Inne publikacje
Louis Begleys Roman aus der vermeintlich besseren Gesellschaft
Der in New York lebende Schriftsteller Louis Begley (Literaturpreisträger der KAS 2000) hat die längste Zeit seines Lebens als Anwalt gearbeitet, bis er 1991/1994 großen Erfolg mit dem Debütroman „Lügen in Zeiten des Krieges“ hatte, einer jüdisch-polnischen Überlebensgeschichte, die autobiographisch grundiert ist. Es folgte eine Reihe eleganter Gesellschaftsromane. Pünktlich zu des Autors 80. Geburtstag am 6. Oktober ist der zehnte erschienen, „Erinnerungen an eine Ehe“. Der Roman erzählt von Heiratshindernissen und Ehrensachen, Moral und Berufserfolg, von dem wunschlosen Unglück einer Dame namens Lucy De Bourgh aus vermeintlich besseren Gesellschaftskreisen, die sich darüber beschwert, auf der falschen Seite des Central Parks zu wohnen, und sich über neureiche Zeitgenossen mokiert, die beim Essen die Krawatte ins Hemd stopfen und die Lammkeule falsch tranchieren. Begley lässt Lucys Erinnerungen durch seinen Erzähler Philip filtern, einen betagten Schriftsteller und feinsinnigen Beobachter der ostamerikanischen Hautevolee. Faszinierend, wie Louis Begley die Schicksale seiner Figuren zusammenführt und so ein erhellendes Sittenpanorama seiner Zeit entwirft. Ein hochklassiger Gesellschaftsroman.
Ernste Scherze für postmoderne Leser: Daniel Kehlmanns „F“
Literatur finde er, sagt Daniel Kehlmann (Literaturpreisträger der KAS 2006), am interessantesten, wenn sie nicht „die Regeln der Syntax“ breche, sondern die der Wirklichkeit. Nach dieser Maxime entstand der Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt“. Auch der neue Roman „F“ ist zugleich Zeitporträt, Gesellschaftskritik, Kunstbetriebssatire, ein heiteres Gedankenspiel und ein ernster Glaubensroman mit radikalen Charakteren. Auf der ersten Handlungsebene geht es um drei Brüder. Wir lernen sie im Eingangskapitel, es ist das Jahr 1984, als Kinder bei der etwas unheimlichen Vorstellung eines Hypnotiseurs kennen. Am 8. August 2008 treten sie in den Romankapiteln auf: Martin, ein übergewichtiger, im Beichtstuhl Schokoriegel naschender Priester, der gerne glauben würde, aber nicht mehr glauben kann; Eric, ein paranoider Anlageberater kurz vor dem Totalruin, der unter Visionen leidet; Iwan, ein mittelmäßiger Maler, der sich mit dem Werk eines anderen einen Namen macht. Alle drei sind wunderbare „Falschmünzer“ (André Gide), die etwas fälschen - Gott, Geld, Kunst - und die vielleicht auch falsch machen in unserer „unmetaphysischen Welt“ (Kehlmann). Fälschung, Finanzblase, Fatum – so könnte man also das einsame „F“ im Romantitel übersetzen. Doch auf einer zweiten Ebene steht auch eine „Familie“ dahinter, die Kehlmann in einer kalendergeschichtlichen Exkursion bis ins tiefe Mittelalter zurückgehen lässt: die Tochter Erics und der Vater namens „Arthur“, der seinerseits ein spätberufener Schriftsteller ist und seine drei Kinder nach jener Hypnose-Episode verlassen hat. Auf einer dritten Ebene schließlich gibt es ein munteres Spiel mit literarischen Verweisen – „F“ wie Fiktion eben. Kehlmanns Roman inszeniert den schwindenden Glauben der Gesellschaft an die Werte, die sie zusammenhält.
Weltbürger mit Augenmaß: Cees Nootebooms Romane
Cees Nooteboom (KAS-Literaturpreisträger 2010), der im August seinen 80. Geburtstag feierte, ist ein Erzähler von fabelhafter Erfindungsgabe. Die Romane und Erzählungen des niederländischen Autors, die zwischen 1955 und 2009, mit einer 17jährigen Pause, entstanden, sind in einem Band der Quarto-Reihe des Suhrkamps Verlags enthalten. Darunter natürlich der Berlinroman „Allerseelen“ und „Die folgende Geschichte“, die nicht enden kann, weil die Poesie mit jedem Ende, also auch dem Tod, etwas anfangen kann. Nooteboom ist ein weltkundiger Erzähler, immer auf dem Posten, um Zeitgeschichte mitzuschreiben, etwa 1989/90 in Berlin. In diesem Band hat man den ganzen Erzähler Nooteboom.
„Kunstwerk als Leben“: Rüdiger Safranskis Goethe-Biographie
Der größte deutsche Dichter war für das 19. Jahrhundert Schiller, fürs 20. Goethe (manche zählen Hölderlin und Kleist hinzu). Für das 21. Jahrhundert könnte es Goethe bleiben. Das legt die trotz über 700 Seiten handliche und elegant geschriebene Goethe-Biographie von Rüdiger Safranski nahe. Goethe hat auf allen Gattungsebenen Entscheidendes geleistet, im Drama, im Roman, in der Lyrik, es gibt ein fast monolithisch in seiner Zeit stehendes naturwissenschaftliches Werk, mit seinen berühmten Zeitgenossen war er, auch wenn er sie, bei konkurrierender Größenordnung, nicht immer mochte, gut vernetzt.
Rüdiger Safranski entdeckt keinen neuen Goethe und taucht auch nicht in philologische Tiefen. Aber er liest die Primärquellen und stellt ein im wahren Sinne kunstvolles Leben vor, das der Autor (so ein Brief aus dem Jahr 1780) als „Pyramide (s)eines Daseins (…) so hoch als möglich in die Luft zu spitzen“ gedachte. Von der genialisch erlebten Jugend in Frankfurt über das Studium in Leipzig und Straßburg, das Rechtsreferendariat in Wetzlar, die Übersiedlung nach Weimar, die italienischen Jahre und die Schweizreisen bis zu den letzten Lebensjahrzehnten in Weimar – wo der „Geheime Rat“ Goethe auch Minister für Militärwesen, Berg- und Wegebau, Direktor der Zeichenakademie und Freund des Herzogs war – hat Goethe sein Leben in rastloser Tätigkeit und mit einem erstaunlichen geistigen Immunsystem gegen die Nötigungen der Zeit gestaltet. „Kunstwerk als Leben“, so lautet die Formel Safranskis für dieses Beispiel gelungener Individualität. Künstlerische Größe muss nicht tragisch sein. Auch wenn sie Schwächen hat und sich Fehler leistet. „Begabte Leute treffen ins Schwarze, auch wenn sie nicht zielen“, resümiert der Biograph.
Es gibt auch andere vorzügliche Goethe-Biographien (wie die von Friedenthal, auch die von Conrady, vor allem die noch nicht abgeschlossene von Boyle). Rüdiger Safranskis Goethe-Buch ist ausgesprochen lesenswert, ein Goethe, passend erzählt fürs 21. Jahrhundert.
„Schlafwandler“ im „Stahlgewitter“: Literatur und Erster Weltkrieg
2014 wird ein Supergedenkjahr, in dem das Gedächtnis des Krieges eine besondere Rolle spielt. Der britische Historiker Christopher Clark, bekannt als Biograph Preußens, fragt nicht, warum der Krieg ausbrach, sondern wie es eigentlich dazu kam, dass die Entscheidungsträger in Politik, Militär und Diplomatie in einen Krieg zogen, den sie schon bald zu kontrollieren nicht mehr verstanden. Es gelingt Clark, vom Ersten Weltkrieg als „komplexeste(m) Ereignis“ einer Moderne zu erzählen, die sich in ultimativ verhandelnde Nationalstaaten ausdifferenzierte. Faszinierend ist die Geschichte der „Willy-Nicky-Telegramme“ vom Juli 1914. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. gab in einer Depesche dem russischen Zar Nikolaus II. zu bedenken, welches „Unheil“ die von diesem ausgegebene Generalmobilmachung „beschleunigen“ würde – und der mit Wilhelm verschwägerte Zar verzögerte seinen Befehl um 24 Stunden. Wäre heute ein solcher Mail-Verkehr zwischen zwei Regierungschefs vorstellbar? Clark untersucht minutiös die Rollen der Hauptakteure und ihrer Chargen, er deutet den Kriegsausbruch als „eine Tragödie, kein Verbrechen“. Rekonstruktiv erzählt er, wie schlafwandlerisch Europa in den Krieg ging, „wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten“.
„Die Schlafwandler“: So heißt übrigens eine Romantrilogie von Hermann Broch, die Anfang der 1930er Jahre erschien und den Weg Europas in den Ersten Weltkrieg ebenso subtil wie umsichtig nachzeichnet. Clarks Buch wird gewiss dazu beitragen, auch über die Rolle der Schriftsteller im, vor und nach dem Krieg nachzudenken. Soeben ist die von dem Heidelberger Germanisten und Jünger-Biographen Helmuth Kiesel vorbildlich edierte und kommentierte historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers Frontbericht „In Stahlgewittern“ (1920) erschienen, dem neben Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ berühmtesten Buch über den Ersten Weltkrieg, das ein neues, mehrdeutiges, erschreckendes Wahrnehmungsbild des Krieges zeichnete. Kiesel hat die Kriegstagebücher Jüngers aus den Jahren 1914 bis 1918, die „In Stahlgewittern“ zugrunde liegen, präzise untersucht. Der Leser kann so verfolgen, wie die Kriegserlebnisse psychisch verarbeitet, ästhetisch aufgeladen und dabei zur literarischen Katastrophendarstellung umgeformt werden.
Empfehlenswerte Neuerscheinungen:
- Louis Begley: Erinnerungen an eine Ehe. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christa Krüger. Berlin: Suhrkamp, 2013.
- Christopher Clark: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschiz. München: DVA, 2013.
- Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart: Klett-Cotta, 2013.
- Daniel Kehlmann: F. Roman. Reinbek: Rowohlt, 2013.
- Cees Nooteboom: Romane und Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Hans Herrfurth und Rosemarie Still. Berlin: Suhrkamp, 2013.
- Marion Poschmann: Die Sonnenposition. Roman. Berlin: Suhrkamp, 2013.
- Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. München: Hanser, 2013.