Demokratie auf dem Rückzug
2023 sank die Mongolei erneut im Ranking des renommierten schwedischen V-Dem-Instituts. Bereits 2022 fiel das Land um beachtliche 16 Plätze auf Platz 77. Letztes Jahr reichte es nur noch für Platz 81.[1] Damit war es laut V-Dem 2023 das einzige Land in Süd- und Zentralasien, das von der „electoral democracy“ in die demokratische „grey zone“ abrutschte.[2]
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch beim Thema Pressefreiheit. Laut den Berichten von Reporter ohne Grenzen hat die Medienfreiheit in der Mongolei in den letzten Jahren gelitten. Es kam zu Einschränkungen und Bedrohungen für Journalisten, insbesondere durch Gesetze zur Kriminalisierung von Verleumdung und andere rechtliche Hürden. Im Ranking von Reporter ohne Grenzen liegt die Mongolei aktuell auf Platz 109 von 180 und hat sich damit gegenüber den Vorjahren verschlechtert.[3]
Die Wahrnehmung von Korruption in der Mongolei bleibt ebenfalls ein ernstes Problem. Im Corruption Perceptions Index von Transparency International für 2023 erhielt die Mongolei eine Punktzahl von 33 von 100 und rangierte auf Platz 121 von 180 Ländern.[4] Dies zeigt, dass sich die wahrgenommene Korruption seit der Machtübernahme durch die mit absoluter Mehrheit regierende Mongolische Volkspartei (MVP) im Jahr 2016 (damals Platz 87 von 176) weiter verschlechtert hat und weiterhin eine Herausforderung für das Land darstellt. Trotz massiver Korruptionsskandale und damit einhergehender Proteste bleiben die Bemühungen der Regierung, Korruption zu bekämpfen und Anti-Korruptionsmaßnahmen umzusetzen, unzureichend.
Zusammengefasst zeigen die Daten, dass die Mongolei in den Bereichen Demokratie, Medienfreiheit und Korruption auch über 30 Jahre nach der demokratischen Wende von 1990 mit immensen Herausforderungen konfrontiert ist. Zwar besteht eine gewisse Stabilität in ihren demokratischen Strukturen, dennoch verhindern die Defizite nicht nur eine erfolgreiche demokratische, sondern auch eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg zwar seit 2016 um beeindruckende 47 Prozent auf 5.300 USD, bleibt jedoch weiterhin sehr niedrig (zum Vergleich: der EU-Durchschnitt beträgt etwa 44.000 USD).[5] Der ausbleibende wirtschaftliche Erfolg und die Tatsache, dass ca. 30 Prozent der Bevölkerung immer noch in Armut leben, stellen die demokratische Einstellung der Bevölkerung auf eine harte Probe.[6]
Problem erkannt, Gefahr gebannt?
Es wäre falsch, der MVP zu unterstellen, diese Entwicklung bewusst oder gezielt voranzutreiben, um eine autoritäres Regime nach Vorbild Chinas oder Russlands einzurichten. Angesichts der weiterhin starken Unterstützung der Demokratie als Regierungsform durch die Bevölkerung und der sehr lebendigen Zivilgesellschaft ist die Regierung um den demokratischen Charakter der Mongolei bemüht.[7] Das Ziel der jüngsten Wahl- und Parteirechtsreformen ist es tatsächlich, Korruption zu bekämpfen, die Effizienz des Parlaments zu steigern und die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger durch eine Diversifizierung des Parlaments zu verbessern. Dazu dienen die Erhöhung der Anzahl der Parlamentssitze, die Einführung eines gemischten Wahlsystems und die Stärkung der Parteieninstitutionalisierung.
Der augenscheinliche Zusammenhang zwischen dem politischen und wirtschaftlichen Erfolg in der Mongolei hat jedoch das Potenzial, die Wirkung der Reformen zu verlangsamen bzw. zu schwächen. Einige Akteure könnten den möglichen politischen Machtverlust als eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Interessen wahrnehmen und sich mit allen Mitteln dagegenstemmen. Die im Vorfeld der Wahl geäußerten Befürchtungen hinsichtlich der Wirkung der Länge des Wahlkampfes, der Größe der Wahlkreise und der Nutzung administrativer Ressourcen durch die Regierungspartei auf die Fairness der Wahl scheinen sich zumindest teilweise zu bewahrheiten.[8]
Die Macht der Gewohnheit?
Bislang vermochten es die Reformen nicht, alle in sie gesteckten Erwartungen zu erfüllen. Der Ende April 2024 erschienene OSZE-Bericht kritisiert die Fairness der Wahlen in der Mongolei und hebt mehrere Bedenken hervor. Dazu gehören die ungleiche Medienberichterstattung zugunsten der regierenden Partei, die eingeschränkte Unabhängigkeit der Wahlkommission und die mangelnde Transparenz bei der Finanzierung von Wahlkampagnen. Auch wird die unzureichende Umsetzung von Maßnahmen zur Verhinderung von Wahlbetrug und der eingeschränkte Zugang von Wahlbeobachtern zu einigen Wahlprozessen bemängelt. Diese Faktoren könnten laut der OSZE die Integrität und Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses beeinträchtigen.[9]
Hinzu kommen weitere Aspekte, die als ein Versuch gewertet werden könnten, der regierenden MVP einen Vorteil bei der Wahl zu verschaffen. Die Zusammenlegung mehrerer Provinzen zu Wahlkreisen und der kurze Wahlkampf von nur 16 Tagen führen zu einer direkten Bevorteilung der beiden großen Parteien, MVP und Demokratische Partei (DP). Allein der westliche Wahlkreis, der aus vier Provinzen besteht, ist mit 369.600 km² größer als Deutschland (357.588 km²). Seine Nord- und Südhälfte sind mit keiner einzigen befestigten Straße miteinander verbunden. Kleine Parteien und unabhängige Kandidaten, die über keine festen Strukturen in den abgelegenen Orten verfügen, werden dadurch klar benachteiligt.
Die Tatsache, dass 2024 zum Jahr der regionalen Entwicklung durch die Regierung erklärt wurde, erlaubt es Regierungsangehörigen im Land unterwegs zu sein und indirekt für die MVP zu werben. Darüber hinaus können überall im Land entsprechenden Programmmittel von insgesamt 735 Millionen USD verteilt werden.[10] Das Wahlprogramm der MVP für 2024 trägt den Titel „Neue Wiederbelebungspolitik – Regionale Entwicklungsreform“.[11]
Hinzu kommen weitere Geldleistungen oder deren Erhöhungen, die im Wahljahr zumindest Fragen aufwerfen: Anhebung der Gehälter von Staatsangestellten, Renten und sonstigen staatlichen Transferzahlungen; staatliche Entschädigungen für im Winter verendete Tiere an die Nomaden; Ausschüttung von Dividenden durch staatliche Mininggesellschaften für 2022 und 2023. Die Verdopplung des Kohleexports nach China von 2022 auf 2023 dürfte die Finanzierung der zahlreichen Zahlungen erleichtern.[12]
Die größte mongolische Oppositionspartei, die Demokratische Partei (DP), konnte sich bislang nicht als eine glaubwürdige Alternative zur MVP präsentieren. Nachdem die Verabschiedung des Wahlprogramms der Partei weitgehend geräuschlos erfolgte, kam es bei der Verteilung der Kandidatenplätze zu lautstarken, teilweise über die Medien ausgetragenen Auseinandersetzungen. Manche Kommentatoren sahen die frühen „Nebelschwaden“[1] wieder aufkommen und vermuteten zwischenparteiliche Allianzen zwischen Teilen der MVP und der DP zur Bekämpfung innerparteilicher Gegner.[13] Was auch immer hinter dem parteiinternen Konflikt steckt, es trägt nicht zum Bild der wiedervereinigten Partei bei, das die DP aufzubauen versuchte. Gleichwohl muss betont werden, dass es der DP-Führung gelungen ist, die Kandidaten aufzustellen, die nicht das Potenzial haben, der Partei massiv zu schaden.
Die Liste an frag- und denkwürdigen Ereignissen im Vorfeld der Wahl, die ihre Fairness in Zweifel ziehen könnten, ließe sich fortsetzen. Kurzfristige Verhaftungen von führenden Politikern in den Provinzen und deren anschließender Rückzug sowie horrende Summen, die von möglichen Kandidaten bereits im Vorfeld der Nominierung gerüchteweise verlangt wurden, sind nur zwei weitere erwähnenswerte Punkte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Änderung des Systems keine automatische Änderung des Verhaltenes nach sich zieht.
Gut Ding will Weile haben
Bei allen genannten Fragen hinsichtlich der Fairness der kommenden Parlamentswahlen muss betont werden, dass keine oder nur wenige Zweifel an der Wahlfreiheit oder der genauen Auszählung der Stimmen bestehen. Die Zulassung zur Wahl verlief weitgehend ohne Probleme. 23 Parteien, 2 Koalitionen und mehrere Dutzend unabhängige Kandidaten nehmen an der Parlamentswahl teil.
Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass das geänderte Wahlsystem mehr neue Parteien in das Parlament bringen wird. Aufgrund der mongolischen Gesetzeslage ist es schwierig, eine zuverlässige Schätzung abzugeben, wie das kommende Parlament aussehen wird. Das Gesetz verbietet zwar nicht direkt die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen, schützt aber den Wähler vor einer möglichen Beeinflussung durch diese. Die schwammige Formulierung ermöglicht den Justizbehörden eine breite Interpretation, die bereits zur Verhängung von sehr hohen Strafen geführt hat. Einige mongolische Wahlforscher scheinen das Verbot kreativ zu umgehen, indem sie die Parteien und mögliche Wahlergebnisse auf eine alternative Weise darzustellen scheinen, wie im unteren Bild gezeigt.
Nicht nur durch eine Vergrößerung der Sitzzahl und der Anzahl der im Großen Staatskhural vertretenen Parteien wird das mongolische Parlament grundlegend verändert. Insbesondere die MVP nutzt die Parteiliste, um Expertinnen und Experten ins Parlament zu bringen. Die ersten zehn Listenplätze wurden an Ingenieurinnen und Ingenieure, Ärztinnen und Ärzte sowie Lehrerinnen und Lehrer vergeben. Gleichzeitig kandidieren nahezu alle bekannten und aktiven MVP-Politiker, wie Minister, direkt und müssen sich aktiv darum bemühen, gewählt zu werden. Der wahlkampftaktische Charakter dieser Entscheidung lässt sich wohl kaum abstreiten. Es muss jedoch anerkannt werden, dass allein dadurch frischer Wind in das mongolische Parlament kommt.
Für eine Diversifizierung des Parlaments könnte auch eine stärkere Präsenz der bislang mit nur einem Abgeordneten vertretenen HUN-Partei (Mensch-Partei) sorgen. Die Partei änderte mitten in der letzten Legislaturperiode ihre ideologische Ausrichtung von sozialdemokratisch auf „mitte-rechts“ und tritt vor allem als Konkurrenz zur DP auf. Die HUN-Partei schaffte es auch, einige hochangesehene Mitglieder der Zivilgesellschaft prominent auf ihrer Liste zu platzieren. Im Gegensatz zur MVP ließ es sich der HUN-Vorsitzende jedoch nicht nehmen, sich über den ersten Listenplatz abzusichern. Gute Chancen auf den Einzug ins Parlament werden auch der Nationalen Koalition zwischen der Grünen Partei und der Mongolischen Nationalen Demokratischen Partei eingeräumt.[15]
Alle aktuell kursierenden Zahlen deuten auf ein weiterhin von der MVP dominiertes Parlament hin. Es ist nicht davon auszugehen, dass die durchgeführten Reformen die politische Landschaft der Mongolei und die bestehenden Umstände in kurzer Zeit grundlegend ändern. Merkliche Veränderungen sind vermutlich erst mit der Anwendung des neuen Parteiengesetzes ab dem 1. Juli 2024 zu erwarten.[16] Dennoch wird bereits jetzt deutlich, dass alte Strukturen zumindest teilweise aufgebrochen werden können und das mongolische Parlament ab dem kommenden Juli nicht nur eine neue Zusammensetzung, sondern vermutlich auch eine neue Diskussions- und Arbeitskultur aufweisen wird. Die Demokratie ist in der Mongolei trotz aller Probleme weiterhin lebendig.
Was geht es Deutschland und Europa an?
Angesichts der geringen Bevölkerungsgröße, der geografischen und geopolitischen Lage und der für die Bundesrepublik nur geringen wirtschaftlichen Bedeutung wäre die Frage nach dem deutschen und europäischen Interesse an der Wahl in der Mongolei berechtigt. Dafür, sich auch im fernen Deutschland für die Mongolei zu interessieren, sprechen jedoch mehrere Gründe.
Bereits seit 2011 besteht eine strategische Rohstoffpartnerschaft zwischen Deutschland und der Mongolei. Anfang Februar 2024 besuchte Bundespräsident Steinmeier die Mongolei anlässlich des 50. Jubiläums der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern (die diplomatischen Beziehungen zwischen der Mongolei und der DDR begannen sogar schon im Jahr 1950). Dabei wurde die Kooperation von beiden Seiten insgesamt auf eine „strategische Ebene“ gehoben. Allein um des Ansehens Deutschlands willen wäre es wichtig, solche Begrifflichkeiten nicht sorglos zu verwenden. Der Anspruch ist dadurch sehr hoch angesiedelt worden. Jetzt gilt es, diesen zu erfüllen.
Dies kann nicht zuletzt im Rohstoffbereich geschehen, der für Deutschland von großer Bedeutung sein könnte. Diese Zusammenarbeit mit der Mongolei hätte das Potenzial, die Versorgung der deutschen und europäischen Industrie mit wichtigen mineralischen Ressourcen zu sichern. Die Mongolei besitzt erhebliche Vorkommen an Kupfer und seltenen Erden, die in der Hightech-Produktion und bei erneuerbaren Energien unerlässlich sind. Ein stabiles politisches Umfeld, das Investitions- und Rechtssicherheit garantiert, ist entscheidend für die Sicherung dieser Vorkommen.
Nicht zuletzt geht es um die Unterstützung der einzigen funktionierenden Demokratie in einer Region, die von autoritären Regimen in China und Russland dominiert wird. Trotz der vorhandenen Probleme sind ca. 80 Prozent der mongolischen Bevölkerung weiterhin davon überzeugt, dass die Demokratie eine gute oder eher gute Staatsform darstellt.[17] Die Schaffung eines Gegengewichtes zu den autokratischen Tendenzen in der Region trägt zur regionalen Stabilität bei und stärkt die globale Position der Demokratie. Gerade in Zeiten eines aufkeimenden Systemkonfliktes ist die Signalwirkung eines europäischen Beistands nicht zu überschätzen.
Durch die Beobachtung und Unterstützung der Wahlen kann Europa zur Sicherung demokratischer Werte und zur Förderung stabiler politischer Verhältnisse beitragen. Dies ist nicht nur für die bilateralen Beziehungen von Vorteil, sondern auch für die Sicherung strategischer Interessen und die Förderung der Demokratie in einer geopolitisch sensiblen Region.
[1]KAS-Länderbericht: Minimisierung des Faktors Mensch, Zugriff am 28.05.2024: https://www.kas.de/de/web/mongolei/laenderberichte/detail/-/content/minimierung-des-faktors-mensch
[2]Mongolia fell 4 places in the democracy index, Zugriff am 28.05.2024: https://news.mn/en/800590/
[3]DEMOCRACY REPORT 2024: Democracy Winning and Losing at the Ballot, Zugriff am 28.05.2024: https://www.v-dem.net/documents/43/v-dem_dr2024_lowres.pdf
[4]Reporter ohne Grenzen: Mongolei, Zugriff am 28.05.2024: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/mongolei
[5]Transparency International Mongolia, Zugriff am 28.05.2024: https://www.transparency.org/en/countries/mongolia
[6]The World Bank: Mongolia, https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.KD.ZG?locations=MN und Europäische Union: Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in den Mitgliedstaaten in jeweiligen Preisen im Jahr 2023 BIP pro Kopf in Europa 2023, BIP pro Kopf in Europa 2023 | Statista, Zugriff am 28.05.2024.
[7]The World Bank: Mongolia Poverty Update, Zugriff am 28.05.2024: https://www.worldbank.org/en/country/mongolia/publication/mongolia-poverty-update
[8]Sant Maral Foundation: Politbarometer 2023, Zugriff am 28.05.2024: https://www.santmaral.org/_files/ugd/915e91_658ad78e7b8e469d828b49a2c359e494.pdf
[9]Siehe [1]
[10]OSCE: Mongolia: Parliamentary Elections 28 June 2024: ODIHR needs assessment mission report, Zugriff am 28.05.2024: https://www.osce.org/files/f/documents/a/5/567445.pdf
[11]Montsame: 2024 to Be the Year to Support Regional Development, Zugriff am 28.05.2024: https://montsame.mn/en/read/334410
[12]МАН “Шинэ сэргэлтийн бодлого-Бүсчилсэн хөгжлийн реформ” нэртэй мөрийн хөтөлбөрөө ҮАГ-т өгөв, Zugriff am 28.05.2024: http://nam.mn/ks
[13]Asian Delevopment Bank: Economic trends and prospects in developing Asia, Zugriff am 28.05.2024: https://www.adb.org/sites/default/files/publication/27703/subregional.pdf
[14]ubn.mn: С.Баярцогт “Женко”, У.Хүрэлсүхтэй тохирч сонгуулийн дараа хамтарсан засгийн үед УИХ-ын дарга болохоор “зураглаж”, Б.Пүрэвдорж, Х.Тэмүүжин тэргүүтэй АН-ынхан эсэргүүцэж байна, Zugriff am 28.05.2024: https://ubn.mn/p/61822
[15]The Diplomat: Mongolia’s Political Parties Showcase Candidates for the 2024 Parliamentary Election, Zugriff am 29.05.2024: https://thediplomat.com/2024/05/mongolias-political-parties-showcase-candidates-for-the-2024-parliamentary-election/
[16]Siehe [1]
[17]Siehe [8]