von Andre Kagelmann (Köln)
Die Konrad-Adenauer-Stiftung beweist mit ihrem Konferenztriptychon zur Weimarer Republik einen langen Atem: Schon 2018 perspektivierte man die erste deutsche Demokratie als „Labor der Moderne und Krisenszenario“, in der Folgetagung 2019 fokussierte man unter der Überschrift „Demokratie 1.0“ das Weimarer Experiment als Medienrepublik und diskutierte die Folgen dieser ‚Miniaturepoche‘ für die europäische Kultur. 2022 schließlich nahm man 1922 als exemplarisches Kulturjahr in den Blick, in dem große europäische Autorinnen und Autoren sozusagen weltliterarisch Epoche machten, während zugleich die auch ästhetisch produktivste und einflussreichste Phase des deutschen Films bereits begonnen hatte. Und man tat dies einerseits im Sinne des von Ruth Klüger in weiter leben. Eine Jugend (1992) geprägten Begriffes der „Zeitschaft“, der vermitteln soll, „was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher“, und man tat dies andererseits aus unserer Gegenwart heraus und versuchte also gewissermaßen einen Spagat zwischen einer geschichtstheologischen Perspektive ‚unmittelbar zu Gott‘ (von Ranke) und einer kritischen Kulturgeschichtsschreibung (Nietzsche).
Eröffnet wurde die Konferenz, an der europäische Germanistinnen und Germanisten aus 14 Ländern teilnahmen, nach der u.a. an Klüger orientierten Einführung von Michael Braun (Köln) durch einen Vortrag von Oliver Jahraus (München) unter der Überschrift „1922: Kampf und Untergang, Ruf und Aufbruch“. Jahraus konturierte anhand einer ‚Leseliste 1922‘ u.a. von Heidegger über Ernst Jünger bis Schmitt eine Prädominanz des Politischen in den einschlägigen Werken maßgeblicher Autorinnen und Autoren des Zeitraums. Zugleich stellte sein Vortrag ‚proleptisch‘ eine perspektivische Ergänzung zu der den zweiten Konferenztag beschließenden, Poesie und Politik auffächernden ‚Geschichtenlesung‘ von Norbert Hummelt (Berlin) aus 1922 – Wunderjahr der Worte (2022) dar. Auch bildeten Jahraus‘ Ausführungen eine Folie, vor der Rüdiger Görner (London) unter dem Titel „Der Fülle ein Horn. E.T.A. Hoffmann, Rilke, Shelley, Woolf“ dem ‚Zeitatem‘ großer Autorinnen und Autoren und ihrer Werke nachspürte. In Anlehnung an Karl Jaspers literaturgeschichtliche Konzeption des Vermessens von Zeithorizonten und Klügers Idee der Zeitschaften konturierte er sowohl die Auratizität des Temporären als auch das Problem des Verblassens von Anspielungshorizonten selbst für gelehrte Leserinnen und Leser. In diesem Kontext unterstrich er die Gegenwärtigkeit des Mystischen in den Werken von u.a. Rilke und Eliot. Als Beobachterposition für seine Analyse der ‚falschgoldenen 1920er Jahre‘ nutzte Görner das in E.T.A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster“ (1822) konturierte „serapiontische Prinzip“ und entwarf seinen Vortrag in Form eines panoramatischen Ortes, wobei er seinen Blick, mit einem Wort Rilkes aus der siebenten Dunesier Elegie, auch nach Innen richtete: „Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser / Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer / schwindet das Außen.“
Christiane Schönfeld (Limerick) und Stefan Neuhaus (Koblenz) widmeten sich, wie auch Thomas Scholz (Frankfurt) in seiner Einführung zu Gordian Mauggs Fritz Lang-Film, in ihren beiden aufeinander aufbauenden Vorträgen der ‚siebten Kunst‘ und damit der ‚Kinoweltmacht Babelsberg‘. Während Schönfeld das Geschäft mit dem Eskapismus fokussierte – Hugo von Hofmannsthal sah das Kino als „Ersatz für die Träume“ – und nach Kitsch, Klamauk und Krise in den Kinos des Jahres 1922 fahndete, ‚warnte‘ Neuhaus auch im Anschluss an Siegfried Kracauer sozusagen noch einmal retroperspektivisch vor den Wiedergängern auf den Leinwänden der Lichtspielhäuser. Im Anschluss an dessen Schlagwort vom „Aufmarsch der Tyrannen“ (Von Caligari zu Hitler) fokussierte Neuhaus insbesondere die (pseudo-)akademischen Meisterverbrecher Dr. Caligari und Dr. Mabuse und stellte die Frage nach der kinematographischen Inszenierung des Verhältnisses von Individuum und Masse. Ewa Kocziszky (Veszprém) verschob die mediale Akzentuierung der Konferenz in ihrem Vortrag dann von der Leinwand auf die Bühne und perspektivierte unter dem Titel „Gender Trouble in der Oper um 1922“ den misogynen Serientäter Blaubart am Beispiel einer Aufführung von Béla Bártoks und Béla Balázs Oper Herzog Blaubarts Burg (1911/1918).
Die beiden den Konferenztag beschließenden Vorträge kehrten zum engeren Feld der Literatur zurück und setzten sich mit zwei der bedeutendsten Autorenpersönlichkeiten der klassischen Moderne bzw. mit ihren so paradigmatischen wie gegensätzlichen Werken auseinander. Zunächst erörterte Jürgen Ritte (Paris) unter dem Titel „Tod für immer? Wer kann es sagen ...“ das Weiterleben in der Schrift am Beispiel von Marcel Prousts Die Suche nach der verlorenen Zeit. Einen Aspekt seiner Ausführungen, die auch Fragen der Editionsgeschichte berührten, richtete er auf das System sich wechselseitiger erzeugender und überlagernder Erinnerungsräume in der Recherche, die, nicht nur der Auffassung Prousts nach, einen ‚Kathedralencharakter‘ erzeugen, dessen kunstvolle Statik auch durch das Spannungsverhältnis der Unabschließbarkeit des Romanprojekts selbst und dessen teleologischer Dimension bestimmt sei. Zugleich zeigte der Vortrag einen gar nicht so weit entfernt scheinenden Pfad zum unabschließbaren Warten Godots auf und schloss dabei über den Proust-Essayisten Samuel Beckett mit einem short cut an den nachfolgenden Dialog über James Joyces hyperkomplexen Roman Ulysses an. Das die konventionelle Konferenzstruktur erweiternde Format des gelehrt-kurzweiligen Dialogs hatten Jürgen Barkhoff (Dublin) und Dirk Vanderbeke (Jena) gewählt, um u.a. über die siebenjährige Entstehungsgeschichte dieses kontroversen, zugleich irischen und europäischen Romans, der vom „Weltalltag der Epoche“ (Hermann Broch) erzählt, zu informieren. Barkhoff und Vanderbeke akzentuierten insbesondere die Stilvielfalt des enzyklopädischen Romans, der einen enormen Innovationsdruck auf das literarische Feld ausübte, indem er das Konzept des stream of consiousness radikalisierte und statt des ‚Was‘ des Denkens dessen ‚Wie‘ als Reaktion auf die ‚Oberflächenkompetenz‘ von Fotografie und Film fokussierte. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten die Überlegungen zur uferlosen Intertextualität des Romans, der neben der Odyssee, den Werken Dantes, Goethes und natürlich Shakespeares zugleich mit der Populärkultur seiner Zeit verwoben war. Am Ende des Gesprächs stand eine Lektüreempfehlung, wie man sie nicht nur in germanistischen und anglistischen Seminaren nur zu selten findet: Man solle den Roman beim ersten Lesen nicht unbedingt zu verstehen suchen …
Gewissermaßen kontrapunktisch war es hingegen Paul Michael Lützeler (St. Louis) in seiner die Konferenz rahmenden belated keynote um historisches Verstehen zu tun, die sich Coudenhove-Kalergis Idee von einem Pan-Europa als einer demokratischen und Frieden stiftenden Weltmacht widmete. Diese Idee, die u.a. auch auf Vorüberlegungen von Victor Hugo und Berta von Suttner aufbaute, arbeitete Coudenhove-Kalergi zu einer Art von Strukturplan einer europäischen Unifikation aus. Den Vereinigungsprozess skizzierte Coudenhove-Kalergi ausgehend von einer paneuropäischen Konferenz, in deren Folge ein Schieds- und Garantievertrag zwischen den kontinentaleuropäischen Staaten ins Werk gesetzt werden sollte, um in einem weiteren Integrationsschritt eine Europäischen Zollunion ins Werk zu setzen. In einem letzten und sehr weitreichenden Schritt sollten sich die Vereinigten Staaten von Europa als kontinentaler Bundesstaat konstituieren. Diesem also durchaus utopischen Konzept eignete angesichts der Verheerungen des Ersten Weltkriegs ein anti-revanchistischer, pazifistischer (allerdings gegenüber kolonialem Unrecht noch blinder) Impetus, wobei der transnationale Unifikationsprozess auf nationalem und europäischem Patriotismus aufbauen sollte. Bemerkenswert sei zudem, so Lützeler, dass Coudenhove-Kalergi den Kern des Projekts in einer Verständigung von Frankreich und Deutschland gesehen habe, und zwar bereits einschließlich einer Montanunion. Somit habe er Kernelemente des Konzepts des großen Europäers Jean Monet bereits um ein Vierteljahrhundert vor diesem antizipiert. Aber bekanntlich brauchen gute Ideen ja einen langen Atem.
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