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Von einer Revolution aber redet kaum jemand. Angesichts der tunesischen Ereignisse ist die eigene Regierung für die meisten Ägypter zum Handeln, nicht zum Sturz aufgerufen.
Steht nach Tunesien auch in Ägypten ein Machtwechsel an? Unmittelbar nach der Flucht von Tunesiens Präsident Ben Ali ins saudische Exil lagen gerade für viele internationale Beobachter die Parallelen auf der Hand. So schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung (vom 17.1.2011): „In der politischen Repression nehmen sich die beiden Staaten nicht viel. Die Opposition wird mundtot gemacht, Wahlen werden gefälscht, Menschenrechte systematisch gebrochen“. Für den ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde und prominente Oppositionspolitiker Mohamed El-Baradei ist die Situation in Ägypten ähnlich wie in Tunesien. Nach den Ereignissen dort, so Baradei, sei auch ein Wandel in Ägypten unvermeidbar (Daily News Egypt vom 19.1.2011). Vertreter der ägyptischen Regierung sehen dies erwartungsgemäß anders. Außenminister Abul Gheit bezeichnete ein Übergreifen der Proteste auf Ägypten als „Unsinn“ (Al-Masry Al-Youm vom 16.1.2011). Aber nicht nur Regierung und Opposition meldeten sich zu Wort. Auch die ägyptische Bevölkerung, zivilgesellschaftliche Gruppen, Experten und die ägyptische Wirtschaft reagierten auf die Ereignisse in Tunesien.
Reaktionen der Bevölkerung
In der ägyptischen Bevölkerung riefen die Ereignisse in Tunesien zwar breite Sympathie hervor, die Reaktionen auf Ägyptens Straßen blieben jedoch eher verhalten. Lediglich am Wochenende nach Ben Alis Flucht kam es in Kairo vor der tunesischen Botschaft zu mehreren kleineren Protesten. Mit dem Slogan „Erst Tunesien, dann Ägypten“ forderte eine Handvoll Demonstranten ihre Landsleute auf, es den Tunesiern gleich zu tun. Ansonsten blieb es in Kairos Straßen weitgehend ruhig. Viele Ägypter fürchten die unkontrollierbaren Folgen von Massendemonstrationen und warnen vor Ausschreitungen. Der Kommentator Osama Heikal fasste die Stimmung am 19.1. während einer Talk-Runde auf dem Sender ON-TV zusammen. Ausschreitungen wie in Tunesien, so Heikal, bedeuteten in Ägypten „das völlig Chaos“.
Für Diskussionsstoff sorgten in Ägypten allerdings nicht nur die vereinzelten Solidaritätskundgebungen und die Angst vor Ausschreitungen, sondern vor allem die sich häufenden Selbstverbrennungen. Die Unruhen in Tunesien waren im Dezember durch die Selbstverbrennung eines jungen Mannes ausgelöst worden, der damit ein Zeichen gegen Perspektivlosigkeit und Behördenschikanen setzen wollte. Mehr als zehn Ägypter sollen in den vergangenen Tagen diesem Beispiel gefolgt sein.
In den Medien sind diese Selbstverbrennungen Gegenstand aufgeregter Debatten. Entsetzen und Verständnis vermischen sich hierbei mit Ablehnung und Zynismus. In der regierungsnahen Presse ist zu lesen, dass derartige Akte wenig „einfallsreich“ seien und nur dem tunesischen Vorbild nacheiferten – „sogar im Tod“ (Roz Al-Youssef vom 19.1.2011). In der regierungsnahen Al-Ahram (vom 19.1.2011) warnt eine Ärztin vor den enormen Qualen des Flammentods. Unabhängige Kommentatoren betonen demgegenüber das Ausmaß der Verzweiflung bei den Tätern und rufen zu friedlicheren und effektiveren Formen des Protestes auf (Al-Masry Al-Youm vom 19.1.2011). Religiöse Stimmen sorgen sich schließlich angesichts des strikten islamischen Verbots der Selbsttötung um das Seelenheil der Betroffenen. Ein Scheich der Al-Azhar gibt zu bedenken, dass denjenigen, die sich aus politischem Protest selbst verbrennen, zwar ein Platz in der Geschichte sicher sei - aber eben auch in der Hölle (Al-Masry Al-Youm vom 19.1.2011).
Reaktionen der Opposition
Die schwache und zerstrittene ägyptische Opposition bemüht sich derweil, die durch den Machtwechsel in Tunesien aufgekommene Dynamik politisch zu nutzen. Am 16. Januar trat erstmals das sog. „Volksparlament“, eine lose Gruppe ehemaliger Parlamentarier und Oppositionspolitiker, zusammen. Ursprünglich sollte das Forum auf eine Wiederholung der von Fälschungsvorwürfen begleiteten Parlamentswahlen von Ende November hinwirken. Jetzt aber beschäftigte es sich erwartungsgemäß mit den Ereignissen in Tunesien. Mitwirkende an diesem losen Oppositionsbündnis riefen im Lauf der vergangenen Woche immer wieder zu Demonstrationen und Protesten auf. Auch die Kundgebungen vor der tunesischen Botschaft sollen von „Volksparlamentariern“ organisiert worden sein (Al-Masry Al-Youm vom 16.1.2011).
Neben der realen formierte sich aber vor allem die virtuelle Opposition. Zahlreiche Facebook-Gruppen variieren mittlerweile den Slogan „Heute Tunesien, morgen Ägypten“ und fordern zu politischen Aktionen und zu Solidarität mit den Tunesiern auf. Während der Zulauf zu diesen Gruppen mit im Schnitt einigen tausend Mitgliedern bislang überschaubar bleibt, entwickelt sich die Facebook-Seite der Unterstützer des ermordeten Bloggers Khaled Said zur Drehscheibe der politischen Aktivisten. Die Seite ruft seit einigen Tagen zu Demonstrationen am 25. Januar, passenderweise dem arbeitsfreien „Tag der Polizei“, auf. Knapp 80.000 Facebook-Nutzer haben bereits ihre Teilnahme an der Kundgebung zugesagt. Auch etablierte Oppositionsbewegungen wie „6th of April Movement“ oder die „National Association for Change“ von Mohamed El-Baradei haben sich dem Aufruf angeschlossen.
Reaktionen der Regierung
Die ägyptische Regierung reagiert auf diese Aufrufe und generell auf die Ereignisse in Tunesien mit einer Mischung aus Be-schwichtigung und Aktivismus. Nach dem Rücktritt Ben Alis verkündete der ägyptische Außenminister Abul Gheit, dass er die Entscheidung des tunesischen Volkes zwar respektiere, ähnliche Entwicklungen in Ägypten aber ausschließe (Al-Masry Al-Youm vom 16.1.2011). Ähnlich äußerten sich auch Handelsminister Rashid und Kulturminister Hosny. Beide betonten in der Presse wiederholt, dass sich die politischen Rahmenbedingungen in Ägypten grundlegend von denen in Tunesien unterscheiden würden. Ägypten, so Hosny, lasse deutlich mehr zivilgesellschaftliche Spielräume offen als das Tunesien Ben Alis (Al-Masry Al-Youm vom 19.1.2011).
Eine Reihe von konkreten Maßnahmen machte derweil deutlich, dass die Regierung die Ereignisse in Tunesien deutlich weniger entspannt sieht, als diese Äußerungen vermuten lassen. Bereits am 15. Januar soll Präsident Mubarak einen „Nationalen Verteidigungsrat“ einberufen haben, um präventive Maßnahmen für den Fall ähnlicher Unruhen in Ägypten zu beraten. Diese Meldung wurde allerdings umgehend von offizieller Seite dementiert. Nur wenig später meldeten die Zeitungen, dass angekündigte Preiserhöhungen zurückgenommen und Subventionen für Grundnahrungsmittel erhöht werden sollen. Gleichzeitig versprach Minister Rashid eine Verbesserung der Lebensmittelversorgung und lobte das System der sozialen Sicherheit in Ägypten (Daily News Egypt vom 18.1.2011).
Gute Nachrichten gab es auch von anderen Ministerien. Das Erdölministerium gab Neueinstellungen bekannt, das Bildungsministerium versprach Gehaltserhöhungen, und das Arbeitsministerium kümmerte sich plötzlich um jahrelang vernachlässigte Bürgerbeschwerden. Bei vielen Ägyptern sorgte derartiger Aktionismus für müden Spott. Auf dem Sender ON-TV witzelte eine Moderatorin, man solle jetzt noch schnell ein paar Forderungen an die Regierung stellen, schließlich sei im Moment „in Sekundenschnelle möglich, was vorher undenkbar gewesen sei. Oh du glückliches Ägypten!“
Reaktionen der Wirtschaft
Weniger glücklich zeigten sich die Börsianer. Die ägyptischen Aktienkurse sackten unmittelbar nach dem Sturz Ben Alis auf den niedrigsten Stand seit sieben Monaten, gleichzeitig rutschte der Wechselkurs des ägyptischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar auf ein Sechs-Jahres-Tief. Schuld an der Entwicklung, so Beobachter, seien vor allem ausländische Investoren, die von der internationalen Berichterstattung über die Ereignisse in Tunesien verunsichert worden seien. Die Spekulationen über mögliche Kettenreaktionen in der arabischen Welt und über vergleichbare Unruhen in Ägypten hätte viele Investoren dazu veranlasst, sich aus Ägypten zurückzuziehen (The Egyptian Mail, 18.1.2011, Daily News Egypt, 18.1.2011). Nach Berichten von Al-Masry Al-Youm (vom 19.1.2011) sollen internationale Investoren innerhalb weniger Tage Aktien im Wert von etwa 45 Millionen US-Dollar abgestoßen haben.
Kein Wunder, dass sich die ägyptische Regierung auch wirtschaftlich um Schadensbegrenzung bemüht – und hierbei auf die Unterstützung der ebenfalls betroffenen arabischen Nachbarn setzt. In seiner Eröffnungsrede auf dem arabischen Wirtschaftsgipfel im ägyptischen Badeort Sharm El-Sheikh, der am 18.1.2011 begann, forderte Präsident Mubarak die arabischen Nachbarstaaten zur gemeinsamen Bekämpfung von Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit und Armut auf. Die Ereignisse in Tunesien erwähnte er nicht (Daily News Egypt vom 20.1.2011). Auch Handelsminister Rashid und der Vorsitzende der Arabischen Liga, Amr Moussa, appellierten an die arabischen Staaten, ihre ärmeren „Brüder“ bei der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme zu helfen (Daily News Egypt vom 19.1.2011).
Reaktionen von Experten
Nach Einschätzung einer Mehrheit der ägyptischen Experten und Kommentatoren sei eine Lösung dieser Probleme dringend geboten und die ägyptische Regierung jetzt unter erheblichem Zugzwang. Die Wortwahl ist dabei selbst in regierungsnahen Blättern ungewohnt heftig. Emad Gad vom staatlichen „Al-Ahram Center“ beispielsweise sieht auch Ägypten, Algerien und Libyen reif für den politischen Wechsel. In all diesen Staaten, so Gad, verlasse sich die Regierung zu sehr auf den Sicherheitsapparat und laufe dadurch Gefahr, von diesem selbst gestürzt zu werden (The Egyptian Gazette vom 16.1.2011). Von einem Volksaufstand oder einem bevorstehenden Sturz der ägyptischen Regierung will aber kaum jemand (offen) sprechen. Zu unterschiedlich sei der politische und gesellschaftliche Kontext in Ägypten und Tunesien.
Der prominente Journalist Abdel-Moneim Said beispielsweise betont, dass Ägypten im Gegensatz zu Tunesien Pressefreiheit, Organisationsfreiheit und ein unabhängiges Verfassungsgericht habe (Al-Ahram Weekly vom 20.1.2011). Amr Hamzawy vom „Carnegie Middle East Center“ in Beirut gibt darüber hinaus zu bedenken, dass in Ägypten deutlich mehr Personen von Zuwendungen des Regimes abhängig seien als in Tunesien. Auch das Militär stünde vergleichsweise stärker hinter dem Präsidenten. Außerdem, so Hamzawy, habe die Strategie der Regierung, durch ökonomische Konzessionen und Subventionen soziale Unruhen zu verhindern, bisher meistens gewirkt (International Herald Tribune vom 19.01.2011). Den Aspekt der weitreichenden Klientelismus-Netzwerke betont auch Alaa El-Oreibi. Anders als in Tunesien seien in Ägypten fast alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte derart eng miteinander verbunden, dass den meisten Vertretern der Mittelschicht eine Revolution zu riskant wäre (Al-Wafd vom 16.1.2011).
Hinter den Spekulationen über einen Umsturz in Ägypten stehe, so Shawqy Al-Aqabaoui, deshalb vor allem das „Wunschdenken“ einiger weniger Intellektueller. Die breite Bevölkerung, so Al-Aqabaoui, habe längst resigniert und sich mit ihrer Situation abgefunden. Für einen Volksaufstand fehlten die führenden Köpfe. Anders als Tunesiens verfüge Ägypten nicht über eine breite säkulare und oppositionell gesinnte Mittelschicht (Al-Masry Al-Youm vom 16.1.2011). Nüchternheit ist auch bei manchen Bewertungen der tunesischen Ereignisse spürbar. Für Salah Eissa stellen die Ereignisse in Tunesien lediglich eine „Palastrevolution“ dar. Nicht „das Volk“, sondern eine Koalition aus bisherigen Eliten und dem Militär habe den Diktator vertrieben und die Macht übernommen. Angesichts fehlender Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung sieht Eissa für Tunesien zwei Optionen: einen Militärputsch oder eine Machtübernahme der Islamisten (Al-Ahram Weekly vom 20.1.2011).
Insgesamt scheint bei vielen Kommentaren Faszination und Anerkennung für das tunesische Beispiel durch, aber oft auch Sorge vor den Folgen des Aufstands, vor Chaos und Instabilität. Diese „besorgte Begeisterung“ wird oft verbunden mit einem eindringlichen Appell an die ägyptische Regierung. Diese solle Forderungen nach Wohlstand, Freiheit, Mitsprache und Perspektive ernst nehmen und sich zu weitreichenden Reformen bereit erklären. Konkret werden die Wiederholung der Parlamentswahlen vom November, die Anhebung des Mindestlohns und die Aufhebung der Notstandsgesetze genannt.
Schlussfolgerung
Das tunesische Beispiel fasziniert, beschämt, motiviert und besorgt die Ägypter. Es fasziniert, weil zum ersten Mal ein arabischer Machthaber dem Druck der Straße weichen musste. Es beschämt, weil es das kleine Tunesien war, das den Mut zum Aufstand hatte – und nicht Ägypten. Es motiviert, weil es Möglichkeiten des politischen Wandels auch im eigenen Land aufzeigt. Und es besorgt, weil die Folgen der tunesischen Ereignisse riskant erscheinen und, auf Ägypten übertragen, noch viel riskanter wären. Viele Ägypter hoffen deshalb auf einen Wandel ohne Risiken. Für sie ist der tunesische Machtwechsel vor allem ein sehr lauter Warnschuss für die ägyptische Regierung. Ein Weckruf für das ägyptische Volk ist er (noch) nicht.
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