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Justizreform in Israel

z Johannes Sosada

Die Knesset verabschiedet gegen massiven Widerstand ein Kernelement der umstrittenen Justizreform

Am 24. Juli hat die rechte Koalitionsregierung unter Führung Benjamin Netanyahus geschlossen mit 64 Stimmen für die Abschaffung der sogenannten „reasonableness clause“ („Angemessenheitsklausel“) gestimmt. Bisher erlaubte es die Klausel dem Gericht, Entscheidungen der Regierung oder auch die Ernennung von Ministern als „unangemessen“ zu deklarieren und so zu verhindern. Die Opposition boykottierte die Abstimmung und verließ unter lautstarken Protesten den Sitzungssaal – die Abstimmung ging symbolisch mit 64:0 aus. Das nun verabschiedete Gesetz, das ein Kernelement der umstrittenen Justizreform ist, schränkt die Handlungsmöglichkeiten des israelischen Obersten Gerichts ein.

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Kontext der Justizreform

Das nun beschlossene Gesetz zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel ist dabei im größeren Kontext der von der Regierung Netanyahus vorangetriebenen Justizreform zu sehen. Netanyahus Justizminister Yariv Levin hatte bereits bei seinem Regierungsantritt deutlich gemacht, dass er einen umfassenden Umbau und eine weitreichende Einschränkung der Kompetenzen des Obersten Gerichts anstrebt. Bereits die Ankündigung der Vorhaben löste in der israelischen Gesellschaft starken Widerstand aus. Seit Regierungsantritt im Dezember 2022 protestieren wöchentlich tausende Israelis gegen die geplanten Vorhaben. Ein erster Teil der Reform, nämlich die Verabschiedung der sogenannten „override clause“, scheiterte an diesem Widerstand. Dieses Gesetzvorhaben hätte es der Regierung ermöglicht, Entscheidungen des Obersten Gerichtes mit einer einfachen Parlamentsmehrheit von 61 Stimmen (Netanyahus Koalitionsregierung verfügt insgesamt über 64 Stimmen) zu überstimmen. Nachdem Netanyahu seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant, der sich gegen das Gesetzesvorhaben aussprach, entließ, sah er sich wenige Tage später aufgrund massiver Proteste dazu gezwungen, diesen wiedereinzusetzen und das geplante Gesetz zu vertagen. Itamar Ben-Gvir, der Vorsitzende von Netanyahus ultrarechtem Koalitionspartner „Jüdische Stärke“ und Minister für Nationale Sicherheit, erhielt als Zugeständnis die Erlaubnis zur Bildung einer ihm unterstehenden Nationalgarde.

In den folgenden Wochen kristallisierte sich heraus, dass es sich bei der angekündigten Vertagung tatsächlich nur um einen kurzfristigen Aufschub handelte und die Reform als Ganzes nicht längerfristig auf Eis gelegt wurde. Entsprechend sorgte bereits die erste Lesung des Gesetzes zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel vor knapp zwei Wochen dafür, dass sich die Proteste weiter verschärften. In mehreren Marathonsitzungen wurde das Gesetz anschließend dennoch durch den Justizausschuss für die zweite und dritte Lesung vorbereitet. Mit der nun erfolgten Verabschiedung der Abschaffung der Angemessenheitsklausel bestätigt sich die Befürchtung von Kritikern der Reform, dass die knappe Zeit vor der Parlamentspause von der Regierung genutzt wurde, entsprechende Gesetzesvorhaben weiter voranzutreiben.

 

Proteste in Jerusalem

Als Reaktion auf das Voranschreiten des Gesetzgebungsprozesses riefen Gegner der Reformvorhaben zu einem „Tag des Widerstandes“ auf. Tausende Menschen demonstrierten täglich in israelischen Metropolen. Demonstranten blockierten zentrale Verkehrsknotenpunkte wie den Ayalon-Highway oder den Internationalen Flughafen in Tel-Aviv. In der letzten Woche starteten Demonstranten bei Temperaturen um die 40 Grad einen Protestmarsch von Tel Aviv in das über 60 Kilometer entfernte Jerusalem. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Marsch über die Autobahn 1, eine von Israels Hauptverkehrsadern, an. Nachdem der Protestmarsch mit über 70.000 Teilnehmern am Samstagvormittag (22. Juli) die Stadt erreichte, verlagerte sich der landesweite Protest, der sonst mehrheitlich in Tel Aviv stattfand, immer mehr nach Jerusalem. In unmittelbarer Nähe zur Knesset, im Sacher-Park, wurde ein Protestcamp mit hunderten Zelten errichtet. Am Sonntagvormittag (23. Juli) bildeten Demonstranten eine Menschenkette von der Klagemauer im Zentrum der Altstadt bis zur Knesset. Benny Gantz, der Vorsitzende einer der stärksten Oppositionsparteien und ehemaliger Verteidigungsminister, stieß zu den Protestierenden und betete mit ihnen gemeinsam an der Klagemauer. Oppositionsführer und ehemaliger Premierminister Yair Lapid besprach sich mit dem Vorsitzenden der Histadtrut – Israels größter und einflussreichster Gewerkschaft die rund 800.000 Beschäftige vertritt – um auf einen Generalstreik hinzuwirken. Am Sonntagabend sprach auch Reuven Rivlin, ehemaliger Staatspräsident und Mitglied von Netanyahus Regierungspartei Likud, bei der Hauptdemonstration vor dem Knessetgebäude und warnte: „Wir haben 24 Stunden, um das Land zu retten“. Eine Vielzahl weiterer (ehemaliger) israelischer Politiker und Offizieller äußerten ihre Unterstützung für die Proteste und riefen Netanyahu dazu auf, das Gesetzesvorhaben zu pausieren und auf einen Kompromiss hinzuwirken. Staatspräsident Jitzak Herzog – die letzten Tage noch auf Staatsbesuch in den USA – trat umgehend seinen Rückflug an, um in den letzten Stunden vor dem umstrittenen Votum bei Netanyahu, wie auch der Opposition, auf einen Kompromiss hinzuwirken. Mit diesen Ereignissen wurde besonders deutlich, wie gespalten die israelische Gesellschaft ist und wie verhärtet die Fronten sind: Nicht nur scheiterten sämtliche Kompromissbemühungen, sondern es demonstrierten auch tausende Befürworter der Justizreform. Während die Gegner der Reform nach Jerusalem strömten, um vor der Knesset zu protestieren, versammelten sich die Befürworter der Reform in Tel Aviv, genau dort, wo üblicherweise samstags die Proteste gegen die Reform stattfinden.

 

Ignorierung von Sicherheitsinteressen

Frappierend ist, dass sogar das Thema Sicherheit, normalerweise ein in Israel über Gesellschaftsschichten und Parteigrenzen hinweg konsensfähiger Themenbereich, diesmal keine ausschlaggebende Rolle spielte. Wie bereits im März kündigten tausende Reservisten – darunter zahlreiche Piloten und Cyberexperten, die für Israels Sicherheit in der Region essenziell sind – an, im Falle der Weiterführung der Reformvorhaben nicht zu Reserveübungen anzutreten. Zahlreiche ehemalige Sicherheitsbeamte, darunter Generalstabschefs der Armee, Chefs des Mossad und des Inlandgeheimdienstes Schin Bet äußerten ihre Unterstützung für die Reservisten und verwiesen auf ihre Verantwortung für die israelische Demokratie. Der derzeitige Generalstabschef Herzi Halevi warnte vor drohenden Personalengpässen mit unabsehbaren Konsequenzen und appellierte an die Reservisten, ihren Dienst weiter anzutreten. Bis zuletzt wurde spekuliert, dass Verteidigungsminister Gallant erneut dafür sorgen könnte, dass es in letzter Sekunde noch zu einem Einlenken oder einem Kompromiss kommt. Während des Plenums in der Knesset sah man Gallant zwar mit Oppositionspolitikern wie auch mit Premierminister Netanyahu und Justizminister Levin aufgeregt diskutieren, er stimmte am Ende aber wie seine Parteikollegen für die Reform. Nach dem Votum verließ Netanyahu unmittelbar den Plenarsaal und Justizminister Levin war es, der zu den Abgeordneten der Koalitionsregierung sprach. Beobachter werteten das Verhalten Netanyahus dabei als weiteres Anzeichen, dass er zunehmend die Kontrolle über seine Koalition verliere. So kam es seit Regierungsantritt mehrfach zu Äußerungen oder Aktionen ultrarechter Koalitionspartner durch die sich Netanyahu zu öffentlichen Klar- bzw. Richtigstellungen gezwungen sah.[1]

Für die israelische Politik stellt das erfolgte Votum insofern eine neue Dimension dar, als das beim Thema Sicherheit meist ein parteiübergreifender Konsens herrscht, diese unter keinen Umständen aufs Spiel zu setzen. Mit der kompromisslosen Durchsetzung des Vorhabens wurden nun sämtliche geäußerten Befürchtungen und Warnungen in den Wind geschlagen und mit dieser Praxis gebrochen. Selbst Netanyahu, der in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft erfolgreich als „Beschützer Israels“ wahrgenommen wird, weigerte sich im Vorfeld der Abstimmung, vom Generalstabschef zur Sicherheitslage gebrieft zu werden. In iranischen Medien wurden das Votum und die Proteste bereits als „existenzielle Krise“ bezeichnet und ein sich anbahnender, „möglicher Bürgerkrieg“ gefeiert. Generalsekretär der Terrormiliz Hisbollah, Hassan Nasrallah, sprach vom „schlimmsten Tag in der Geschichte Israels“, welcher das Land auf „den Pfad des Verschwindens“ setze.

Von der Protestbewegung wurde das Knesset-Votum mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Frustration aufgenommen. Schockiert war man von der Vehemenz und Kompromisslosigkeit, mit der die Abstimmung durchgesetzt wurde. In den kommenden Tagen und Wochen wird es entscheidend sein, inwiefern die Proteste im Land auch über die Sommerpause des Parlaments hinweg anhalten, oder sich sogar noch weiter intensivieren. Oppositionsführer Lapid kündigte noch am Abend der Abstimmung an „We will not give up. We will not surrender“, am folgenden Tag traten weite Teile des Gesundheitssystems in den Streik. Die Histadrut verkündete sich weiterhin bzgl. eines landesweiten Generalstreikes zu beraten und zeitnah zu entscheiden. Inwieweit die Reservisten ihre Ankündigung wahrmachen und nicht zu ihren vorgesehenen Übungen antreten, wird sich in den kommenden Tagen herausstellen. Beim Obersten Gerichtshof wurden bereits zahlreiche Petitionen gegen das verabschiedete Gesetz eingelegt. Das Oberste Gericht könnte das Gesetz theoretisch für ungültig erklären, womit sich dann israelische Judikative und Exekutive konfrontativ gegenüberstünden. Israel stehen also weitere unruhige Wochen bevor. Daran, dass die Reformvorhaben mit der Abschaffung der Angemessenheitsklausel nicht abgeschlossen sind, besteht kein Zweifel mehr. Ben-Gvir tweetete nach dem Votum „Die Salatbar ist eröffnet“ und bezog sich damit auf einen vorherigen Tweet, wonach die Abschaffung der Angemessenheitsklausel nur der „Appetitanreger“ sei, die Hauptmahlzeit aber noch ausstehe.

 

Der Text wurde am 25. Juli 2023 fertiggestellt.

 

[1] So wurde bspw. im Februar, in Reaktion auf die Tötung zweier Israelis, die palästinensische Kleinstadt Huwara von radikalen Siedlern verwüstet und ein Palästinenser getötet. Der israelische Finanzminister Smotrich forderte die „Ausradierung“ der Stadt, was weltweit für Aufsehen und Kritik sorgte. Netanyahu war in der Folge mehrfach gezwungen daran zu appellieren, das Gesetz nicht in die eigenen Hände zu nehmen.

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