Die Stadt Dresden steht wie kaum eine andere Stadt in der Bundesrepublik Deutschland für die emotional geführten Diskurse, welche über das Thema der aktiv gelebten Erinnerungskulturen geführt werden. Alljährlich kochen diese Konflikte rund um den 13. Februar hoch, trotz zahlreicher Initiativen in den vergangenen Jahren konnte kein einheitlicher Weg des Gedenkens gefunden werden. Vertreter der beiden Extrempunkte des politischen Lagers versuchen immer noch, die Geschichte zu instrumentalisieren, was die Entwicklung einer zukunftsorientierten Erinnerungskultur erschwert. Anlässlich des 75. Jahrestags der Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg hat sich das Bildungsforum Sachsen der Frage gewidmet, wie Gesellschaften in anderen Ländern mit historischen Brüchen und Selbstbeschädigungen der Gemeinschaften umgehen. Wie konnten dunkle Kapitel der Gewalt und Unsicherheit in der Geschichte eines Landes zielbringend aufgearbeitet werden, um eine gemeinsame Zukunftsgestaltung zu realisieren? Um diese Fragen zu beantworten, war es notwendig, die deutsche Perspektive zu verlassen und einen Blick über den Tellerrand zu wagen. In Zusammenarbeit mit der Stadt Dresden fand somit vom 14. bis zum 15. Februar der internationale Kongress „Schmerzhafte Erinnerung“ statt.
Eröffnet wurde der Kongress in der Unterkirche der Frauenkirche Dresden. Zunächst begrüßte Pfarrer Sebastian Feydt die Teilnehmer und knüpfte dabei an die Geschichte der Frauenkirche an, welche durch ihre Zerstörung untrennbar mit den Ereignissen des 13. Februar verknüpft ist. Im Anschluss richtete sich der Oberbürgermeister der Stadt Hiroshima, Kazumi Matsui, welcher zugleich Vorsitzender der Vereinigung „Mayors for Peace“ ist, in einer Videobotschaft an die Gäste. Nach der Zerstörung Hiroshimas war für die Überlebenden ein radikaler Neubeginn notwendig; die Erinnerung ist seither ein fester Bestandteil der Stadtgemeinschaft. Herr Matsui appellierte an Vertiefung der internationalen Freundschaft und die friedenssichernde Komponente einer geschichtsbewussten Zivilgesellschaft, welche die Städte weltweit verbinde. Nach weiteren Grußworten von Dirk Hilbert, dem Oberbürgermeister der Stadt Dresden, und Dr. Joachim Klose, dem Leiter des Bildungsforums Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung, fand eine Diskussion mit Vertretern der Dresdner Partnerstädte statt. Linda Bigham als Vertreterin der Stadt Coventry und Dr. Marek Mutor aus Breslau diskutierten gemeinsam mit Dirk Hilbert über die geteilte Geschichte der Städte, erfolgten Wegen der Versöhnung und Vertrauensfindung und zentralen Zukunftsaufgaben, welche aus dem Erbe der Geschichte entstanden.
Nach der Eröffnung in der Unterkirche fanden die ersten Programmpunkte des Kongresses im Plenarsaal des Rathauses in Dresden statt. Der erste Programmpunkt beschäftigte sich mit Prägefaktoren der Gewalt. Oftmals fungieren historische Akte der Gewalt als „Weichensteller der Geschichte“ und prägen die Entwicklung ganzer Gesellschaften und Länder auf Jahrzehnte hin. Vor diesem Hintergrund hielt Prof. Dr. Susan Neiman, Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, den Eröffnungsvortrag über die Auswirkungen des Bürgerkriegs in den USA, welche das Land noch heutzutage beschäftigen. Aktuelle politische Phänomene, wie die immer unverhohlener ans Licht tretende Fratze des Rassismus, welche in den schrecklichen Ereignissen von Charlottesville kumulierte, können nicht ohne den Rahmen der damaligen Ereignisse verstanden werden. Im Anschluss sprach Prof. Dr. Antoni Kapcia, Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Universität Nottingham, über die Legendenbildung rund um den Revolutionsführer Che Guevara in Kuba. In der darauf folgenden Diskussionsrunde legte sich der Fokus dann auch auf die Interaktion mit Mythen, welche meist parallel zur offiziellen Geschichtsschreibung entstehen, das gesellschaftliche Verhältnis und den gewünschten Umgang zu historisch fragwürdigen Denkmälern im Stadtbild sowie die Rolle der Historie in Aufarbeitungsprozessen.
Nach einer Pause drehte sich der zweite inhaltliche Themenkomplex um die „Entgrenzung der Gewalt“. Gewalt und Repression lassen nicht selten die Zügel der Zivilisation entgleiten; so kommt es zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche in ihrer Schwere und ihrem Ausmaß nur schwer vorstellbar, geschweige denn begreifbar sind. Zunächst wandte sich Neth Pheaktra, der Sprecher des Rote-Khmer-Tribunals in Kambodscha, mit einer Videobotschaft an die Gäste, bevor Prof. Dr. Hong Meng für die Diskussion der chinesischen Perspektive aus Peking live hinzugeschaltet wurde.
Zum Abschluss des ersten Tages beschäftigte sich der dritte Themenkomplex mit überindividuellen Folgen der Gewalt, dem „Leid Dritter“. Erlittene Gewalttaten treffen zumeist den Nerv der Gesellschaft, da auch die Angehörigen der Opfer unmittelbar davon betroffen sind. Aus dem Leid des Einzelnen wird das Leid der Vielen. Hierzu sprachen 4 Referenten aus lateinamerikanischen Ländern, in denen diesen Phänomen besonders schmerzhaft spürbar wurde. Den Beginn machte Mariana Aylwín, die ehemalige Bildungsministerin Chiles, welche über die Menschenrechtsverletzungen zu der Zeit des Pinochet-Regimes sprach. Ihr schloss sich Marisol Perez Tello, die Generalsekretärin der Christlichen Volkspartei und ehemalige Justizministerin in Peru an, welche über die Verbrechen der Terrororganisation „Leuchtender Pfad“ berichtete. Außerdem sprach Rodrigo Lara Restrepo, Senator aus Kolumbien, über den stockenden Friedensprozess in seinem Land sowie die nicht zur Ruhe kommen wollende Geschichte der Gewalt von Drogenkartellen, Guerillas und paramilitärischen Einheiten. Die Runde wurde komplettiert von Norma Morandini aus Argentinien, welche die Geschichte der „Madres de Plaza de Mayo“ schilderte, einer Organisation argentinischer Mütter, welche gegen die Militärdiktatur demonstrierten, nachdem ihre Kinder, größtenteils Studenten, verschleppt wurden und deren Schicksal teilweise heute noch ungeklärt ist. In der anschließenden Diskussion wurden zentrale Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts debattiert: Was macht die Zivilisation aus und wie kann diese vor langfristigen Nachwirkungen erlebter Gewaltgeschichten befreit werden? Wie können Menschenrechte weltweit besser durchgesetzt und beschützt werden? Wer oder was kann gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften? Was sind die Grenzen und Hürden der Zivilgesellschaft und zwischenmenschlichen Engagements?
Der Kongress wurde am Folgetag mit dem vierten Themenkomplex fortgesetzt, welcher sich mit den Kosten politischer Ordnung und dem Nexus aus Gewalt und staatlicher Stabilität beschäftigte. Der Einsatz staatlicher Gewalt bringt oftmals nicht die von den Autokraten erhoffte Stabilität, sondern verschlimmert die Situation regelmäßig, was zu einer Spirale und Eskalation der Gewalt führt. Zu Beginn sprach Robert Latypov, Leiter der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL im russischen Perm, über die misslungene Aufarbeitung der Stalin-Diktatur und politische Instrumentalisierung und Verklärung der Geschichte. Er berichtete, wie mutige Aktivisten trotz staatlicher Repressionen für eine faktenorientierte Erinnerungskultur eintreten. Nach diesem Beitrag schloss sich der Schriftsteller und Moderator Amir Kamber mit einer bewegenden Schilderung der Ereignisse an, die er und seine Familie während des Bosnienkrieges und der Vertreibung aus ihrer Heimat Prijedor im Nordosten Bosniens erlebten. Der Verlust der Heimat ist ein tiefgreifendes Trauma, welches viele Vertriebene und ihre Familien noch heute beschäftigt, weswegen der Zugriff auf die Erinnerungen für die Bewältigung dieser Erlebnisse von zentraler Unverzichtbarkeit ist. Als dritte Rednerin beschäftigte sich Dr. Katy Hayward, Soziologin an der Universität Belfast, mit den Auswirkungen der gesellschaftlichen Gewalt während des Nordirlandkonfliktes und der Frage, ob und wie dieser Konflikt im Angesicht des Brexits erneut eskalieren könnte. Zusammen mit den drei Referenten wurden in der anschließenden Diskussion aktuelle erinnerungspolitische Fragen besprochen, zum Beispiel anhand der Zukunft Nordirlands, dem historischen Erbe und den rivalisierenden Identitäten Russlands sowie dem Kampf gegen das Vergessen in Bosnien.
Der finale Block wandte den Blick nach Afrika, um sich mit Ländern zu beschäftigen, in denen Ansätze einer gelungenen Aufarbeitung von erlebter Gewaltgeschichte erkennbar sind. Schließlich sind Aufarbeitungsprozesse mühselige Unterfangen ohne Garantie des Gelingens. Umso wichtiger ist es, dass getroffene Vereinbarung der gesellschaftlichen Akteure ihrerseits den Test der Zeit bestehen, um eine langfristige Befriedung des Konfliktes zu gewährleisten. Zunächst stellte Stanley Henkeman, der Direktor des „Institute for Justice and Reconciliation“ in Südafrika, die gesellschaftlichen Prozesse vor, welche sein Land nach dem Ende der Apartheid, angetrieben von Nelson Mandela, durchlebte. Dabei beleuchtete er das Vermächtnis Mandelas ebenso wie die Schwierigkeiten der jungen Generation, einen Zugangspunkt zu diesen Prozessen zu finden. Unterm Strich beschrieb er jedoch einen positiven Trend bei der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Landesgeschichte. Anders gestaltet sich die Situation in Ruanda, wie uns die Journalistin Sheila Kawamara berichtete. Dort seien die Wunden der Gewalt zwischen Tutsi und Hutu noch nicht vollständig verheilt, sondern wurden bislang nur oberflächlich befriedet. Diese Beobachtung war dann auch Gegenstand der gemeinsamen Diskussion: Wie kann zwischen ehemals verfeindeten Bevölkerungsschichten vermittelt werden, um Aufarbeitungsprozesse zu unterstützen und eine gemeinsame Zukunftsgestaltung zu fördern? Welche Rolle kann die internationale Gemeinschaft dabei einnehmen? Und welche Rolle kommt insbesondere der jungen Generation dabei zu, auch wenn diese aufgrund der historischen Distanz einen anderen Bezugspunkt zu den Konflikten haben?
Die Auswertung und abschließende Diskussion des Kongresses fand direkt im Anschluss im Rahmen des Abschlusspanels statt. Der polnische Historiker Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej formulierte zunächst 10 Thesen, entlang derer die Ergebnisse des Kongresses diskutiert werden können. In der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass eine gemeinsame, gar globale, Erinnerungskultur, unfassbar voraussetzungsreich ist, da sie allen Beteiligten ein ungeheures Maß an Wissen voraussetzt. Dennoch lautete der Konsens der Teilnehmer, wären zahlreiche emotionale und emphatische Anknüpfungspunkte zu spüren, welche die Gäste auch insbesondere während ihres Besuches in Dresden und der Beiträge des Kongresses wahrnehmen konnten. Gemeinsam mit dem Publikum wurde versucht, Strategien für anknüpfendes Handeln zu formulieren, mit dem die gewonnenen Einsichten weiterverfolgt werden können, u.a. durch Dialog, Vernetzung und Wissenstransfers. Obwohl die unterschiedlichen Gesellschaften weltweit durch diverse historische Konflikte geprägt sind, bieten sich dennoch zahlreiche Möglichkeiten der internationalen Kooperation, um aus den Erfahrungen der Vergangenheit eine gemeinsame Zukunftsgestaltung zu realisieren, so der weitreichende Konsens.
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