Fragmentierung, Systemstillstand und Machtkalkül - Israel im Dauerwahlkampf
Lange hat die Koalition zwischen Benny Gantz‘ Wahlbündnis Kachol Lavan („Blau Weiß“) und Benjamin Netanjahus Likud nicht gehalten. Am 22. Dezember 2020 löste sich die Knesset auf, nachdem sich die Koalitionäre nach nur acht Monaten im Amt nicht auf einen Haushalt einigen konnten. Der Koalitionsvertrag sah eine Rotation im Amt des Premierministers vor. Demnach sollte Benny Gantz das Amt des Premierministers im November 2021 übernehmen. Zur Absicherung dieser Vereinbarung wurde die Verabschiedung eines Doppelhaushalts für 2020/21 beschlossen, damit Gantz als Regierungschef über eine finanzielle Grundlage verfügen kann. Netanjahu, der diese Vereinbarung von Beginn an hintertrieb, kündigte diese Abmachung nun vorgeblich wegen der Corona-Krise auf. Damit kam es zum für viele Beobachter vorhersehbaren Bruch der Koalition.
Israel steuert damit auf die vierten Neuwahlen innerhalb von zwei Jahren zu. Nach erfolglosen Versuchen einer Regierungsbildung nach den Wahlen im April und September 2019 konnte auch die Regierung, die im März 2020 gebildet wurde, nicht lange halten. Sie war überhaupt nur zustande gekommen, weil Gantz von seinem im Wahlkampf geäußerten Vorsatz abwich, nicht mit Netanjahu zu koalieren. Als Grund nannte er die Notwendigkeit einer breiten politischen Front zur Bewältigung der Corona-Krise. Allerdings war das Verhältnis zwischen beiden Koalitionären von Anfang an von Misstrauen und Geringschätzung geprägt. Für Netanjahu bestand in Benny Gantz lange Zeit ein ernstzunehmender Konkurrent, dessen er sich politisch entledigen wollte.
Aktuellen Umfragen zufolge dürften elf oder zwölf Fraktionen in der nächsten Knesset vertreten sein, die aus verschiedenen Parteien, Allianzen und Wahlbündnissen bestehen. Regierungskoalitionen vereinen in Israel nicht selten fünf oder mehr Fraktionen. Dadurch wird die Konsensfindung erschwert, Klientelinteressen können an Übergewicht gewinnen und nicht selten führen kurzfristige machttaktische Überlegungen einzelner Akteure zur Aufkündigung von Koalitionen. Damit einher geht auch ein Personalisierungstrend in der politischen Auseinandersetzung, der sich u.a. in häufigen Parteineugründungen, -abspaltungen und Wiedereingliederungen widerspiegelt. Die Konfliktlinien, die die politische Landschaft Israels prägen, scheinen aktuell von der Frage überlagert zu sein, welche Position die Gruppen und ihre Leader zu Benjamin Netanjahu einnehmen. Wie schon in der Vergangenheit, so werden auch künftige Koalitionsverhandlungen besonders dadurch erschwert, dass voraussichtlich ein Patt zwischen den Pro- und Anti-Netanjahu-Kräften herrschen wird. Das erhöht die Verhandlungsmacht der Kleinst- und Splitterparteien. Im Anti-Netanjahu-Block hat sich mit Gideon Sa’ars Neue Hoffnung ein Bündnis formiert, das eine nächste Amtszeit Netanjahus mit aller Kraft verhindern will. Sa’ar versucht allerdings nicht, Wähler aus dem linken Lager oder der politischen Mitte zu gewinnen, sondern konkurriert mit dem Likud um dieselbe Klientel.
Neue Kraft im rechten Lager
Zwei Mal wirkte Sa’ar in einer von Netanjahu geführten Regierung. Schon vor Bekanntgabe der Neugründung einer eigenen Partei im Dezember 2020 galt er als starker parteiinterner Gegner Netanjahus. Sa’ar beklagte vor allem den zunehmenden Personenkult um Netanjahu innerhalb des Likud sowie die Diffamierung politischer Gegner. Darüber hinaus würde die Partei zur Durchsetzung der Interessen des Premierministers instrumentalisiert, insbesondere hinsichtlich des Korruptionsverfahrens, das gegen Netanjahu läuft.
Netanjahu muss sich vor Gericht wegen des Verdachts von Veruntreuung, Bestechlichkeit und Betrug verantworten. Die Anschuldigungen gegen ihn wies er bei der ersten gerichtlichen Anhörung Anfang Februar als „lächerlich“ zurück. Der Prozess spielt Umfragen zufolge für die Wahlentscheidung der Israelis allerdings eine nachrangige Rolle.
In politischen Fragen steht Sa’ar rechts von Netanjahu. Wie dieser lehnt er eine Zwei-Staaten-Lösung im Konflikt mit den Palästinensern ab, spricht sich aber entschiedener für eine Annexion großer Teile des Westjordanlands aus. Der Unterschied zur Kampagne von Benny Gantz besteht darin, dass Sa’ar mit Netanjahu um dessen Stammwählerschaft im rechten politischen Spektrum konkurriert. Damit macht sich Sa’ar anschlussfähig an nationalreligiöse und ultraorthodoxe Parteien, die bislang zum Pro-Netanjahu-Block gehören. Sa’ars Neue Hoffnung steht in den Umfragen allerdings mit nur 14 von 120 Sitzen hinter dem Likud, der derzeit auf 28 Sitze kommt und müsste sich demnach mit der Rolle einer von Yair Lapid geführten Regierung begnügen und könnte deswegen auch nicht den Block der Netanjahu-Gegner als potentieller Premier anführen.
Ein Kandidat der Mitte als neuer Premier?
In der politischen Mitte ist Yair Lapids Yesch Atid („Es gibt eine Zukunft“) in den Umfragen mit 19 Sitzen zweitstärkste Kraft nach dem Likud. In den vergangenen drei Wahlen trat Lapid Gantz‘ Bündnis Blau Weiß bei, kündigte es allerdings auf, nachdem sich Gantz der Regierung Netanjahu anschloss. Die Schwachstelle von Es gibt eine Zukunft dürften ihre säkularen Positionen sein, die mögliche Koalitionsverhandlungen etwa mit Nationalreligiösen als auch Ultraorthodoxen erschweren dürften. Naftali Bennett hat bereits gezielt diesen neuralgischen Punkt angegriffen und verkündet, keiner Koalition unter der Führung Lapids beizutreten.
Dessen rechtes Bündnis Jamina („Nach Rechts“), das er zusammen mit Ajelet Schaked anführt, dürfte in den kommenden Koalitionsverhandlungen wohl eine zentrale Rolle spielen. Beide gehörten einmal zum engeren Kreis um Netanjahu, verließen 2012 allerdings den Likud. Ausschlaggebend dürften persönliche Differenzen mit Netanjahu gewesen sein. Außerdem schienen für beide die Karrierechancen außerhalb des Likud attraktiver zu sein. Nach Rechts tritt für die vollständige Annexion der Westbank ein, in der die Palästinenser weiterhin kein Bürgerrecht hätten. Bennett und Schaked dürften zudem nicht vergessen haben, dass Netanjahu sie im Mai 2020 entgegen vorheriger Absprachen nicht mit in die Regierungskoalition geholt hat, sondern eine Regierung der „nationalen Einheit“ mit Blau Weiß bevorzugte. Nach Rechts kommt laut Umfragen auf etwa zwölf Sitze. Taktisch klug verhält sich das Bündnis insofern, als dass es sich bislang sowohl die Option offenhält, eine Regierung Netanjahu als auch eine Regierung seiner Gegner zu unterstützen. Die Verhandlungsposition von Nach Rechts wird dadurch gestärkt, dass sowohl Netanjahu als auch seine Gegner von den Stimmen der Partei abhängig sein werden.
Zu denjenigen im rechten Lager, die einer erneuten Amtszeit Netanjahus bereits eine Absage erteilt haben, zählt auch Avigdor Liebermann mit seiner Partei Israel Beitenu („Unser Haus Israel“). Anfang der 1990er-Jahre zählte auch Liebermann zum engeren Kreis um Netanjahu, verließ den Likud allerdings bereits 1997. Unser Haus Israel vertritt hauptsächlich die Interessen russischer Immigranten und nimmt Hardliner-Positionen in sicherheitspolitischen Fragen ein. Liebermann war mehrmals als Minister an einer von Netanjahu geführten Regierung beteiligt. Er war es auch, der mit seinem Koalitionsaustritt im März 2018 den bis heute andauernden Wahlmarathon mitverursachte. Beharrlich widersetzte sich Liebermann auch Netanjahus Werben um einen Regierungseintritt nach den drei letzten Wahlen. Neben dem Hauptstreitpunkt, dass Liebermann vehement für eine Ausweitung der Wehrpflicht auf Ultraorthodoxe eintritt, dürften auch machttaktische Gründe in Liebermanns Überlegungen eine Rolle spielen. Unser Haus Israel kommt in Umfragen auf etwa sieben Sitze.
Benny Gantz‘ Blau Weiß könnte mit fünf Sitzen knapp den Sprung über die 3,25%-Hürde schaffen. Bei den letzten Wahlen war Gantz noch der stärkste Herausforderer Netanjahus, verlor aber deutlich an Zustimmung, nachdem er der Regierung beitrat. Netanjahu vermochte es mit all seiner Erfahrung im politischen Ränkespiel, wichtige politische Entscheidungen wie beispielsweise das Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ohne seinen stellvertretenden Premier zu treffen und stellte ihn damit öffentlich bloß. Allerdings könnten die Stimmen von Blau Weiß für die Mehrheit gegen Netanjahu entscheidend sein. Verfehlt Blau Weiß den Einzug in die Knesset, könnte Netanjahu über eine langersehnte rechte Mehrheit ohne Beteiligung von Parteien der Mitte verfügen.
Neue linke Hoffnungsträgerin und arabische Außenseiter
Die Partei Awoda („Arbeit“), die jahrzehntelang die politische Landschaft Israels dominierte, scheint seit kurzem wieder Stimmen gewinnen zu können. Unter Führung der neuen Vorsitzenden Merav Michaeli erreicht die Partei in Umfragen nun etwa sieben Sitze. Bei den letzten Wahlen konnte sie lediglich drei Sitze gewinnen und schloss sich mit der linksliberalen Meretz zu einer Fraktion zusammen. Die politische Linke in Israel wird hauptsächlich für das Scheitern des Friedensprozesses mit den Palästinensern verantwortlich gemacht. Außerdem rechnet man ihr weniger sicherheitspolitische Kompetenz zu – ein Schlüsselthema bei Wahlen in Israel. Aktuellen Umfragen zufolge wird Meretz der Sprung über die Sperrklausel nicht gelingen.
Die arabischen Parteien kommen mit der Vereinten Liste (VL) auf etwa acht Sitze. Insgesamt stellen arabische Israelis etwa 20% der israelischen Bevölkerung. Allerdings wird die Wahlbeteiligung der arabischen Israelis voraussichtlich nur knapp über 50% betragen. Das liegt an der Enttäuschung der Wähler über den geringen Einfluss dieser Parteien, mit denen keine der anderen Parteien zusammenarbeiten will. Darüber hinaus sammeln sich in den Wahlbündnissen verschiedene politische Strömungen, deren einzige Gemeinsamkeit im Adressieren der Interessen der arabischen Minderheit besteht.
Likud setzt auf Einheit
In seiner Wahlkampagne schlug Netanjahu derweil für ihn ungewöhnliche Töne an. Im Januar veröffentliche er einen Videoclip, in dem er an die nationale Einheit Israels appellierte. Dabei kam sowohl die diverse Einwanderungsgeschichte als auch die verschiedenen Gesellschaftsgruppen Israels zur Sprache, die immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sind. Im Jahr 2019 zielte Netanjahus Kampagne noch gegen die vorgeblich privilegierten Linken oder beschwor Ängste, die Vereinte Liste könnte an einer Regierung unter Gantz‘ Führung beteiligt werden.
Erstmals versucht „Bibi“ nun, wie Netanjahu häufig genannt wird, gezielt arabische Wähler anzusprechen. Anfang Januar reiste er in mehrheitlich arabische Städte Israels, um die israelische Impfkampagne zu bewerben. Ein weiterer Anknüpfungspunkt Netanjahus an diese Gruppe sind die Normalisierungsabkommen, die laut Umfragen von einer großen Mehrheit der arabischen Israelis befürwortet werden. In der israelischen Öffentlichkeit hält man diese Kehrtwende allerdings nicht für authentisch.
Aktuellen Umfragen zufolge liegt der Likud mit etwa 28 Sitzen vorn. Das käme einem Verlust von sieben Sitzen im Vergleich zur letzten Knesset-Wahl gleich. Damit benötigt er 33 weitere Stimmen, um Premier zu bleiben. Zu seinen Unterstützern zählen die ultraorthodoxen Parteien sowie die religiösen Zionisten.
Rechts, religiös und national – Der Pro-Netanjahu Block
Die ultraorthodoxen Parteien und Bündnisse bestehen aus Schas sowie Vereinigtes Thorajudentum. Beide vertreten hauptsächlich Klientelinteressen, die im Wesentlichen im Schutz ultraorthodoxer Privilegien bestehen. In ihrer gesellschaftlichen Grundausrichtung stehen sie weit rechts, was sie zu natürlichen Partnern des Likud macht. Allerdings ist ihre Beteiligung an einer anderen, von rechts geführten Regierung nicht grundsätzlich auszuschließen. Zusammen vereinen die Ultraorthodoxen in Umfragen bei etwa 15 Sitzen.
Am rechten Rand agiert mit HaZionut HaDatit („Der Religiöse Zionismus“) eine nationalreligiös-extremistische Partei, die hauptsächlich Siedlerinteressen vertritt. Die Positionen ihres Vorsitzenden Bezalel Smotrich waren häufig Gegenstand von Kontroversen. So forderte er beispielsweise einen jüdischen Staat nach den Vorgaben der Halacha (jüdische Religionsgesetze) wie „zu Zeiten König Davids“. Der Religiöse Zionismus kommt laut Umfragen mit fünf Sitzen knapp über die 3,25%-Hürde. Politische Kommentatoren gehen davon aus, dass sich Smotrich auch die Option eines Regierungsbeitritts gegen Netanjahu offenhält.
Ausblick
Angesichts der vergleichsweise hohen Volatilität israelischer Wähler und der Unentschiedenheit einiger Schlüsselakteure ist eine genaue Prognose zum jetzigen Zeitpunkt schwer. Allerdings lassen sich folgende Einschätzungen vertreten:
- In aktuellen Umfragen liegt der Pro-Netanjahu-Block bestehend aus Likud, den ultraorthodoxen Parteien und Bündnissen Schas und Vereinigtes Thora-Judentum sowie den religiösen Zionisten bei etwa 47 Sitzen. Tritt Nach Rechts einer von Netanjahu geführten Regierung bei, fehlen weitere zwei Sitze, um die erforderliche Mehrheit von 61 Sitzen zu erreichen. Entscheidend wird die Frage sein, ob Blau Weiß den Wiedereinzug in die Knesset schafft. Gelingt das nicht, könnte einer rechten Mehrheit Netanjahus der Weg geebnet sein. Andernfalls könnte Netanjahu das riskante Unternehmen wagen, einzelne Abgeordnete anderer Fraktionen zur Unterstützung zu gewinnen.
- Eine Koalition aus Neue Hoffnung, Es gibt eine Zukunft, Nach Rechts, Unser Haus Israel, der Arbeitspartei und Blau Weiß ist zurzeit rechnerisch möglich. Wären solche Verhandlungen von Erfolg gekrönt, würde die Breite des Bündnisses von links nach ganz rechts allerdings bereits seine größte Schwäche offenbaren. Die Frage bleibt offen, ob die Gegnerschaft zur Person Netanjahu ausreicht, um nach seiner Abwahl eine stabile Koalitionsarbeit zu leisten.
- In bisherigen Wahlen hat Netanjahu nicht nur häufig eine programmatische Flexibilität bis Unentschlossenheit bewiesen, sondern vermochte es sogar, bereits abgewandte Wähler zu mobilisieren und zurückzugewinnen. Der Amtsinhaberbonus, der auf Netanjahu zugeschnittene Likud und die Dominanz des Likud in vielen staatlichen Institutionen könnten Netanjahu hier in die Hände spielen.
- Die Wahlbeteiligung der arabischen Israelis wird erneut gering ausfallen. Das bedeutet, dass die Annäherungsversuche der etablierten politischen Klasse Israels an diese Klientel nicht verfangen, aber auch, dass die arabischen Parteien "ihre" Klientel nicht auf sich vereinen können. Vor dem Hintergrund des demografischen Wachstums dieser Gruppe ergibt sich somit eine zunehmende Kluft zu deren Repräsentanz im politischen System und damit auch ein Legitimationsproblem für Regierungspolitik gegenüber den arabischen Israelis.
- Gleich welcher Premierminister die Amtsgeschäfte nach der Wahl führt, sein politischer Fokus wird nicht auf der Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Palästinensern liegen. Rein rechnerisch ist keine Politik gegen die Dominanz rechter Parteien in Israel möglich.
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