Das Jahr 2020 begann für Venezuela mit einem hoffnungsvolleren politischen und wirtschaftlichen Klima. Die Verminderung der Inflationsrate in den ersten beiden Monaten sowie die reelle, aber nicht legale, Dollarisierung des Landes sorgten bei der Bevölkerung teilweise für eine gefühlte wirtschaftliche Verbesserung. Führende Ökonomen warnten jedoch früh vor einer Dollar-Blase, die jeden Moment zu platzen drohe. Außerdem erreichte diese gefühlte Verbesserung nur einen kleinen Teil der Bevölkerung.
Durch diese vermeindliche wirtschaftliche Erholung verschoben sich jedoch die Priotäten in Teilen der Gesellschaft: Das Erwirtschaften von US-Dollar ersetze eine Weile den Kampf um demokratische Freiheiten und die Zurückerlangung der Demokratie. In der Hauptstadt Caracas sowie einigen Regionen des Landes schien sich endlich wieder eine Art “Normalität” einzustellen. Zudem führte die plötzliche Wiederverfügbarkeit von Wahren und die scheinbare wirtschaftliche Dynamik dazu, dass ein nicht unwesentlicher Anteil der Bevölkerung die tiefe Krise Venezuelas nicht zwingend mit dem Fehlen von demokratischen Freiheiten und dem Verlust der Demokratie verknüpfte. Eine mögliche Öffnung des Marktes schien dem Regime von Nicolás Maduro mehr Zeit einzuräumen, um den Machterhalt zu sichern.
So stabilisierten sich im Vergleich zu 2019, dem Jahr der gravierenden Energiekrise, zunächst die öffentlichen Dienstleistungen. Umfragen zeigten, dass sich die marode Energieversorgung gerade in der Hauptstadtregion Caracas und wichtigen Städten wie Valencia oder San Cristobal verbesserte. Große Teile des Landes verfügten nun zumindest über 4 bis 5 Stunden Strom am Tag, was eine geringfügige Verbesserung darstellte. In anderen Bereichen wie der Wasser-, Benzin- und Gasversorgung war jedoch keinerlei Besserung zu erkennen und blieben die allgemeinen Lebensbedingungen somit für einen Großteil der Venezolaner äußerst prekär.
Erwartungen zu hoch
Das politische Szenario konzentrierte sich im wesentlichen auf zwei Aspekte: (i) die internationale Reise von Interimspräsident Juan Guaidó und die damit verbundene Hoffnung auf eine neue Dynamik für einen baldigen politischen Machtwechsel sowie (ii) die mögliche Durchführung der Parlamentswahlen. Die Rückkehr Guaidós nach Venezuela war an große Hoffnungen, aber auch Illusionen gekoppelt. Gerade der Auftritt Guaidós mit Donald Trump in Washington erweckte große Erwartungen und einte die sonst oft zerstrittene Opposition. Die Venezolaner erhofften sich von Juan Guaidó eine klare und nachvollziehbare Road Map für den im Januar 2019 angekündigten Regimewechsel. Leider ließ sich auch nach Guaidós Rückkehr zunächst keine klare Strategie erkennen und stellte sich bei einem Großteil der Bevölkerung das Gefühl ein, dass er von der Reise zwar mit schönen Bildern jedoch ohne konkrete Ergebnisse zugekehrt sei.
Obwohl die Trump Regierung relativ zügig neue Sanktionen gegen die venezolanische Ölwirtschaft und somit gegen das Regime von Nicolás Maduro verhängte, waren viele Venezolaner skeptisch, ob diese nicht nur symbolisch zu werten seien. Trotz einer spürbaren Enttäuschung folgten viele Venezolaner Guaidós Aufruf am 10. März 2020, für die Wiedererlangung der vom Regime okupierten Nationalversammlung zu demonstrieren. Die Beteiligung im ganzen Land konnte als Erfolg verbucht werden. Viele Demonstranten vermissten allerdings auch an diesem Tag eine klare Strategie und so verlief die Demonstration nach wenigen Stunden im Sande. Am Nachmittag kehrten viele Anhänger der Opposition frustriert nach Hause zurück. Die von Beginn an zu hoch angesetzten Erwartungen haben nun zur Folge, dass sich viele Venezolaner aus der politischen Debatte zurückziehen.
Die humanitäre Krise verschärft sich durch COVID-19
Venezuela durchlebte die letzten 3 Jahre eine komplexe humanitäre Krise. Die jahrelang vernachlässigte marode Infrastruktur, das fast komplett zusammengebrochene Gesundheitssystem sowie die tiefgreifende Wirtschaftskrise machen Venezuela besonders anfällig in Zeiten von Corona und COVID-19. Für das Regime in Caracas sind die Auswirkungen einer hohen Infektionsrate nicht kontrollierbar und daher gefährlich. Wie andere autoritäre Regime in Entwicklungsländern hat das Regime in Caracas die Bedrohung erkannt und sehr früh und schnell das öffentliche Leben extrem eingeschränkt. So wurde bereits am 13. März der Ausnahmezustand verhängt. Das Regime war und ist sich bewusst, dass das Land in keinerlei Hinsicht auf eine Epidemie großen Ausmaßes vorbereitet ist. Die vollzogenen Maßnahmen wurden von Experten, aus gesundheitlichen Aspekten betrachtet, als richtig und notwendig eingeschätzt. Auch wenn es große Zweifel an der Richtigkeit der offiziellen Fallzahlen von COVID-19 in Venezuela gibt, ist das Land bisher von der großen Welle von Infektionen verschont geblieben. Dies ist jedoch nur eine Momentaufnahme und es ist davon auszugehen, dass die Epidemie Venezuela in den nächsten Wochen sehr hart treffen wird. Am 11. April verkündete Vizepräsidentin Delcy Rodríguez die Ankunft einer großen Lieferung von medizinischem Material aus China. Parallel hierzu wurde der Ausnahmezustand nun um weitere 30 Tage verlängert.
Die Pandemie ist für alle Länder Lateinamerikas und der Welt eine riesige Herausforderung. Für ein Land wie Venezuela, dass weltweit zu den Ländern mit der schlechtesten gesundheitlichen Versorgung zählt, bedeutet dies jedoch eine gravierende Verschärfung der bereits vorhandenen humanitären Krise. Die damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen sind ebenso verheerend. Laut Erhebungen der Nationalversammlung verfügen 88 Prozent der Bevölkerung über keinerlei Form von Ersparnissen und kann ein Großteil der Bevölkerung ihre Grundversorgung ohne tägliche Erwerbstätigkeit nicht sicherstellen. Auch auf einen erheblichen Teil der 4,9 Millionen venezolanischen Migranten, vor allem in den lateinamerikanischen Nachbarländern, wirkt sich die Corona-Krise sehr negativ aus. Viele haben bereits zuvor in ihren neuen “Heimatländern” in prekären Verhätnissen gelebt und im Zuge der Krise ihre Arbeitsplätze und damit ihr Einkommen sowie ihre neu gewonnene Existenz verloren. So ist eine kleine aber nicht unwichtige Rückwanderungswelle, vor allem aus Kolumbien, zu verzeichnen. Was sie in Venezuela erwartet, wissen die meisten nicht.
Zu der Verschlechterung der humanitären Situation durch die Ausbreitung von COVID-19 kommt in den letzten Wochen eine erneute spürbare Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen. Sah es am Anfang des Jahres zunächst nach einer Stabilisierung selbiger aus, zeigte sich im März und Anfang April, wie marode die Infrastruktur wirklich ist. Die regelmäßige Versorgung mit sauberem Trinkwasser erreicht zum jetzigen Zeitpunkt nur etwa 6 Prozent der Bevölkerung.
94 Prozent der Bevölkerung erhalten Trinkwasser nur in unregelmäßigen Abständen, in schlechter Qualität oder haben sogar seit mehr als 7 Tagen gar keinen Trinkwasserzugang. 90 Prozent der Bevölkerung leiden zudem unter Unterbrechungen beziehungsweise Ausfällen bei der Stromversorgung und 4 Prozent haben bereits seit 24 Stunden oder länger gar keinen Strom. Außerdem ist die Versorgung der Telekommunikationsunternehmen, vor allem Internet, zunehmend schlechter. All dies in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich laut Umfragen nur 12 Prozent der Bevölkerung die angeordnete, verpflichtende Quarantäne, also das Daheimbleiben, “leisten” können.[1]
Dazu kommt die akute Versorgungskrise von Benzin, die ohne Frage heute eines der größten Probleme darstellt. Vom einstigen Ölland hat sich Venezuela zu einem Land entwickelt, in dem 90 Prozent der Bevölkerung unregelmäßigen bis keinen Zugang zu Benzin haben. Dies wirkt sich ebenfalls gravierend auf die bereits vorhandende Versorgungskrise von Lebensmitteln aus. Hinzu kommt eine durch die Dollarisierung vorangetriebene Preisexplosion, die den Erwerb von Produkten des täglichen Grundbedarfs für viele Venezolaner kaum möglich macht.
Die oben beschriebenden Probleme gewinnen gerade in Zeiten einer Epidemie an Gewicht, da besonders die damit verbundene Unterernährung sowie das fast komplett zusammengebrochene Gesundheitssystem keinerlei Anlass zu der Hoffnung geben, dass mit einem glimpflichen Verlauf der Corona-Krise zu rechnen ist. Die Verschlimmerung der Versorgungslage hat jedoch nur sehr bedingt mit COVID-19 zu tun. Vielmehr ist sie das Resultat jahrelanger Korruption, der Vernachlässigung der Infrastruktur sowie der Aushöhlung der demokratischen Strukturen und Institutionen.
Die USA machen Druck
In Zeiten dieser Zuspitzung der politischen und humanitätren Krise wurde durch die US-Amerikanische Justiz ein Kofpgeld auf Nicolás Maduro in Höhe von 15 Millionen US-Dollar, als Anführer des “Cartel de los Soles”, ein hauptsächlich durch die venezolanischen Sicherheitskräfte betriebenes Drogennetzwerk, ausgesetzt. Neben Maduro wurden weitere führende Köpfe des Regimes in Caracas zur Fahndung ausgeschrieben. Eine Woche später kündigte President Trump die Mobilisierung von Kriegsschiffen in der Karibik an, um den Drogenverkehr aus Venezuela in Richtung USA zu stoppen.
Die Entscheidung der Trump Regierung kam zu diesem Zeitpunkt für viele überraschend. Befürworter sehen den Zeitpunkt dennoch korrekt gewählt, da das Regime in Caracas aufrgund der möglichen Folgen von COVID-19 intern unter enormen Druck steht. Andere Experten bewerteten die Androhung militärischer Maßnhamen während der Corona-Krise, die auch die USA schwer getroffen hat, als unpassend und vermuten einen innenpolitischen Schachzug zur Steigerung von Trumps Popularität, vor allem bei der großen Latino-Wählerschaft. Die Frage des Timing der Mobilisierung von Kriegsschiffen, während die US-Marine noch eine Woche zuvor mit dem Ausbruch von COVID-19 beschäftigt war, hat allerdings Zweifel an der Entschlossenheit Trumps generiert.
Es scheint jedoch kaum vorstellbar, dass eine Entscheidung diesen Ausmaßes rein innenpolitisch motiviert ist. So kann die Entscheidung auch als klares Zeichen der USA gewertet werden, weiter entschieden gegen das kriminelle Regime in Caracas vorzugehen. Nicht nur der US-Generalbundesanwalt William P. Barr sondern die gesamte Regierung machten deutlich, dass Nicolás Maduro und seine führenden Gefolgsleute eine essentielle Bedrohung für die Sicherheit der USA darstellen.
Direkt im Anschluss an die Verkündung der Anklage gegen Maduro präsentierte der US-Außenminister Mike Pompeo einen Plan für eine demokratische Transition in Venezuela. Einige der wichtigsten Punkte dieses Plans sind: die komplette Wiederherstellung der Befugnisse der von der Opposition dominierten, demokratisch gewählten Nationalversammlung; die Freilassung aller politischer Gefangener sowie die sofortige Einstellung von politisch motivierter Verfolgung; die Auflösung der illegitimen Verfassungsgebenden Versammlung; Bildung eines neuen von Opposition und Regime vereinbarten Nationalen Wahlrats sowie Obersten Gerichtshofs; Bildung eines neuen neutralen Staatsrats, dessen Generalsekretär vorrübergehend als Interimsstaatspräsident agiert; sowie die Bildung einer Wahrheitskommission zur Untersuchung der begangenen Menschrechtsverletzungen seit 1999.
Dieser von der USA eingeforderte Transitionsprozess soll schlussendlich zu freien und transparenten Parlaments- und Präsidentsschaftswahlen führen. Im Gegenzug zur Einhaltung und Erfüllung der oben genannten Bedingungen, stellten die USA eine Lockerung der von ihr erhobenen Sanktionen in Aussicht. Der erhöhte Druck hat das Regime in eine Defensivposition geführt. Ob die derzeit so wichtige Einigung zwischen Opposition und Regime über die Einfuhr der drigend benötigten humanitären Hilfe dadurch schneller erreicht wird, ist jedoch fraglich. Die Fronten sind verhärtet und das Regime in dieser Frage noch nicht zu Verhandlungen bereit. Es baut weiterhin auf die Unterstützung seiner Allierten, vor allem Russland und China.
Der Vorschlag der US-Regierung wurde von einer Vielzahl der Verbündeten der venezolanischen Opposiiton um Juan Guaidó akzeptiert. Mindestens 22 Länder, die Europäische Union sowie die Organisation der Amerikanischen Staaten begrüßten diesen US-amerikanischen Vorschlag. Dennoch wurden auch kristische Stimmen laut, die in der US-Initiative keine wirkliche Neuerung zum im letzten Jahr von Norwegen vorgeschlagenen Dialogprozess erkennen und ohne eine Einbindung der Verbündeten des Regimes – Kuba, Russland und China – wenig Chancen auf eine Einigung zwischen Regime und Opposition sehen.
Das Regime in Caracas lehnt den Vorschlag kategorisch ab und sieht in ihm einen interventionistischen Akt. Hier gilt anzumerken, dass dieser Vorschlag weder an Nicolás Maduro noch an seine engsten Verbündeten innerhalb des Regimes gerichtet ist. Eine demokratische Transition ist nur ohne Nicolás Maduro und seine Führungselite denkbar. Der Plan zielt vielmehr auf einen Bruch innerhalb des Regimes ab. Er richtet sich an verhandlungsbereite Meinungsführer des Chavismus, gewählte Abgeordnete der aktuellen Nationalversammlung , regionale Mandatsträger des Regimes sowie unzufriedene Militärs. Das Militär spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Die USA haben einen Teil der chavistischen Führungselite, darunter ranghohe Militärs bereits sanktioniert. Ziel ist es nach wie vor, mittlere sowie ranghohe Militärs gegen das Regime aufzubringen.
Der Machtkampf bleibt offen
Der Plan für eine geordnete Transition wurde umgehend durch die von der Opposition geführte demokratisch legitimierte Nationalversammlung ratifiziert sowie von einer breiten Mehrheit der demokratischen Opposition sowie einem Großteil der Bevölkerung unterstützt. Trotz dieser augenscheinlichen Einigkeit einer Mehrheit der Bevölkerung, ist das politische und soziale Klima aber weiterhin sehr angespannt und komplex.
Das Regime von Nicolás Maduro hat in Folge des US-amerikanischen Vorstoßes zur demokratischen Transition die politische Verfolgung verstärkt und kann aktuell im Rahmen der notwendig gewordenen Quarantänemaßnahmen aufgrund von COVID-19 ohne Widerstände aus Opposition und Bevölkerung regieren und Stärke zeigen. Die strengen Ausgangsperren, die durch die Sicherheitskräfte kontrolliert werden, und weitere Einschränkungen wichtiger Grundrechte, wie zum Beispiel der Versammlungsfreiheit, machen es für die Opposition noch schwieriger, sich Gehör zu verschaffen und aktiv Politik zu gestalten. Fast hat es den Anschein, dass die Interimsregierung von Juan Guaidó und andere Akteure der Opposition momentan das zukünftige Handeln der USA abwarten und alles auf die Karte eines Bruchs innerhalb des Regimes setzen, ohne aktiv die Unterstützung innerhalb der Bevölkerung zu suchen.
Wie auch in anderen Teilen der Welt, nutzt das autokratische Regime in Caracas die aktuelle Lage, um seine Macht auszuspielen und zu zementieren. In Venezuela zeigt sich, dass das sozialistische Regime weiterhin de facto die Staatsmacht innehat und die demokratische Opposition kaum über politischen Spielraum verfügt.
Das politische Panorama ist zum jetzigen Zeitpunkt mehr als unübersichtlich. Zudem fehlt der Opposition eine kohärente und klare Kommunikationsstrategie. So entsteht innerhalb der Bevölkerung ein gewisses Gefühl der Orientierungslosigkeit. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig und richtig, dass die Interimsregierung um Juan Guaidó gemeinsam mit ihren internationalen Verbündeten am Erfolg der Durchführung des Transitionsplans arbeitet und diesen vorantreibt. Denn es liegt nun an der venezolanischen Opposition die gewonnene internationale Unterstützung in nationalen Druck umzuwandeln und somit den Bruch innerhalb des Regimes voranzutreiben und den Weg für den wichtigen Transitionsprozess zu bereiten - auch in Zeiten von COVID-19 oder gerade deswegen.
[1] (Encuesta Nacional Impacto COVID-19, Kommission von Gesundheitsexperten für das Thema COVID-19 im Auftrag der venezolanischen Nationalversammlung)
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