1945 war Europa ein Feld von Ruinen. Ein barbarischer Krieg hatte über 55 Millionen
Menschenleben gefordert. Millionen und Abermillionen Menschen waren entwurzelt,
Millionen auf der Flucht oder vertrieben, Eltern ohne Söhne, Frauen ohne
Männer, Kinder ohne Väter. 1945 waren viele von Europas Städten verwüstet. Die
Wirtschaft lag in Trümmern. Weltweit verbreitete der Name „Europa“ Furcht und
Schrecken. Über die Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
kann es keinen Zweifel geben: Das nationalsozialistische Unrechtsregime in Deutschland
steigerte seinen Rassenwahn und Machtanspruch zu einem Inferno der Aggression
gegen alle anderen Völker Europas. Der Holocaust an den Juden wurde sein
schlimmstes Verbrechen. Der nationalsozialistische Totalitarismus führte den ganzen
Kontinent ins Verderben. Am Ende wurde das deutsche Volk selbst zu einem seiner
Opfer. Sieger gab es 1945 gleichwohl nur wenige. Eher gab es glückliche und unglückliche
Überlebende, die einen im Westen, die anderen in der Mitte und im Osten Europas.
Im Westen des Kontinents entstand, mit Weitsicht geleitet von amerikanischer
Unterstützung, neues Leben in Freiheit, in Respekt vor der Menschenwürde, mit Demokratie
und rechtlich gesicherter Marktwirtschaft. Winston Churchill zeichnete in
seiner Züricher Rede 1946 die Vision der Vereinigten Staaten von Europa, wozu
Großbritannien allerdings nicht gehören sollte. Nach 1945 entstand Europa von seinem
atlantischen Westrand her neu. Erschöpft, aber im Glück des freien Neubeginns
rückten die Völker des europäischen Westens zusammen. Eine der größten Persönlichkeiten,
denen ich begegnen durfte, war Vernon Walters, von 1985 bis 1989 Botschafter
der USA bei den Vereinten Nationen, von 1989 bis 1991 Botschafter in der
Bundesrepublik Deutschland. 1990 war Walters Redner im Rahmen der „Osnabrücker
Europagespräche“ und Gast in meinem Haus in Bad Iburg. Er erzählte uns die
mir unvergessliche Geschichte, dass er kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges in
Berlin eine Familie im Keller besucht hatte, in welchem sie unterhalb ihres zerstörten
Hauses gelebt hatte. Dort hatten Blumen auf dem Tisch gestanden. „Deutschland hat
wieder eine Zukunft“, hatte Vernon Walters in diesem Moment gedacht.
Von der Hoffnung auf einen Neubeginn waren 1945 auch die Völker der Mitte,
des Ostens und Südostens Europas erfüllt. Als Menschen des gleichen, des uns allen
gemeinsamen europäischen Kulturraumes hofften sie auf eine neue Lebenschance in
Freiheit und Frieden. Sie mussten bitter erfahren, dass Frieden ohne Freiheit nur eine
halbe Befreiung vom Joch des totalitären Unrechts war. Der sowjetische Machtanspruch
brach ihre Hoffnungen nieder. 1945 war der nationalsozialistische Totalitarismus besiegt. Aber der stalinistische Totalitarismus führte Europa in die Spaltung hinein und überzog die Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas mit seinen Unrechtsregimen.
Die Hoffnung aber blieb auch unter den unglücklichen Überlebenden des
Zweiten Weltkrieges lebendig: die Hoffnung auf ein gemeinsames, geistig-moralisch
und politisch erneuertes Europa mit der Perspektive des Wohlstands für alle seine
Bürger. Bis sich diese Hoffnung verwirklichte, sollte es jedoch lange dauern.