Die Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts im abgelaufenen Jahr hatte gleich auf mehreren politischen und gesellschaftlichen Feldern eine solche Tragweite, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) trotz und gerade auch wegen Corona nicht auf das „Karlsruher Gerichtsjahr“ verzichten wollte, so dass die Tagung erstmalig im Onlineformat stattfand. In Zeiten, in denen demokratische Werte erodierten und rechtsstaatliche Systeme in die Defensive gerieten, sei die Auseinandersetzung mit verfassungsrechtlichen Fragen unverzichtbar, sagte der KAS-Vorsitzende Prof. Dr. Norbert Lammert mit Hinweis darauf, dass „nicht die Demokratie den Rechtsstaat sichert, sondern der Rechtsstaat die Demokratie“.
Weit über die deutschen Grenzen hinaus hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der EZB Wellen geschlagen. Schon die Begriffswahl in dem Urteil führte zu stark divergierenden Wahrnehmungen im Ausland. Der Präsident des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Prof. Dr. Dr. Christoph Grabenwarter und der Berliner Rechtsanwalt Dr. Ulrich Karpenstein verwiesen auf die rhetorische Wucht des ultra-vires–Prinzips, welches das Bundesverfassungsgericht für einschlägig gehalten hatte. Der Europarechtler Prof. Dr. Sven Simon von der Universität Marburg, der Mitglied des Europäischen Parlaments ist, verwies in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen europäischen Rechtskulturen. Das EZB-Urteil sei auch ein Beispiel für die Gefahr missbräuchlicher Urteilsinterpretation durch einzelne EU-Mitgliedstaaten. Daran sollte sich die künftige Karlsruher Rechtsprechung jedoch nicht ausrichten, so Simon. Zu dem Vorwurf, dass das Urteil den EuGH schwäche, bemerkte Gerichtspräsident Grabenwarter, dass Karlsruhe nicht weniger sondern mehr Kontrolle durch den EuGH gefordert habe. Die Entscheidung sollte als Ausgangspunkt für einen intensiveren und konstruktiveren Dialog zwischen den europäischen Verfassungsgerichten gesehen werden.
Mit dem sogenannten BND-Urteil, in dem wesentliche Regelungen zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung für verfassungswidrig erklärt wurden, setzte das Karlsruher Gericht 2020 auch in der Sicherheitsrechtsprechung neue Maßstäbe. Der Staatsrechtler Prof. Dr. Jan Henrik Klement von der Universität Mannheim sprach von einem „glänzend geschriebenen und begründeten, bis in die letzten Winkel auch des einfachrechtlichen Stoffes durchdachten Urteil“. Die wegweisenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur extraterritorialen Geltung der Grundrechte wurden von den Podiumsteilnehmern indes kontrovers beurteilt. Die Staatsrechtlerin Prof. Dr. Nora Markard von der Universität Münster lobte die „völkerrechtsfreundliche“ Natur der Karlsruher Vorgaben. Der frühere BND-Präsident Dr. August Hanning kritisierte hingegen die einschränkende Wirkung des Urteils auf die Arbeit des Nachrichtendienstes und damit auf den Schutz deutscher Sicherheitsinteressen. Das Urteil beeinträchtige, so Hanning, die Aufklärung im Rahmen der Terrorbekämpfung und führe zu einer erhöhten Abhängigkeit von ausländischen Diensten. Das Gericht habe seine Rolle als Kontrolleur der Politik überschritten. Markard widersprach, und Klement bemerkte, mit dem BND-Urteil habe Karlsruhe „die Verrechtlichung der Spionage auf die Spitze getrieben.
Überraschte und zum Teil geschockte Reaktionen waren im vergangenen Jahr auf das Karlsruher Urteil zum assistierten Suizid gefolgt. Der Zweite Senat billigte zwar die Intention des Gesetzgebers, einer Normalisierung des assistierten Suizids vorzubeugen, gleichwohl erklärte er das strafrechtlich normierte Verbot der geschäftsmäßigen Suizidförderung (§ 217 StGB) für nichtig. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Hermann Gröhe, der zugleich Beauftragter seiner Fraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften ist, verwies auf die komplexen ethischen, medizinischen und juristischen Probleme, die sich bei der Regelung des assistierten Suizids stellten. Es gebe noch zahlreiche offene Fragen, wie ein überzeugendes Konzept zum Autonomieschutz aussehen könne. Der Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Stephan Rixen von der Universität Bayreuth kritisierte, der Zweite Senat habe die „freiheitsreduzierende Dynamik suizidaler Todeswünsche“ unterschätzt. Die Menschenwürde sei auf eine Selbstbestimmung verkürzt worden, „die immer stark ist“; Versehrtheit, Schwäche und Gebrechlichkeit seien nicht angemessen berücksichtigt worden. Das Urteil erschwere eine Beratung, die dazu ermutige, mit persönlichen Grenzsituationen nicht-suizidal umzugehen. Die Strafrechtlerin Prof. Dr. Tatjana Hörnle bewerte das Urteil dagegen grundsätzlich positiv. Zu begrüßen sei die Klarstellung, dass Moralvorstellungen nicht für die Begründung einer Strafnorm ausreichten. Das Urteil lege eine umfassende Revision der den Suizid und die Sterbehilfe betreffenden strafrechtlichen Vorschriften nahe. Erforderlich sei ein einheitliches Schutzkonzept, in dessen Rahmen die individuelle Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden, sorgfältig zu überprüfen sei, um Fremdbestimmung auszuschließen.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich das Verfassungsgericht auch im kommenden Jahr zu zentralen Politikthemen äußern wird. Der Staatsrechtler Prof. Dr. Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität zu Berlin erwähnte in seinem Überblick und Ausblick unter anderem die zahlreichen Corona-Verfahren, die beim Bundesverfassungsgericht anhängig sind. Angesichts der Umwälzungen und Unwägbarkeiten gelte jedoch: „Nichts ist so ungewiss, wie die Zukunft, auch die Zukunft der Judikatur aus dem Schlossbezirk in Karlsruhe.“
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