Aufgrund der Pandemielage sind russlandweit Massenansammlungen untersagt; die Generalstaatsanwaltschaft und das Innenministerium warnten vor der Teilnahme an entsprechenden Kundgebungen. Viele von Nawalnys Mitstreitern wurden bereits im Vorfeld der Kundgebung festgenommen. Trotz fehlender Genehmigungen kam es am 23. und am 31. Januar zu landesweiten Protesten. Die größten Kundgebungen fanden in Moskau und in St. Petersburg statt. Für die Hauptstadt schwanken die Angaben für den ersten Protestsonntag zwischen 4.000 und 50.000, realistisch wird wohl für den 23. Januar eine Zahl zwischen 15.000 bis 20.000 sein. Im Vorfeld des 31. Januar kam es zu massiven Einschüchterungsversuchen seitens des Staates. Dementsprechend geringer war die Teilnehmerzahl, dennoch gingen erneut Tausende von Menschen auf die Straße. Die Kundgebungen endeten erneut mit massenhaften Arresten. Vielen Demonstranten drohen nun Ordnungs- oder Strafverfahren wegen Gewaltanwendung gegenüber Sicherheitskräften, Rowdytum, der Blockade von Straßen sowie der Verletzung der Infektionsschutzgesetze. Doch Nawalnys Anhänger wollen dessen ungeachtet die Proteste fortsetzen.
Rückblende: Proteste und Unruhen in Russland und Nawalnys Aufstieg
Großdemonstration stellen in der jüngeren russischen Geschichte kein Novum dar. Anfang der 1990er Jahren erreichten die Demonstrationen bis heute unübertroffene Ausmaße mit bis zu einer Million Teilnehmern. Zunächst galten diese Veranstaltungen der Unterstützung von Reformkräften, später schwenkte die Ausrichtung um. Vor allem Altstalinisten und Ultranationalisten entwickelten sich in den 1990er Jahren zur bedeutungsstärksten Opposition wider Boris Jelzins liberale Reformpolitik. Nur noch knapp gelang Jelzin der Wahlsieg 1996 gegen den kommunistischen Herausforderer Gennadi Sjuganow der KPRF, der heute noch Vorsitzender der Kommunistischen Partei ist. Die zunehmende ökonomische Disparität und die politische Instabilität der 1990er Jahre förderte ferner den Zulauf zu extremistischen Positionen und Parteien wie der Nationalbolschewistischen Partei Russlands (NBP). Kundgebungen endeten oft in gewaltsamen Auseinandersetzungen, die an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnerten. Eine beständige Parteienlandschaft entwickelte sich erstmals in Russland ab den 2000ern. Die sich etablierende Systemopposition setzte sich vor allem aus links- und rechtsnationalistischen Kräften zusammen. Die großen politischen Demonstrationen gehörten damit zunächst der Vergangenheit an.
Zwischen 2005 und 2007 kam es erstmals in der Präsidentschaft Wladimir Putins zu einer Reihe von größeren politischen Demonstrationszügen, die sich gegen die Regierung richteten. Die in verschiedenen Städten Russlands stattfindenden Kundgebungen wurden als „Der Marsch der Unzufriedenen“ bekannt. Die Teilnehmer entstammten äußerst heterogenen Gruppen, neben liberalen Kräften um Garri Kasparow und Michael Kasjanow gehörten auch die Nationalbolschewisten um Eduard Limonow den Protestlern an. Den Märschen gelang es, nie mehr als maximal einige Tausend Menschen zu mobilisieren, oft waren es nur Hunderte.
Wie schnell andererseits emotional aufgeladene Themen landesweite auch spontane Massenkundgebungen auslösen können, verdeutlicht ein Vorfall 2010. Nachdem bei einem Handgemenge mit Nordkaukasiern ein ethnischer Russe erschossen wurde, versammelten sich am 11. Dezember auf dem Moskauer Manege-Platz spontan über 10.000 Menschen. Es kam zu Massenschlägereien und Hetzjagden. Erstmals mobilisierten sich bei diesen Ereignissen in Russland Menschen über soziale Netzwerke. Die Aktion griff auch auf andere Städte über.
Bis heute prägend und nachwirkend sind die Ereignisse im Nachgang zu den Parlamentswahlen 2011. Erstmals richteten sich Massenproteste gegen den russischen Präsidenten Putin und die Regierungspartei Einiges Russland. Die Kundgebungen in Folge der Duma-Wahlen 2011 hielten über mehrere Monate an und gingen in die Proteste gegen die erneute Präsidentschaft Putins 2012 über. Hunderttausende demonstrierten wiederholt auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz. Parteien und Bewegungen verschiedenster Ausrichtungen unterstützten die Proteste. Zu den aktivsten außerparlamentarischen Aktivisten gehörte der Kommunist Sergej Udalzow. Er gehörte vormals der Kommunistischen Partei an, die ihm später als zu gemäßigt erschien. Udalzow wurde zu einem Anführer der Avantgarde der Roten Jugend, aus der die radikale Linke Front hervorging. Zusammen mit Udalzow trat ein weiterer bis dato nicht der breiten Öffentlichkeit bekannter Oppositioneller auf, der durch die Ereignisse von 2011 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde: Alexej Nawalny.
Zu Beginn seiner politischen Karriere hatte sich Nawalny im liberalen Oppositionsspektrum engagiert. Als Mitglied der liberalen Partei Jabloko beteiligte er sich aktiv an der Moskauer Lokalpolitik, wurde jedoch nach wiederholten Zwischenfällen – er soll u.a. kaukasischstämmige Parteimitglieder im Streit als „Schwarzärsche“, deren Rolle auf dem Basar sei, beleidigt haben – aufgrund seiner ultranationalistischen Anschauungen 2007 aus den Reihen der Partei ausgeschlossen. Infolge gerierte er sich offen als russischer Nationalist. Bereits ab 2006 nahm er an dem jährlichen rechtsextremen „Russischen Marsch“ teil. Dabei zeigte er sich Seite an Seite mit dem russischen Neonazi, Holocaustleugner und Hitlerbewunderer Dmitri Djomuschkin, Organisator des Russischen Marsches und Gründer der verbotenen rechtsextremen Vereinigung Slawjanski Sojus (SS). , , Die während dieser Zeit von Nawalny ins Leben gerufene Bewegung „Volk“ arbeitete mit der (mittlerweile verbotenen) fremdenfeindlichen „Bewegung gegen illegale Immigration“ (DPNI) zusammen.
In diesen Jahren erregte er Aufmerksamkeit durch Äußerungen mit rassistischer und homophober Stoßrichtung. Exemplarisch für Nawalnys politische Positionen waren vor allem Ausfälle gegen die Völker des Nordkaukasus: „Die gesamte nordkaukasische Gesellschaft und ihre Eliten teilen den Wunsch, wie Vieh zu leben. Wir können nicht normal mit diesen Völkern koexistieren.“ Homosexuelle bezeichnete er als “Schwuchteln”, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit ausschließlich in geschlossenen und eingezäunten Stadien demonstrieren sollten. Nach diesen Phasen an der Seite liberaler, kommunistischer und ultranationaler Kräfte und Bewegungen ging Nawalny auf Distanz zu polittheoretischen Ideen und wandelte sich zum Vorkämpfer gegen die russischen Eliten. Vor allem durch Anti-Korruptionsvideos erregte er in den sozialen Medien Aufmerksamkeit. Nachdem politische Kandidaturen aufgrund von Vorstrafen und vom Staat bewusst aufgebauten bürokratischen Hürden aussichtslos wurden, ist seine Stiftung zur Korruptionsbekämpfung zu seinem Hauptprojekt geworden. Russland leidet unter weitverbreiteter Korruption, die eine permanente Quelle des Unmutes und der Unzufriedenheit in der Bevölkerung darstellt.
2019 kam es in Russland in verschiedenen Städten zu erneuten Demonstrationen. Lokale Korruptions- und Umweltskandale sowie Wahlbetrugsverdacht bei den Regionalwahlen stellten die jeweiligen Anlässe dar. Die Sicherheitskräfte lösten die Proteste teilweise gewaltsam auf. Träger des Widerstandes waren vor allem Anhänger verschiedener außerparlamentarischer Oppositionsgruppen, welche die Ablehnung der Putin-Administration verband. Auch Nawalny und seine Anhänger beteiligten sich aktiv an den Protesten. Es gelang jedoch keinem der Regierungsgegner, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Die Proteste verebbten in Folge auch deshalb weitestgehend ohne Nachhall.
Nawalnys neues Video und die aktuellen Demonstrationen
Die aktuellen Proteste könnten eine andere Dynamik annehmen, auch weil sie sich um eine Person bündeln. Sie wurden durch Nawalnys Vergiftung, seine Verhaftung unmittelbar nach der Rückkehr aus Deutschland, sein jüngstes Youtube-Video, das sich erstmals gegen Wladimir Putin persönlich richtet, sowie den ausdrücklichen Aufruf Nawalnys an seine Anhänger, auf die Straße zu gehen, ausgelöst. Dieser Aufruf wurde noch in Deutschland aufgezeichnet, was in der russischen Administration genauso für Unmut sorgt wie das Aufzeigen des Demonstrations-Routenverlaufes am 23. Januar durch die US-amerikanische Botschaft in Moskau. Die Produktion von Nawalnys Film wurde unter anderem von REUTERS unterstützt. Das Video wurde während Nawalnys Rekonvaleszensaufenthaltes in einem Filmstudio im Schwarzwald produziert. All dies dient den staatlichen russischen Medien und der Propaganda als Unterlegung des ohnehin vorhandenen Narratives, dass Nawalny aus dem Ausland gesteuert sei.
Nawalnys Youtube-Film zeigt Putins Aufstieg vom Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes zum Präsidenten der Russischen Föderation und beleuchtet angebliche Korruptionsfälle, die laut Nawalny bis in das familiäre und persönliche Umfeld des Präsidenten hineinreichen sollen. Detailliert wird über ein mutmaßliches Korruptionsnetzwerk um den russischen Präsidenten, der noch nie zuvor öffentlich in dieser Art und Weise angegriffen worden war, berichtet. Dramaturgischer Höhepunkt ist eine Recherche über einen Palast am Schwarzen Meer, der als „Putins Schloss“ bezeichnet wird. Dabei greift der Filmautor auf Animationsgrafiken, aber auch auf den Zuschauer leicht mobilisierende Elemente zurück, beispielsweise dann, wenn der den mutmaßlichen Preis einer angeblich vergoldeten Toilettenbürste mit der monatlichen Rente eines Russen vergleicht.
Der Kreml und Wladimir Putin selbst wiesen erwartungsgemäß alle im Film erhobenen Vorwürfe zurück. Putin sagte: „Nichts von dem was dort [in dem Film] gezeigt wurde, gehört mir oder meinen Verwandten, oder hat es jemals gehört.“ Unmittelbar darauf erklärte Arkadi Rotenberg, ein milliardenschwerer und dem Kreml nahestehender russischer Unternehmer, dass er vor einigen Jahren angeblich das palastähnliche Gebäude am Schwarzen Meer gekauft habe und dort ein Hotel plane. Im Kreml betrachtet man Nawalnys Produktion als Kampfansage, dies nicht zuletzt deshalb, weil sich das Staatsoberhaupt durch Bezeichnungen wie „diebischer Bunker-Opa“ und „Kröte“ verunglimpft sieht.
Während der aktuellen landesweiten Proteste fordern die Demonstranten die Freilassung Nawalnys. Es handelt sich zudem um Anti-Regierungsproteste, bei denen sich ein allgemeiner Unmut entlädt. Die Sicherheitskräfte schienen angewiesen worden zu sein, unschöne Bilder zu vermeiden und verhielten sich relativ zurückhaltend. Auf den Einsatz von Wasserwerfern oder Pfefferspray wurde verzichtet, sicher auch, um sich bei möglichen weiteren Demonstrationen Steigerungspotential in der Reaktion zu erhalten. Gewalt gab es von beiden Seiten. Knüppelnde Polizisten waren genauso zu sehen wie Demonstranten, die im Stil der Antifa in Westeuropa auf Fahrzeuge von Sicherheitskräften eintraten oder Polizisten angriffen, letzteres bis dato in Russland eher ungewohnte Szenen. Leonid Wolkow, der sich seit 2019 in Litauen aufhält und als Nawalnys „Stabschef“ sowie Koordinator der diesjährigen Proteste gilt, äußerte gegenüber dem Spiegel: „Wenn die Staatsmacht nicht auf ihre Bürger hört, dann kann es leider zu Exzessen kommen.“
Gesellschaftliche Gräben und ein Generationenkonflikt
Durch die eingekehrte politische Stabilität und einen gewissen ökonomischen Aufschwung entstand in den letzten 20 Jahren erstmals in der russischen Geschichte eine breitere Mittelschicht. Teile dieser Mittelschicht halten eine skeptische Distanz gegenüber den Protesten und zur Person Nawalny selbst, auch aus Sorge um das Erreichte. Jedoch sind es gerade deren Kinder, die zusätzlich zum relativen materiellen Wohlstand nun politische Emanzipation fordern. Ein Generationenkonflikt ist augenscheinlich. Die Auswirkungen der digitalen Revolution zeitigen ihre Wirkung. In einem nie dagewesenen Maße spielen derzeit die sozialen Netzwerke, allen voran YouTube, Instagram, Telegram und TikTok, eine Mobilisierungsrolle, gerade bei sehr jungen Protestlern. Auch sorgten die sozialen Medien und ihre Algorithmen dafür, dass die Dominanz von Regierungspositionen in den klassischen Medien umgangen wurde. Die Glaubwürdigkeit Nawalnys ist deshalb besonders bei jungen Menschen hoch, deren vorrangige Informationsquelle soziale Medien darstellen. Dass der 44-jährige sich häufig einer Jugendsprache bedient und auch radikal sowie populistisch zu agieren versteht, befördert dies nur. Sie betrachten den Oppositionellen als eine Art modernen Robin Hood. Ein anderer Teil der Gesellschaft sieht in Nawalny einen narzisstischen Selbstdarsteller, der inhaltliche Positionen nach Belieben wechselt. Der Kreml setzt schließlich darauf, ihn als „ausländischen Agenten“ abstempeln zu können, eine Methode, die in der seit Sowjetzeiten latent antiamerikanisch und antiwestlich orientierten Öffentlichkeit immer wieder verfängt.
Die Demonstrationen kommen für die Administration zu einem ungünstigen Zeitpunkt. 2021 stehen Duma-Wahlen an, die Regierungspartei Einiges Russland muss um ihre Mehrheit fürchten. Anzeichen für einen internen Machtkampf, der auch ein Vorbote der Präsidentschaftswahlen 2024 ist, häufen sich. Noch tritt von solchen Machtkämpfen nur wenig an nach außen. Dazu zählt u.a. der Fall Furgal im Vorjahr, als der eng mit den lokalen Eliten verbundene und populäre Gouverneur von Chabarowsk aufgrund angeblicher Verstrickungen in Auftragsmorde verhaftet wurde. Vieles deutet aber darauf hin, dass einzelne Elitengruppen, im eigenen Interesse und womöglich um Putin zu schaden, Nawalny mit Informationen aus dem Innern des Machtapparats versorgen und ihn teilweise unterstützen oder zumindest benutzen. Kommunisten-Führer Sjuganow sieht deshalb hinter all dem, was sich derzeit in Russland um Navalny abspielt, nicht nur – in altbekannter Manier – ausländische Geheimdienste, sondern auch „einen der Kreml-Türme“. Er steht mit dieser Einschätzung nicht allein.
Die Präsidentschaft Wladimir Putins ist jedoch nicht in akuter Gefahr. Obwohl die Zustimmungswerte sinken, genießt Putin nach 20 Jahren an der Staatsspitze sogar in Umfragen oppositionsnaher Meinungsforschungsinstitute immer noch über hinreichend gute Sympathiewerte. Gesellschaftliche Institutionen wie die Russisch-Orthodoxe Kirche, aber auch die beiden großen muslimischen Muftiate, sind weiterhin eng mit der Staatsmacht verbunden. Bislang gelang es Putins Administration zudem immer, bei Unmutsbekundungen ein jeweils geeignetes Ventil zu finden. Die in kritischen Situationen repressiv agierenden Sicherheitsorgane stabilisieren den Staat zusätzlich. In der Vergangenheit bewies die Putin-Administration, dass sie durchaus in der Lage ist, Proteste auszusitzen.
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