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Die Geisteswissenschaften sind ein historisch junges Phänomen, eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts.
Natürlich gab es lange vorher die Beschäftigung mit Philosophie, Geschichte, Literatur
und fremden Völkern, aber erst als diese humanistischen Kunstlehren im
Fächerkanon der Universitäten eine institutionelle Form und den ständigen
Austausch gefunden hatten, entwickelten sie ihre zentrale Rolle bei der
Entstehung dessen, was wir heute als „moderne Welt" bezeichnen. Während die
Naturwissenschaften durch technische Anwendungen das Leben in seiner
praktischen Gestalt revolutionierten, lösten die Geisteswissenschaften die
ideellen Bindungen, indem sie die Welt in ihrem geschichtlichsozialen
Gewordensein erklärten.
Diese umfassende Relativierung aller Bereiche, der sozialen Ordnungen wie
der Religion, der Ästhetik wie des Rechts, machte die Menschen überhaupt
erst disponibel für eine veränderte soziale Wirklichkeit, machte sie fähig,
die Welt nicht mehr als eine Ordnung zu denken, die einmal gefunden werden
müsse, sondern sie als ständige Aufgabe zum Entwurf einer eigenen, einer
besseren Daseinsform zu begreifen. Die Fähigkeit, diese Aufgabe ergreifen
und gestalten zu können, wurde dem Einzelnen durch geisteswissenschaftliche
Bildung vermittelt.
Motor der Veränderung
So konnten die Geisteswissenschaften zur Bildungsmacht werden, die den
modernen Menschen nach dem Ausfall der alten sozialen Autoritäten befähigte,
die Entstehung der modernen Welt nicht nur als äußeren Sachzwang, sondern
als sinnhafte Aufgabe zu begreifen. Weil man den Geisteswissenschaften diese
Orientierungsfunktion zutraute und sich darauf verließ, dass sie gültige
Antworten für die Fragen der geschichtlich-sozialen Welt finden würden,
konnten sie die Erwartungen und Hoffnungen von Individuen und sozialen
Gruppen im Hinblick auf eine offene Zukunft wissenschaftlich kontrolliert
kanalisieren und damit als rationales Gegengewicht zur Eigendynamik sozialer
Bewegungen wirken.
Der spezifische europäische Sonderweg in die Säkularisierung und
Historisierung der eigenen Lebensformen, die institutionalisierte
Dauerreflexion (Helmut Schelsky) und letztlich die Fähigkeit zur
Selbstrelativierung sind wesentlich auf den Aufstieg der
Geisteswissenschaften zur europäischen Bildungsmacht im 19. Jahrhundert
zurückzuführen. Insofern begreift man die Rolle der Geisteswissenschaften
nicht, wenn man in ihnen nur die Kompensation eines
naturwissenschaftlich-technologischen Modernisierungsprozesses sieht, die
nacheilende Ideologieproduktion. Sie selbst waren ein Motor dieses
Prozesses, weil sie zur Reflexion auf den Anwendungsrahmen und den Sinn von
Technologien drangen, die alte Wirklichkeit als veraltet reflektierten und
den Blick fürs Neue freimachten. Die naturwissenschaftlichen und
technologischen Innovationen wurden damit nicht nur einer tradierten
Gesellschaft aufgepfropft, sondern als Teil eines umfassenden, auch Ideen,
soziale Strukturen und Mentalitäten integrierenden Veränderungsprozesses von
historischer Dimension verstanden.
Diese Leistungen konnten sich allerdings nur in dem historisch kontingenten
Gebilde „Geisteswissenschaften" verdichten, weil sie an den Universitäten in
der Humboldtschen Reform ihre spezifische institutionelle Gestalt fanden,
deren einzelne Elemente - Universitas, Autonomie und Bildung – oft
beschrieben wurden.
Die zentrale These lautet: Die Geisteswissenschaften haben keine Zukunft.
Sie sind historisch hervorgegangen aus einer Phase der institutionellen,
ideellen und sozialstrukturellen Ausdifferenzierung des Funktionssystems
Wissenschaft. Gegenwärtig erleben wir eine erneute Phase der
Entdifferenzierung, der Rückbindung an gesellschaftliche Interessen, die
sich institutionell als Übertragung ökonomischer Steuerungsmechanismen in
die Wissenschaft darstellt. Übrig bleiben werden nicht die
Geisteswissenschaften als Institution, sondern einzelne Fächer, die sich zu
berufspraktischen Kunstlehren ohne weiterführende intellektuelle Interessen
rückbilden (Lehrerbildung, Jura) und ihren fachspezifischen
Erkenntnisfortschritt als „Trivialisierungsprozess" (Friedrich Tenbrock)
vorantreiben.
Die Substanz schwindet
Daneben hält man sich ein paar Experten für dieses oder jenes Spezialgebiet,
das nach den Relevanzimpressionen momentaner Situationslogiken ausgebaut
oder beschnitten wird (heute der Fündamentalismus, also fördern wir die
Islamwissenschaft; morgen die Klimakatastrophe, also lenken wir das Geld in
die Öko-Soziologie um). Im Einzelnen heißt das:
1. Universitas: Heute wird
an die Universitäten die Forderung herangetragen, sich ein „Profil"
zuzulegen. Praktisch bedeutet dies eine Fächerkonzentration, die oft auf
Kosten der Geisteswissenschaften die drittmittelstarken Fächer bevorzugt,
von denen man sich eine direkte Umsetzung ihrer Erkenntnisse in ökonomische
Wertschöpfung erhofft (Biowissenschaften). Selbst wo diese Umschichtung, die
in den letzten Jahren an allen Universitäten die Strategiekommissionen
beschäftigt hat, innerhalb der Natur- oder Geisteswissenschaften verläuft,
betrifft sie doch häufig die kleinen „Orchideenfächer", konzentriert also
die personellen Kapazitäten auf bestimmte Schwerpunkte (Lehrerbildung,
Technikbegleitung, . Globalisierungsforschung et cetera).
Verschärfend kommt hinzu, dass die kleinen Fächer in den neuen konsekutiven
Studiengängen nicht die Kapazitäten für einen eigenen Studiengang haben und
die Magister-Nebenfächer fortgefallen sind. Sie können institutionell nur
überleben, indem sie sich als Zulieferer an hybriden Studiengängen
beteiligen (die allüberall entstehenden „kulturwissenschaftlichen"
BA/MA-Studiengänge), was zum Schisma zwischen fachlicher Identität,
Nachwuchsrekrutierung und der Lehre führt, weil die wissenschaftlichen
Fachgesellschaften nach wie vor die Karrieremuster bestimmen. Überall leidet
also die Universitas, es schwindet die Substanz der Geisteswissenschaften,
und die Interdisziplinarität,' die als Substitut verordnet wird, ist ein
schwacher Ersatz, weil sie nicht durch die kollegiale Verpflichtung
innerhalb der Institution vor Ort gestützt wird. Interdisziplinarität
reduziert sich unter diesen Bedingungen auf die Koordination von
Forschungsanträgen.
2. Autonomie: Während früher die Freiheit des Wissenschaftlers in der
autonomen Wahl seines Gegenstandes bestand, dominieren heute die sozialen
Zwänge der Forschungsprogramme, Drittmittelverbünde, Graduiertenkollegs und
Exzellenzdüster. Helmut Schelsky nannte das den Arbeits- und
Betriebscharakter der modernen Wissenschaft. Damit entsteht ein neuer Typus
in der Wissenschaft, der außengeleitete Charakter, der sich beweglich an die
jeweils dominierenden Interessen anhängt, auf die Ausschreibung von
Forschungsprogrammen reagiert und sich in die Anträge von Kollegen einbinden
lässt, die er selbst nie initiiert hätte. Intrinsische Motivation, Beharren
auf den eigenen Interessen, wird in dieser Forschung dysfunktional.
Dem außengeleiteten Typ, dem Wissenschaftsmanager, aus Karrieregründen,
entzieht die Gesellschaft zu Recht das Vertrauen, die innerwissenschaftliche
Kontrolle der Reputation wird ersetzt durch neue, formalisierte Formen der
sozialen Kontrolle, durch Evaluation und Qualitätssicherung, die sich als
bürokratische Apparate wiederum verselbstständigen. Die „Autonomie", die die
Institution Universität gegenüber den Ministerien erhalten hat, wird doppelt
eingeschränkt durch ein dichtes Netz an sozialer Kontrolle, mit dem
ausgelagerte Institutionen (Akkreditierungsagenturen, Evaluationsund
Qualitätssicherungsorganisationen) die Wissenschaft überziehen. Beantwortet
wird die Kontrolle durch einen klugen Umgang mit ihren Mechanismen, durch
potemkirische Fassaden und durch Gegenstrategien. So wie Vertrauen
Verantwortung erzeugt, so gebiert strukturelles Misstrauen Korruption.
Deshalb ist heute die Stunde der Ethikkommissionen und Gerichte angebrochen.
Spannend zu beobachten, wie lange unsere Gesellschaft ihre
Innovationsdynamik ohne die weit ausgreifende, weil phantasie-, nicht
interessengebundene Motivstruktur zur Forschung noch durchhält, während die
extrinsischen Anreize auf Dauer nur das duplizieren und ausdifferenzieren,
was ohnehin im Gespräch ist: der Drittmittelfolgeantrag als geistige
Struktur. Auf der Seite der Studierenden aber wird die intellektuelle
Autonomie durch „berufspraktische Anforderungen" beseitigt, was meist zu
einer strukturellen Verspätung der Kompetenzen führt: Bis die
„berufsbezogenen Qualifikationen" in die universitären Curricula
eingewandert und in einem Ausbildungsjahrgang realisiert sind, werden in
einer sich technologisch und sozial rasant entwickelnden Wirtschaft längst
andere Qualifikationen verlangt.
3. Bindung: Die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge führen zu einer
weitreichenden Entkoppelung von Lehre und Forschung, weil sie in den
Modulhandbüchern eine detaillierte Festschreibung der Lehre auf lange Zeit
fordern. Diese inhaltliche Festschreibung führt dazu, dass Dozenten ihre
Forschungsinteressen nicht mehr kurzfristig in Lehre umsetzen können,
Studierende durch vollgeschriebene Stundenpläne ihren intellektuellen
Interessen nicht mehr nachgehen können.
Die Verschulung, also die regelmäßige Wiederholung eines festgelegten
Stoffes, führt zu einer Verschlechterung der Lehre, die dann wiederum durch
didaktische Aufrüstung und Dauerkontrolle kompensiert werden muss. Auf
beiden Seiten wird also die intrinsische Motivation zur Wissenschaft
abgebaut und durch soziale Kontrolle (Prüfung und Lehrevalvation) ersetzt.
Wo dagegen die Lehre im kontinuierlichen und personalen Austausch
stattfindet, ist weder Prüfung noch Evaluation erforderlich, Forderung und
Förderung geben sich die Hand.
Themen statt Projekte
In der Summe zeigt sich, dass die aktuelle Entwicklung an den Universitäten
durch die Zerschlagung der Universitas, die Entdifferenzierung der
Wissenschaft und die Formalisierung der sozialen Bindung das Ende des
Zeitalters der Geisteswissenschaften eingeläutet hat. Die Barbaren vor den
Toren der Wissenschaft sind keine Germanen mit Bärenfell und Keule, sondern
die grauen Damen und Herren mit ihren Evaluationsbögen,
New-Public-Management-Konzepten und Teaching-Points.
Sie leiten durch ihre technokratischen Einheitskonzepte und den
institutionalisierten internationalen Vergleich (die Anpassung an das, was
andere auch machen) eine Phase der Entdifferenzierung ein, von der wir noch
nicht wissen, wann sie zu Ende sein wird. Ähnlich, wie die geistigen
Errungenschaften der Antike in der wirren Zeit nach dem Untergang des
Römischen Reiches in kleinen Mönchsgemeinschaften überlebt haben, müssen wir
heute innerhalb und außerhalb der Universitäten wieder Gemeinschaften
bilden, die das Reflexionsniveau der Geisteswissenschaften erhalten.
Aus ihnen kann eine neue Möglichkeit zur Verbesserung des Lebens erwachsen,
sollten die Barbarenstürme aus Fundamentalismus und Bildungstechnokratie
vorübergegangen sein. Diese Gemeinschaften müssen einem strengen Ethos der
Wissenschaft verpflichtet sein, um das Erbe der Geisteswissenschaften gegen
die übermächtige Wirklichkeit aus sozialer Anpassung, Nützlichkeits- und
Verwertungsdruck zu behaupten. Dieses Ethos könnte in folgendem Katechismus
seinen ersten Ausdruck finden:
- Diene der Wissenschaft, nicht ihrem Marketing!
- Betrachte die Wissenschaft als Lebensform, nicht als Job!
- Folge deinem Interesse, nicht den Ausschreibungen!
- Erforsche Themen, nicht Projekte!
- Arbeite an deinem Buch, nicht an verschiedenen Publikationen!
- Werde klassisch, nicht exzellent!
- Lasse dich rezensieren, nicht evaluieren!
- Sichere Qualität, nicht Qualitätssicherung!
- Lehre Inhalte, nicht Kompetenzen!
- Bilde Schüler aus, nicht Nachwuchs!