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Technokraten ante portas!

de Prof. Dr. Clemens Albrecht

Serie: „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“ (6)

Bildungsmanager, Marketing-Experten und Bürokraten bedrohen die freie Forschung und Lehre. Die Universität verspielt ihre Zukunft, wenn sie sich nicht auf ihren Ursprung und ihre Werte besinnt. Ein Aufruf zum Widerstand

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Die Geisteswissenschaften sind ein historisch junges Phänomen, eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts.

Natürlich gab es lange vorher die Beschäftigung mit Philosophie, Geschichte, Literatur

und fremden Völkern, aber erst als diese humanistischen Kunstlehren im

Fächerkanon der Universitäten eine institutionelle Form und den ständigen

Austausch gefunden hatten, entwickelten sie ihre zentrale Rolle bei der

Entstehung dessen, was wir heute als „moderne Welt" bezeichnen. Während die

Naturwissenschaften durch technische Anwendungen das Leben in seiner

praktischen Gestalt revolutionierten, lösten die Geisteswissenschaften die

ideellen Bindungen, indem sie die Welt in ihrem geschichtlichsozialen

Gewordensein erklärten.

Diese umfassende Relativierung aller Bereiche, der sozialen Ordnungen wie

der Religion, der Ästhetik wie des Rechts, machte die Menschen überhaupt

erst disponibel für eine veränderte soziale Wirklichkeit, machte sie fähig,

die Welt nicht mehr als eine Ordnung zu denken, die einmal gefunden werden

müsse, sondern sie als ständige Aufgabe zum Entwurf einer eigenen, einer

besseren Daseinsform zu begreifen. Die Fähigkeit, diese Aufgabe ergreifen

und gestalten zu können, wurde dem Einzelnen durch geisteswissenschaftliche

Bildung vermittelt.

Motor der Veränderung

So konnten die Geisteswissenschaften zur Bildungsmacht werden, die den

modernen Menschen nach dem Ausfall der alten sozialen Autoritäten befähigte,

die Entstehung der modernen Welt nicht nur als äußeren Sachzwang, sondern

als sinnhafte Aufgabe zu begreifen. Weil man den Geisteswissenschaften diese

Orientierungsfunktion zutraute und sich darauf verließ, dass sie gültige

Antworten für die Fragen der geschichtlich-sozialen Welt finden würden,

konnten sie die Erwartungen und Hoffnungen von Individuen und sozialen

Gruppen im Hinblick auf eine offene Zukunft wissenschaftlich kontrolliert

kanalisieren und damit als rationales Gegengewicht zur Eigendynamik sozialer

Bewegungen wirken.

Der spezifische europäische Sonderweg in die Säkularisierung und

Historisierung der eigenen Lebensformen, die institutionalisierte

Dauerreflexion (Helmut Schelsky) und letztlich die Fähigkeit zur

Selbstrelativierung sind wesentlich auf den Aufstieg der

Geisteswissenschaften zur europäischen Bildungsmacht im 19. Jahrhundert

zurückzuführen. Insofern begreift man die Rolle der Geisteswissenschaften

nicht, wenn man in ihnen nur die Kompensation eines

naturwissenschaftlich-technologischen Modernisierungsprozesses sieht, die

nacheilende Ideologieproduktion. Sie selbst waren ein Motor dieses

Prozesses, weil sie zur Reflexion auf den Anwendungsrahmen und den Sinn von

Technologien drangen, die alte Wirklichkeit als veraltet reflektierten und

den Blick fürs Neue freimachten. Die naturwissenschaftlichen und

technologischen Innovationen wurden damit nicht nur einer tradierten

Gesellschaft aufgepfropft, sondern als Teil eines umfassenden, auch Ideen,

soziale Strukturen und Mentalitäten integrierenden Veränderungsprozesses von

historischer Dimension verstanden.

Diese Leistungen konnten sich allerdings nur in dem historisch kontingenten

Gebilde „Geisteswissenschaften" verdichten, weil sie an den Universitäten in

der Humboldtschen Reform ihre spezifische institutionelle Gestalt fanden,

deren einzelne Elemente - Universitas, Autonomie und Bildung – oft

beschrieben wurden.

Die zentrale These lautet: Die Geisteswissenschaften haben keine Zukunft.

Sie sind historisch hervorgegangen aus einer Phase der institutionellen,

ideellen und sozialstrukturellen Ausdifferenzierung des Funktionssystems

Wissenschaft. Gegenwärtig erleben wir eine erneute Phase der

Entdifferenzierung, der Rückbindung an gesellschaftliche Interessen, die

sich institutionell als Übertragung ökonomischer Steuerungsmechanismen in

die Wissenschaft darstellt. Übrig bleiben werden nicht die

Geisteswissenschaften als Institution, sondern einzelne Fächer, die sich zu

berufspraktischen Kunstlehren ohne weiterführende intellektuelle Interessen

rückbilden (Lehrerbildung, Jura) und ihren fachspezifischen

Erkenntnisfortschritt als „Trivialisierungsprozess" (Friedrich Tenbrock)

vorantreiben.

Die Substanz schwindet

Daneben hält man sich ein paar Experten für dieses oder jenes Spezialgebiet,

das nach den Relevanzimpressionen momentaner Situationslogiken ausgebaut

oder beschnitten wird (heute der Fündamentalismus, also fördern wir die

Islamwissenschaft; morgen die Klimakatastrophe, also lenken wir das Geld in

die Öko-Soziologie um). Im Einzelnen heißt das:

1. Universitas: Heute wird

an die Universitäten die Forderung herangetragen, sich ein „Profil"

zuzulegen. Praktisch bedeutet dies eine Fächerkonzentration, die oft auf

Kosten der Geisteswissenschaften die drittmittelstarken Fächer bevorzugt,

von denen man sich eine direkte Umsetzung ihrer Erkenntnisse in ökonomische

Wertschöpfung erhofft (Biowissenschaften). Selbst wo diese Umschichtung, die

in den letzten Jahren an allen Universitäten die Strategiekommissionen

beschäftigt hat, innerhalb der Natur- oder Geisteswissenschaften verläuft,

betrifft sie doch häufig die kleinen „Orchideenfächer", konzentriert also

die personellen Kapazitäten auf bestimmte Schwerpunkte (Lehrerbildung,

Technikbegleitung, . Globalisierungsforschung et cetera).

Verschärfend kommt hinzu, dass die kleinen Fächer in den neuen konsekutiven

Studiengängen nicht die Kapazitäten für einen eigenen Studiengang haben und

die Magister-Nebenfächer fortgefallen sind. Sie können institutionell nur

überleben, indem sie sich als Zulieferer an hybriden Studiengängen

beteiligen (die allüberall entstehenden „kulturwissenschaftlichen"

BA/MA-Studiengänge), was zum Schisma zwischen fachlicher Identität,

Nachwuchsrekrutierung und der Lehre führt, weil die wissenschaftlichen

Fachgesellschaften nach wie vor die Karrieremuster bestimmen. Überall leidet

also die Universitas, es schwindet die Substanz der Geisteswissenschaften,

und die Interdisziplinarität,' die als Substitut verordnet wird, ist ein

schwacher Ersatz, weil sie nicht durch die kollegiale Verpflichtung

innerhalb der Institution vor Ort gestützt wird. Interdisziplinarität

reduziert sich unter diesen Bedingungen auf die Koordination von

Forschungsanträgen.

2. Autonomie: Während früher die Freiheit des Wissenschaftlers in der

autonomen Wahl seines Gegenstandes bestand, dominieren heute die sozialen

Zwänge der Forschungsprogramme, Drittmittelverbünde, Graduiertenkollegs und

Exzellenzdüster. Helmut Schelsky nannte das den Arbeits- und

Betriebscharakter der modernen Wissenschaft. Damit entsteht ein neuer Typus

in der Wissenschaft, der außengeleitete Charakter, der sich beweglich an die

jeweils dominierenden Interessen anhängt, auf die Ausschreibung von

Forschungsprogrammen reagiert und sich in die Anträge von Kollegen einbinden

lässt, die er selbst nie initiiert hätte. Intrinsische Motivation, Beharren

auf den eigenen Interessen, wird in dieser Forschung dysfunktional.

Dem außengeleiteten Typ, dem Wissenschaftsmanager, aus Karrieregründen,

entzieht die Gesellschaft zu Recht das Vertrauen, die innerwissenschaftliche

Kontrolle der Reputation wird ersetzt durch neue, formalisierte Formen der

sozialen Kontrolle, durch Evaluation und Qualitätssicherung, die sich als

bürokratische Apparate wiederum verselbstständigen. Die „Autonomie", die die

Institution Universität gegenüber den Ministerien erhalten hat, wird doppelt

eingeschränkt durch ein dichtes Netz an sozialer Kontrolle, mit dem

ausgelagerte Institutionen (Akkreditierungsagenturen, Evaluationsund

Qualitätssicherungsorganisationen) die Wissenschaft überziehen. Beantwortet

wird die Kontrolle durch einen klugen Umgang mit ihren Mechanismen, durch

potemkirische Fassaden und durch Gegenstrategien. So wie Vertrauen

Verantwortung erzeugt, so gebiert strukturelles Misstrauen Korruption.

Deshalb ist heute die Stunde der Ethikkommissionen und Gerichte angebrochen.

Spannend zu beobachten, wie lange unsere Gesellschaft ihre

Innovationsdynamik ohne die weit ausgreifende, weil phantasie-, nicht

interessengebundene Motivstruktur zur Forschung noch durchhält, während die

extrinsischen Anreize auf Dauer nur das duplizieren und ausdifferenzieren,

was ohnehin im Gespräch ist: der Drittmittelfolgeantrag als geistige

Struktur. Auf der Seite der Studierenden aber wird die intellektuelle

Autonomie durch „berufspraktische Anforderungen" beseitigt, was meist zu

einer strukturellen Verspätung der Kompetenzen führt: Bis die

„berufsbezogenen Qualifikationen" in die universitären Curricula

eingewandert und in einem Ausbildungsjahrgang realisiert sind, werden in

einer sich technologisch und sozial rasant entwickelnden Wirtschaft längst

andere Qualifikationen verlangt.

3. Bindung: Die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge führen zu einer

weitreichenden Entkoppelung von Lehre und Forschung, weil sie in den

Modulhandbüchern eine detaillierte Festschreibung der Lehre auf lange Zeit

fordern. Diese inhaltliche Festschreibung führt dazu, dass Dozenten ihre

Forschungsinteressen nicht mehr kurzfristig in Lehre umsetzen können,

Studierende durch vollgeschriebene Stundenpläne ihren intellektuellen

Interessen nicht mehr nachgehen können.

Die Verschulung, also die regelmäßige Wiederholung eines festgelegten

Stoffes, führt zu einer Verschlechterung der Lehre, die dann wiederum durch

didaktische Aufrüstung und Dauerkontrolle kompensiert werden muss. Auf

beiden Seiten wird also die intrinsische Motivation zur Wissenschaft

abgebaut und durch soziale Kontrolle (Prüfung und Lehrevalvation) ersetzt.

Wo dagegen die Lehre im kontinuierlichen und personalen Austausch

stattfindet, ist weder Prüfung noch Evaluation erforderlich, Forderung und

Förderung geben sich die Hand.

Themen statt Projekte

In der Summe zeigt sich, dass die aktuelle Entwicklung an den Universitäten

durch die Zerschlagung der Universitas, die Entdifferenzierung der

Wissenschaft und die Formalisierung der sozialen Bindung das Ende des

Zeitalters der Geisteswissenschaften eingeläutet hat. Die Barbaren vor den

Toren der Wissenschaft sind keine Germanen mit Bärenfell und Keule, sondern

die grauen Damen und Herren mit ihren Evaluationsbögen,

New-Public-Management-Konzepten und Teaching-Points.

Sie leiten durch ihre technokratischen Einheitskonzepte und den

institutionalisierten internationalen Vergleich (die Anpassung an das, was

andere auch machen) eine Phase der Entdifferenzierung ein, von der wir noch

nicht wissen, wann sie zu Ende sein wird. Ähnlich, wie die geistigen

Errungenschaften der Antike in der wirren Zeit nach dem Untergang des

Römischen Reiches in kleinen Mönchsgemeinschaften überlebt haben, müssen wir

heute innerhalb und außerhalb der Universitäten wieder Gemeinschaften

bilden, die das Reflexionsniveau der Geisteswissenschaften erhalten.

Aus ihnen kann eine neue Möglichkeit zur Verbesserung des Lebens erwachsen,

sollten die Barbarenstürme aus Fundamentalismus und Bildungstechnokratie

vorübergegangen sein. Diese Gemeinschaften müssen einem strengen Ethos der

Wissenschaft verpflichtet sein, um das Erbe der Geisteswissenschaften gegen

die übermächtige Wirklichkeit aus sozialer Anpassung, Nützlichkeits- und

Verwertungsdruck zu behaupten. Dieses Ethos könnte in folgendem Katechismus

seinen ersten Ausdruck finden:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  • Diene der Wissenschaft, nicht ihrem Marketing!
  • Betrachte die Wissenschaft als Lebensform, nicht als Job!
  • Folge deinem Interesse, nicht den Ausschreibungen!
  • Erforsche Themen, nicht Projekte!
  • Arbeite an deinem Buch, nicht an verschiedenen Publikationen!
  • Werde klassisch, nicht exzellent!
  • Lasse dich rezensieren, nicht evaluieren!
  • Sichere Qualität, nicht Qualitätssicherung!
  • Lehre Inhalte, nicht Kompetenzen!
  • Bilde Schüler aus, nicht Nachwuchs!
Autor des Textes ist der Soziologe Clemens Albrecht von der Universität Koblenz/Landau

 

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Editor

Prof. Günther Rüther und Prof. Jörg-Dieter Gauger

verlag

Herder

ISBN

978-3-451-29

erscheinungsort

Berlin Deutschland