seit drei Generationen in Korea ansässig ist. Er erhielt 2012 als erster Erwachsener mit ausländischer Nationalität die koreanische Staatsbürgerschaft und ist seit mehr als einem Jahrzehnt in der koreanischen Politik auf Seiten der Konservativen aktiv. Seine Benennung hatte zweifellos Signalwirkung.[iv]
Besetzt mit sieben Frauen und sechs jungen Männern versuchte der Ausschuss ein neues Image für die PPP zu schaffen. Erklärtes Ziel war es, eine kritische Stimme an die Partei zu richten und ihr zu einem neuen Start zu verhelfen. Dazu hatte der Ausschuss ein Mandat zu umfassenden Umstrukturierungsvorschlägen erhalten. Zudem kündigte Ihn Yohan bereits zum Amtsantritt große Innovationsschritte an. Nur so sei die derzeitige Situation der PPP nach der heftigen politischen Niederlage bis zur kommenden Wahl zu überwinden.
Von sechs angekündigten Vorschlägen wurde am Ende jedoch nur der erste verabschiedet. Dieser betraf die Amnestie von parteiinternen Disziplinarstrafen gegen Hong Jun Pyo, Bürgermeister der Stadt Daegu, und Ex-Parteichef Lee Jun Seok wegen Fehlverhaltens. Weitere Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der Bevorzugung altgedienter Abgeordneter und Mitglieder verliefen durch rigorosen Widerspruch der Parteispitze im Sand: Der Aufruf, die Kandidatur um eine Wiederwahl nach mehr als drei Legislaturen aufzugeben, betraf 31 von 111 PPP-Abgeordneten. Die Arbeit des Ausschusses endete nach nur 42 Tagen ohne bedeutenden Erfolg. Die Kritik hieran wird lauter, seine Einrichtung sei von Anfang an nicht ernst gemeint, sondern rein symbolisch gewesen. Auch der von Ihn Yohan geäußerte Wunsch, ihn zum Vorsitz des Nominierungsausschusses der PPP zu ernennen, um eine innerparteiliche Innovation voranzubringen, wurde unmittelbar von Parteichef Kim Gi Hyeon abgelehnt. Die übrigen Reformvorschläge wurden zwar noch zur Verabschiedung innerhalb der Partei eingereicht, ihre Annahme wäre aber überraschend.
Späte Opfer
Am 12. Dezember, wenige Tag nach Auflösung des Innovation Committee, verzichtete allerdings der als Unterstützer des Präsidenten bekannte, dreifach gewählte Abgeordnete Chang Je-Won aus der konservativen Hochburg Busan auf eine erneute Kandidatur. Als Motiv nannte er seine Bereitschaft, für den Erfolg der Regierung sowie einen Wahlsieg der Partei ein Opfer zu bringen und ein Zeichen der nötigen Erneuerung zu setzen. Obwohl sein Rücktritt augenscheinlich den Forderungen des Innovationsausschusses entspricht, wird er wegen des Timings als Geste im Sinne des Präsidenten verstanden.
Jedenfalls sorgte die Entscheidung offenbar für Druck auf andere Führungsfiguren.. Hatte es bis vor kurzem eine Mehrheit in der Partei vorgezogen, an ihrem Parteichef festzuhalten und die Wahl unter seiner Leitung zu bestreiten, verkündete Kim Gi Hyeon am 13. Dezember seinen Rückzug. Die PPP steht damit vor Beginn des parlamentarischen Wahlkampfes wieder vor der Aufgabe, ihre Führung neu aufzustellen: Mögliche Szenarien reichen von einer Vertretung durch den Fraktionschef bis zur Aufstellung einer vorübergehenden Notkommission.
Kabinettsumbildung zum Wahlkampf
Unabhängig von der chaotischen Lage in der Partei muss die Parteispitze Vorbereitungen für die Wahlen treffen. Dabei gilt unter anderem zu beachten, dass Kabinettsmitglieder, um bei den Parlamentswahlen antreten zu können, ihr Regierungsamt spätestens zum 11. Januar 2024 aufgeben müssen. Präsident Yoon wechselte vor diesem Hintergrund am 4. Dezember sechs Minister aus.[v] Es ist zu vermuten, dass die Abberufung auf eigenen Wunsch erfolgt ist und nicht zwingend einer Kandidatur-Aufforderung des Präsidenten gleichkommt. Zur Nachbesetzung folgen Auswahlverfahren und nicht bindende Abstimmungen im Parlament. Es wird erwartet, dass weitere Kabinettsmitglieder ihren Posten niederlegen, darunter Justizminister Han Dong-hoon und Außenminister Park Jin.
Schlüsselfigur Lee Jun Seok?
Weitere Bewegungen innerhalb der PPP sind zu beobachten. Aufmerksamkeit erfährt etwa der ehemalige Parteichef und Hoffnungsträger Lee Jun Seok, der die Partei 2022 in die erfolgreichen Präsidentschafts-[vi] und Regionalwahlen[vii] geführt hatte. Er war aber dann wegen zunehmender Konkurrenz um Einfluss auf Parteiangelegenheit in Ungnade gefallen. Noch ist Lee Jun Seok, nach vorübergehender Suspendierung im letzten Jahr, Mitglied der PPP. Ihm zugeschriebene Überlegungen eine neue Partei zu gründen, kursieren allerdings täglich in den Medien. Grund dafür sei die fehlende Innovation in der PPP, die vor allem bei jungen Konservativen zu Resignation führe. Verhandlungen zur Zusammenarbeit mit anderen politischen Figuren sind noch in der Entwicklungsphase – sogar die Option einer Zusammenkunft mit Lee Nak-yon, Premierminister unter dem progressiven Präsidenten Moon Jae-in und ehemaliger Vorsitzender der Minju, liegt auf dem Tisch. Inwiefern sich konservative und progressive Vertreter unter dem Schirm einer neuen Partei wirklich zusammenfinden können, ist allerdings anzuzweifeln. Vor allem die Frage, welche politischen Werte diese Partei vertreten würde, bleibt bislang bemerkenswert unerwähnt.
Ob sich die Idee einer Parteineugründung überhaupt bewahrheitet, ist abzuwarten. Lee Jun Seok selbst forderte bis zum 27. Dezember bedeutende Veränderungen innerhalb der PPP, bevor er seinen Worten Taten folgen lassen würde. Kim Gi Hyeons Rücktritt könnte ausreichen, um ihn von einem Verbleib in der PPP zu überzeugen. Für die Partei ist Lee Jun Seok wohl für die anstehende Parlamentswahl wieder zu einem wichtigen Faktor geworden.
Spaltung der Opposition
Auch in der oppositionellen Minju-Partei bestehen noch immer Konflikte. Nach dem Sieg in Gangseo und der gerichtlichen Ablehnung eines Haftbefehls gegen Parteichef Lee Jae-myung schien die Partei wieder zusammenzuwachsen. Doch das Risiko eines nächsten Korruptionsskandals ist allgegenwärtig und Risse bleiben.
Parteichef Lee Jae-myung bleibt als Risiko und als naheliegende Führungsfigur im Mittelpunkt. Sein Ziel dürfte die erneute Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2027 bleiben. Dafür wird er allerdings zunächst bei der Parlamentswahl antreten müssen, um seine Stellung in Partei und Fraktion zu halten und diese hinter ihm zu vereinen. Der Parteiaustritt des altgedienten Abgeordneten Lee Sang Min deutet die tiefliegenden Spaltungen an. Zugrunde lag ein Konflikt mit dem Parteivorsitzenden
Derartig offene Kritik bringt bekannte Rivalen zurück ins Spiel. Dazu gehört der frühere Premierminister Lee Nak-yon, der zuletzt vor zwei Jahren im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur gegen Lee Jae-myung unterlag. Derzeit übt er scharfe Kritik am Parteichef und traf sich bereits mit dem ausgetretenen Lee Sang Min. Sollte sich die Partei weiter zerstreiten, wäre sogar eine Zusammenarbeit dieser beiden mit Lee Jun Seok denkbar, dem jungen Ex-Vorsitzenden der PPP. Noch scheint aber wahrscheinlich, dass es bei einigen Austritten und damit zumindest das Fortbestehen der Minju ungefährdet bleibt.
Fazit
Im Zentrum des Parlamentswahlkampfes werden die rund 30% unentschiedenen Wähler stehen. [viii] Wie diese gewonnen werden können, ist noch unklar. Zentrale Themen werden sich erst in den kommenden zwei Monaten abzeichnen. Schon jetzt ist deutlich, dass sowohl die PPP als auch die Minju weiter an gewohnter interner Unruhe leiden.
Trotz der wiederkehrenden Bedeutung des jungen Lee Jun Seok in der PPP bleibt dessen Erfolg schwer vorherzusagen und wäre allein auch noch kein Zeichen eines echten Generationenwechsels oder tiefgreifender Veränderungen bei den Konservativen. Im Hinblick darauf stimmen die Erfahrungen des Innovation Committee eher skeptisch. Die derzeitige Unruhe im konservativen Lager bedeutet allerdings nicht zwingend einen Vorteil für die Minju. Auch unter den Progressiven bestimmen interne Kämpfe, Mangel an Reformen und altbekannte Hauptfiguren das Bild.
Das Gegeneinander von Regierung und Parlament der letzten Jahre behindert Gesetzgebung und notwendige Reformprozesse. Die Normalisierung der Parteizusammenarbeit und eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierung sind Aufgaben für beide Lager. Mal wieder genießen aber die Nominierung und Vorbereitung auf die nächsten Wahlen höchste Priorität. In beiden Parteien müsste aber auch hierfür der Zusammenhalt in den eigenen Reihen gestärkt werden: Gespalten kann man keine Wahlen gewinnen.
[i] Yonhap News Agency, https://en.yna.co.kr/view/AEN20231006002400315
[ii] Konrad-Adenauer-Stiftung, https://www.kas.de/de/web/korea/laenderberichte/detail/-/content/konvent-der-koreanischen-konservativen
[iii] Yonhap News Agency, https://m.yna.co.kr/view/AKR20231208059700001
[iv] Wall Street Journal, https://www.wsj.com/world/asia/in-one-of-the-least-diverse-nations-an-american-outsider-shakes-up-politics-089192dd
[v] Yonhap News Agency, https://www.yna.co.kr/view/AKR20231204129100001
[vi] Konrad-Adenauer-Stiftung, https://www.kas.de/de/web/korea/laenderberichte/detail/-/content/praesidentschaftswahl-suedkorea-knappes-rennen-lange-nacht
[vii] Konrad-Adenauer-Stiftung, https://www.kas.de/de/web/korea/laenderberichte/detail/-/content/konservative-staerke-im-geteilten-land
[viii] Yonhap News Agency, https://m.yna.co.kr/view/AKR20231208059700001