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„Georgischer Traum“ wird zum Albtraum

z Matthias Hespe, Florian Binder, Stephan Malerius

Mit rasanter Geschwindigkeit wendet sich die georgische Regierung vom euro-atlantischen Kurs ab. Doch Zivilgesellschaft und Opposition geben nicht auf.

„Agentengesetz“, „Offshore-Gesetz“ und vertiefte Kooperation mit China - in Georgien zeichnen sich fundamentale politische Veränderungen ab. Mit einer Autokratisierung in Lichtgeschwindigkeit hat die Regierungspartei „Georgischer Traum“ den Westen überrumpelt. Die überwältigend pro-europäische Bevölkerung geht gegen diese Entwicklungen seit Wochen in historischem Ausmaß auf die Straße. Doch die Regierung setzt unbeeindruckt auf Konfrontation. Dabei geht es nicht nur um das vielzitierte „Agentengesetz“, sondern um größere geopolitische Verschiebungen in der Region. Für den Westen steht viel auf dem Spiel.

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Das „Agentengesetz“ kommt

Der Kontrast hätte größer kaum sein können: Während unter den Abgeordneten der Regierungspartei „Georgischer Traum“ Applaus aufbrandete, als Parlamentspräsident Schalwa Papuaschwili am Abend des 28. Mai die erfolgreiche Überstimmung des Vetos der Präsidentin gegen das „Agentengesetz“ bekanntgab, reagierten zehntausende Demonstrierende vor dem Parlamentsgebäude mit Wut und Enttäuschung auf die Ereignisse, die auf einer Großleinwand übertragen wurden.

Ohne Abweichler votierte die Regierungsmehrheit mit 84 Stimmen für das am 14. Mai in dritter Lesung verabschiedete Gesetz und setzte sich damit über das wenige Tage zuvor von Präsidentin Salome Surabischwili eingelegte Veto hinweg. Damit stehen dem „Agentengesetz“ keine relevanten juristischen oder legislativen Hürden mehr im Wege. Es wird erwartet, dass das Gesetz in den kommenden zwei Monaten in Kraft treten wird. Dann werden sich alle Nichtregierungsorganisationen und Medien, die mindestens 20 % ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, beim Justizministerium als „Organisation, die die Interessen einer ausländischen Macht verfolgt“ registrieren müssen. Bei Weigerung drohen eine Zwangsregistrierung und drakonische Strafzahlungen. Vage Formulierungen im Gesetzestext geben der Regierung zudem Raum für eine willkürliche Auslegung und in der Folge für gezielte Repressionen gegen NGOs und Einzelpersonen.

Gegen das von der Zivilgesellschaft und Opposition auch als „russisches Gesetz“ bezeichnete Vorhaben gibt es seit Anfang April Massenproteste, die schon jetzt in Dauer und Umfang die größte Protestbewegung in Georgien seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1991 darstellen. Angeheizt wurden die Proteste auch durch eine Rede des Oligarchen und de-facto Machthabers Bidsina Iwanischwili, der das „Agentengesetz“ am 29. April zur Chefsache erklärte und dessen Notwendigkeit mit einer Tirade anti-westlicher Verschwörungstheorien untermalte. Die Behörden reagierten auf die beispiellose, friedliche Demonstrationswelle zwischenzeitlich mit brutaler Gewalt, breit orchestrierten Einschüchterungs- und Verleumdungskampagnen und physischen Attacken auf einzelne Vertreterinnen und Vertreter von Opposition und Zivilgesellschaft.        

 

Reaktionen des Westens

Berlin, Brüssel und Washington hatten sich seit Wochen mit den Demonstrierenden solidarisiert, vor einer Verabschiedung des Gesetzes gewarnt und dessen Unvereinbarkeit mit Georgiens euro-atlantischer Integration hervorgehoben. Außenministerin Baerbock warf der georgischen Regierung am 29. Mai vor, sie führe „das Land weg von Europa“. Der Beauftragte der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell konstatierte, das Gesetz verstoße „gegen die Grundprinzipien und Werte der EU“. Er verwies ferner auf die Einschätzung der Venedig-Kommission des Europarates, die dem georgischen Gesetz „fundamentale Mängel“ attestierte und eine „dringende Empfehlung“ zur Zurücknahme aussprach. Die rechtlichen Bedenken im Gutachten der Kommission, das von der georgischen Regierung selbst in Auftrag gegeben worden war, bezeichnete Premierminister Irakli Kobachidse - ein in Deutschland promovierter Jurist - im Anschluss als „absurd“ und „Lügen“.   

Jenseits verbaler Verurteilungen nehmen im Westen die Diskussionen über konkrete Maßnahmen in Reaktion auf das „Agentengesetz“ Fahrt auf. US-Außenminister Antony Blinken kündigte am 23. Mai Sanktionen in Form von Visa-Beschränkungen für „Personen, die für die Untergrabung der Demokratie in Georgien verantwortlich […] sind, sowie ihre Familienangehörigen“ an. Zudem werde die USA eine „umfassende Überprüfung der gesamten Zusammenarbeit“ mit Georgien einleiten. Zeitgleich wurde eine überparteiliche, „MEGOBARI“ (georgisch: „Freund“) genannte Gesetzesinitiative in den US-Senat eingebracht, die eine umfassende Sanktionspolitik gegen Mitglieder und Affiliierte der georgischen Regierung einfordert und gleichzeitig ein Maßnahmenpaket zur Visaliberalisierung sowie vertiefte wirtschaftliche und sicherheitspolitische Unterstützung für Georgien in Aussicht stellt, sollte die Regierung das „Agentengesetz“ zurückziehen.

In Brüssel gestaltet sich die Entscheidungsfindung schwieriger. So sperrten sich Ungarn und die Slowakei bereits gegen die Veröffentlichung einer gemeinsamen Stellungnahme der EU-Mitgliedsstaaten. Maßnahmen wie Sanktionen oder gar eine Zurücknahme des EU-Beitrittskandidatenstatus für Georgien erfordern Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten. Es ist davon auszugehen, dass die Regierungen in Budapest und Bratislava, die beide sehr gute Beziehungen zur georgischen Führung pflegen, ihre Zustimmung zu derartigen Maßnahmen verweigern werden. Im Raum steht stattdessen ein „Einfrieren“ der EU-Integration Georgiens. So haben mehrere Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, bereits ausgeschlossen, der Eröffnung von EU-Beitrittsverhandlungen mit Georgien zuzustimmen, solange das „Agentengesetz“ in Kraft ist. Möglich wäre zudem eine Suspendierung der seit 2017 bestehenden Visafreiheit für georgische Staatsbürger, die mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden kann.

 

Weitere Schritte gen Autokratie

Das vieldiskutierte „Agentengesetz“ ist der unrühmliche Höhepunkt einer Reihe von Entscheidungen der georgischen Regierung in den vergangenen Wochen, die auf eine faktische Abkehr vom in der Verfassung verankerten euro-atlantischen Integrationskurs und eine verstärkte Annäherung an Autokratien wie China und Russland hindeuten.

So verabschiedete das georgische Parlament am 19. April im Windschatten der Turbulenzen um das „Agentengesetz“ Änderungen im georgischen Steuergesetz. Diese sehen Steuerbefreiungen für Personen und Unternehmen vor, die ihre finanziellen und materiellen Vermögenswerte aus Steueroasen nach Georgien transferieren. Kritikerinnen und Kritiker sehen in dem Beschluss (auch: „Offshore-Gesetz“) das Ziel, den Oligarchen Iwanischwili dabei zu unterstützen, drohende westliche Sanktionen zu umgehen. Zusätzlich bestehe die Gefahr, dass Georgien damit zu einer Drehscheibe für Geldwäsche und „schmutzige“ Geschäfte werde. Präsidentin Surabischwili legte zwar am 3. Mai ihr Veto gegen das „Offshore-Gesetz“ ein. Doch auch dieses Veto wurde am 29. Mai von der Regierungsmehrheit des „Georgischen Traums“ überstimmt.

Am selben Tag gab das georgische Wirtschaftsministerium bekannt, dass ein chinesisches Konsortium den Zuschlag für den Bau eines Tiefseehafens im westgeorgischen Anaklia erhalten hat. Durch die geographische Lage in unmittelbarer Nähe zur seit 2008 von Russland okkupierten georgischen Region Abchasien sowie die strategische Bedeutung als einziger Tiefseehafen Georgiens im ökonomisch wichtigen „Middle Corridor“ zwischen China und Europa, besitzt das seit Jahren diskutierte Großprojekt an der Schwarzmeerküste massive geopolitische Implikationen. 2020 hatte die Regierung des „Georgischen Traums“ den bereits gestarteten Bau des Hafens durch ein US-amerikanisch-georgisches Konsortium unter nebulösen Gründen gestoppt. Der Zuschlag an das chinesische Konsortium reiht sich in zuletzt vertiefte Beziehungen zwischen Georgien und China ein, die seit Abschluss einer „strategischen Partnerschaft“ im Juli 2023 auf ein neues Niveau gehoben wurden.

 

Zwischen europäischer Zukunft und russischer Vergangenheit

In den Tagen nach der Überstimmung des Vetos gegen das „Agentengesetz“ macht sich in der georgischen Bevölkerung zwar Enttäuschung und Wut, jedoch keine Resignation breit. Die überwiegende Mehrheit der NGOs hat bereits erklärt, sich unter keinen Umständen freiwillig registrieren zu lassen. Das Ziel der Protestbewegung ist es, den Druck der Straße bis zu den Parlamentswahlen am 26. Oktober aufrecht zu erhalten.

Offen bleibt, ob und wie die von der Zivilgesellschaft getragenen Proteste auf die politische Ebene übertragen werden können, so dass sie sich letztlich im Wahlergebnis niederschlagen. Die anhaltende politische Zersplitterung und das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in die existierenden Oppositionsparteien erschweren diesen Prozess. Zugleich fordern Opposition und Zivilgesellschaft eine robuste Langzeit-Wahlbeobachtung von unabhängigen internationalen Institutionen wie auch lokalen Akteuren. Es wird allgemein befürchtet, dass die Regierung versuchen wird, die Wahlen zu fälschen.

Diskutiert wird zudem die Frage, ob die pro-europäischen Oppositionsparteien zu den Parlamentswahlen in einer gemeinsamen Liste antreten sollten, um die Wahl faktisch zu einem Referendum zwischen Europa/Demokratie vs. Russland/Autokratie zu machen. Präsidentin Surabischwili, die sich in den vergangenen Wochen zu einer Art Gesicht der Protestbewegung entwickelte, kündigte am 26. Mai eine entsprechende Initiative an, die sie „Georgische Charta“ nannte. Demnach sollen die unterzeichnenden Parteien im Falle einer Mehrheit bei den Wahlen im Oktober zunächst für ein Jahr eine technokratische Übergangsregierung errichten, „um die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen“ im Herbst 2025 zu schaffen. Zahlreiche Oppositionsparteien unterschrieben die „Georgische Charta“ bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung.

Georgien steht an der Weggabelung „zwischen europäischer Zukunft und russischer Vergangenheit“, wie es Surabischwili am 9. Mai formulierte. Von Bedeutung für die Frage, welchen Weg das Land einschlägt, ist auch das Agieren des Westens. Wichtig ist vor allem die fortgesetzte Unterstützung der georgischen Zivilgesellschaft, der „Herzkammer“ der euro-atlantischen Integration Georgiens. Zugleich erfordert die Lage ein verbindliches Auftreten insbesondere der europäischen Regierungen gegenüber der Regierung des „Georgischen Traums“. Sollte Georgien endgültig vom euro-atlantischen Kurs abkommen, wäre das nicht nur für die Europa-enthusiastische georgische Bevölkerung, sondern auch für das zunehmend nach Europa blickende Nachbarland Armenien katastrophal. Für die EU steht in Georgien somit auch geopolitisch viel auf dem Spiel: Eine faktische Integration Georgiens in den autoritären Block um China und Russland wäre ein erheblicher Rückschlag für die EU-Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik und würde eine weitere sicherheitspolitische Schwächung der östlichen Schwarzmeerregion bedeuten. 

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Stephan Malerius

Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus

stephan.malerius@kas.de +995322459112
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