Neujahrsmorgen 2023: Für die Christen in Jerusalem beginnt das Jahr mit neuen Ausbrüchen von Hass und Ablehnung. Zwei junge jüdische Männer betreten den lutherisch-anglikanischen Friedhof auf dem Berg Zion unmittelbar neben der Jerusalemer Altstadt. Was dann folgt, zeigt ein auf Twitter verbreitetes Video: Die jungen Männer schmeißen große Steine auf Gräber und zerstören ein Kreuz. Insgesamt verwüsten sie mehr als 30 Gräber und lassen den Friedhof in einem katastrophalen Zustand zurück - jüdische Extremisten mit einer klaren Botschaft: Christen haben in Jerusalem keine Heimat.
Schon seit einigen Jahren berichten die christlichen Gemeinden der Altstadt, dass Anhänger fundamentalistischer Gruppen immer übergriffiger werden; der Angriff auf den Friedhof aber war Auftakt einer Welle von Hassgewalt gegen Christen und ihre Heiligtümer, die eine neue Eskalationsstufe erreicht. Am 12. Januar tauchten im armenischen Viertel der Jerusalemer Altstadt Graffiti in hebräischer Sprache auf: „Tod den Christen“, „Tod den Armeniern“ und „Tod den Arabern“. Ende Januar wurde aus konkreten Drohungen wieder offene Gewalt: Jüdische Extremisten attackierten in einer Gasse in der Nähe des Neuen Tors Geschäfte und Restaurants christlicher Besitzer. Videos, die über Twitter verbreitet wurden, zeigen, wie Stühle und Tische durch die Gegend geschleudert werden. Die Polizei traf erst nach einer Stunde ein.
Bei der nächsten Eskalation Anfang Februar zerstörte ein jüdischer Extremist eine Christus-Statue in der Geißelungskapelle auf der Via Dolorosa. Kirchenvertreter ordneten die Tat als weiteren Beleg ein für die Vehemenz antichristlicher Hassgewalt in den Palästinensischen Gebieten.[1]
Heimat im Heiligen Land
Dabei ist die Präsenz von Christen am Ursprungsort des Christentums und den Heiligen Stätten historische Realität. Die in Ost-Jerusalem gelegene Grabeskirche und die Geburtskirche in Bethlehem gehören zu den wichtigsten Heiligen Stätten für Christen auf der ganzen Welt. Insbesondere zu Ostern und zu Weihnachten sind sie sowohl für die einheimischen Christen wie auch Millionen Touristen ein Fixpunkt. Doch in diesen Stätten lebendigen christlichen Lebens steigt der Druck auf die Freiheit insbesondere christlicher Palästinenser.
Trotz unzureichender genauer Erhebungen zur christlichen Bevölkerung in den Palästinensischen Gebieten lässt sich der Exodus der christlichen palästinensischen Bevölkerung aus dem Heiligen Land gut nachvollziehen, denn in den wichtigsten christlichen Zentren des Heiligen Landes zeichnet sich eine dramatische demografische Entwicklung ab: So ist der Anteil der christlichen Bevölkerung Jerusalems von über 20 Prozent vor hundert Jahren auf heute weniger als zwei Prozent gesunken; in Bethlehem ist der Anteil der Christen von schätzungsweise 86 Prozent 1948 auf 35 Prozent 1967 und nur zwölf Prozent heute gesunken. In den besetzten Palästinensischen Gebieten macht die christliche Bevölkerung von etwa 47.000 Menschen nur noch etwa ein Prozent aus. Das liegt einerseits an der Geburtenrate christlicher Familien, die unter dem Durchschnitt der muslimischen Mehrheitsgesellschaft liegt, andererseits an der höheren Emigrationsrate unter Christen, die ihre Heimat vor allem aufgrund der schlechten ökonomischen Perspektiven und der alltäglichen Konfrontation mit der Militärbesatzung verlassen.
Zwischen wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und politischer Gewalt
Viele Christen sind bereits im Zuge der immer wieder aufkeimenden Gewalt des Nahostkonflikts in die Diaspora geflohen. Große Migrationswellen gab es 1948 und 1967 sowie während der Zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre. Heute sind die Ursachen für Auswanderung vielschichtig. Im Wesentlichen wird die Auswanderung christlicher Palästinenser von wirtschaftlichen Faktoren bedingt: So sind in Bethlehem mit der Corona-Pandemie die sonst üblichen Touristen- und Pilgerströme mit Ziel Geburtskirche in Bethlehem – und ein Hauptwirtschaftsfaktor der Stadt – abrupt zum Erliegen gekommen. Besitzer von Geschäften und Restaurants hat das besonders hart getroffen, zudem haben durch Schließungen von Geschäften und Lokalen viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Das Durchschnittsgehalt in Bethlehem von unter 300 US-Dollar pro Monat[2] reicht in der Regel nicht, um eine Wohnung oder ein Haus für die Familie zu finanzieren. Viele suchen deswegen entweder in Israel oder im Ausland Arbeit. Für eine kostspielige Auswanderung bedarf es allerdings eines wirtschaftlichen Grundkapitals, das Christen aus der Bethlehem-Region aufgrund der Einnahmen durch den Tourismus eher aufwenden können als Palästinenser aus nicht-touristisch erschlossenen Regionen.
Auch die politische Gemengelage und die israelische Besatzung spielen eine zentrale Rolle für die Abwanderung christlicher Palästinenser. Sie nimmt zum Beispiel Einfluss darauf, inwieweit christlicher Glaube gelebt werden kann. Zu Ostern, wenn die Grabeskirche Sehnsuchtsort christlicher Palästinenser ist, wollen viele aus dem Westjordanland nach Jerusalem reisen – von Bethlehem nur etwa 10 Kilometer entfernt und doch mit großen Hürden verbunden: Die israelische Sperranlage verläuft zwischen beiden Städten und trennt so die wichtigsten christlichen Zentren voneinander. Palästinenser müssen auf dem Weg einen israelischen Checkpoint überqueren und brauchen dafür eine Genehmigung von der Koordinierungsstelle zwischen Israels Regierung, der Armee und der Palästinensischen Autonomiebehörde (COGAT). In den vergangenen Jahren wurde mehrfach Gruppen aus dem Westjordanland die Einreise verweigert. Vielen Christen bleibt der Besuch komplett verwehrt – häufig ohne Begründung.
Die israelische Besatzung hat auch Auswirkungen auf das ganz alltägliche Leben: Wo Palästinenser wohnen dürfen und wie frei sie sich bewegen können, hängt von ihrer Identitätskarte (ID) ab, die ihnen je nach Heimatort ausgehändigt wird. Palästinenser aus dem Westjordanland besitzen eine Westbank ID. Nur mit Genehmigung dürfen sie nach Israel oder Ost-Jerusalem reisen, dort aber nicht wohnen. Palästinenser aus Ost-Jerusalem hingegen besitzen eine Jerusalem ID. Diese erlaubt es ihnen, in ihrer Heimatstadt zu wohnen und sowohl innerhalb Israels wie auch ins Westjordanland ohne vorherige Genehmigung zu reisen. Ein Familienzusammenschluss zwischen Christen aus Ost-Jerusalem und Bethlehem bedarf allerdings aufgrund der administrativen und geografischen Abtrennung einer Genehmigung, die nur in seltenen Fällen erteilt wird. Diese Segregation wirkt sich wiederum auf die Entwicklung der christlichen Gemeinden im Allgemeinen aus, da die Schwierigkeiten bzw. Unmöglichkeiten der Familienzusammenführung in der eigenen Heimat unter den Bedingungen der Besatzung einen weiteren Push-Effekt zur Emigration darstellen.
Die Besatzungspolitik konfrontiert palästinensische Christen zudem mit existenziellen Sorgen. Dabei erfahren sie kaum Unterschiede in der Behandlung ihrer Fälle im Vergleich zur muslimischen Bevölkerung: Viele berichten, dass die israelische Armee ihre Häuser zerstört hat, ihr Land beschlagnahmt wurde, sie dem Beschuss israelischer Truppen ausgesetzt waren. Mit dem Ausbau israelischer Siedlungen im Westjordanland fürchten immer mehr palästinensische Christen kompensationslose Landverluste, Vertreibung aus ihren Häusern und Übergriffe extremistischer Gruppen. Mehr als die Hälfte der palästinensischen Christen ist davon überzeugt, dass Israel zum Ziel habe, Christen aus ihrem Heimatland zu vertreiben.[3]
In Ost-Jerusalem ist das bereits teilweise Realität, wird dort aber vor allem von extremistischen jüdischen Randgruppen forciert. Rund um das Jaffa-Tor, dem Eingang zum orthodoxen christlichen Viertel der Jerusalemer Altstadt sind Grundstücke der griechisch-orthodoxen Kirche mittlerweile im Besitz einer jüdischen Siedlerbewegung. Dem vorangegangen war ein jahrelanger Rechtsstreit über einen Jahrzehnte zurückliegenden Verkauf der Grundstücke durch einen Kirchenangestellten an die Siedlerorganisation, der ohne Genehmigung der Kirche stattgefunden haben soll. Trotz Beweismittel seitens der Kirche zu den Umständen haben israelische Gerichte den Verkauf im Sommer 2022 für gültig erklärt. Seitdem hat sich der Disput um die Altstadt weiter intensiviert; Siedlerorganisationen haben weitere Grundstücke der Kirchen übernommen. In einer Mitteilung prangerte das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Jerusalem solche „expansionistische Praktiken“[4] jüdischer Extremisten an, die sich gezielt gegen christliche Kirchen in Jerusalem richteten. Auch die anderen Kongregationen fürchten um die christliche Präsenz und den multikonfessionellen Charakter der Altstadt. Daher haben sich die sonst mitunter streitenden Kirchenoberhäupter zusammengeschlossen, um mittels der Kampagne „Protecting Holy Land Christians“ auf die prekäre Lage der Christen aufmerksam zu machen.
Palästinensische Christen müssen sich allerdings zwischen zwei Fronten behaupten: Zum einen werden sie von national-religiösen Juden bedroht, im Westjordanland befürchten sie jedoch auch eine zunehmende Islamisierung. Auch wenn die überwältigende Mehrheit palästinensischer Christen laut einer Meinungsumfrage keine Diskriminierung durch Muslime erfährt, werden religiöse salafistische Gruppen und der politische Islam als Gefahr wahrgenommen.[5] Es gibt Berichte, dass fundamentalistische islamische Kräfte etwa in Bethlehem gegen Christen mobil machen und dazu aufrufen, Häuser, Geschäfte und Grundstücke von Christen aufzukaufen.
Christliches Engagement in Zahlen
Obwohl der Anteil der christlichen Bevölkerung schwindet, prägen Christen und ihre Einrichtungen das gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Leben in den Palästinensischen Gebieten. Christliche Organisationen sind der drittgrößte Arbeitgeber im Westjordanland mit mehr als 9000 Mitarbeitern. Damit sind sie besonders wichtig für die palästinensische Wirtschaft, denn mehr Beschäftigte haben nur die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Insgesamt gibt es 296 mit den Kirchen verbundene Einrichtungen, die meisten davon in Ost-Jerusalem und Bethlehem, die besonders im Gesundheits- und Bildungswesen tätig sind. Etwa 1,9 Millionen Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen profitieren jedes Jahr von dem Angebot solcher Einrichtungen – unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, sozialem Status oder politischer Überzeugung.[6]
Schulen, Krankenhäuser, Begegnungsstätten – die palästinensische Gesellschaft wird auch von der Präsenz der Christen und ihren Einrichtungen getragen. Das nun oft heraufbeschworene Szenario, christliche Gemeinden könnten bei dem Tempo des Rückgangs innerhalb einer Generation aus der Region komplett verschwinden, wirkt dadurch umso bedrohlicher.
Perspektiven: Land- oder Religionskonflikt?
Die tragende humanitäre und entwicklungspolitische Rolle der Christen im Heiligen Land sind ein wesentlicher Eckpfeiler für die Herstellung von Verständigung, Stabilität und Deeskalation in der Region. Doch die Aussicht auf Frieden – auch unter den Religionen – ist insbesondere in Anbetracht der extrem angespannten Lage im Westjordanland in weite Ferne gerückt. Denn: Die Herausforderungen, vor denen Christen in den Palästinensischen Gebieten stehen, sind nicht von den ortsspezifischen politischen Gegebenheiten zu trennen.
Es scheint deswegen angebracht, die Dimensionen des israelisch-palästinensischen Konflikts zu bezeichnen: In erster Linie handelt es sich dabei um einen Territorialkonflikt. Die unterschiedlichen Parteien ringen aus historischen, politischen oder religiösen Gründen um ihre Präsenz in der Region[7] – doch je stärker der Konflikt sich religiös und ideologisch auflädt, desto weniger wird er sich mit politischen bzw. diplomatischen Mechanismen lösen lassen. Insbesondere in Jerusalem, wo Religion und Politik untrennbar miteinander verwoben sind, ist unter Anbetracht der jüngsten Vorfälle zu befürchten, dass die religiösen Interessen dominanter werden und damit mehr Gewalt gerechtfertigt werden könnte. Das schwächt die Kräfte, die sich für eine politische und vor allem friedliche Lösung des Konflikts einsetzen.
Eine Entspannung der Lage ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: In diesem Jahr fallen der muslimische Fastenmonat Ramadan, das jüdische Pessachfest und das christliche Ostern zusammen. Das könnte vor allem Streitigkeiten um den Tempelberg/Haram al-Sharif neu befeuern und für eine weitere Eskalation der Lage sorgen. Die Christen sind dann wieder mittendrin.
[1]https://twitter.com/PaterNikodemus/status/1621057409807712257
[2]https://www.thetimes.co.uk/article/in-bethlehem-the-christian-population-is-shrinking-and-afraid-x7qpmhkrz
[3]http://pcpsr.org/sites/default/files/Poll%20Findings%20of%20Emigration%20Among%20Palestinian%20Christians%20June%202020.pdf
[4]https://protectingholylandchristians.org/a-statement-by-the-greek-orthodox-patriarchate-of-jerusalem-regarding-the-illegal-take-over-of-church-land-in-silwan-by-an-israeli-radical-group/
[5]https://www.thetimes.co.uk/article/in-bethlehem-the-christian-population-is-shrinking-and-afraid-x7qpmhkrz
[6]https://www.daralkalima.edu.ps/uploads/files/Mapping%20of%20Christian%20Organizations%204Final.pdf
[7]https://www.thetimes.co.uk/article/in-bethlehem-the-christian-population-is-shrinking-and-afraid-x7qpmhkrz
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