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Bonner Rede heißt, ein namhafter Jurist nimmt sich einen wichtigen Grundgesetzartikel vor, und legt in seinen Ausführungen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit gegeneinander. In diesem Jahr war es Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, der Art. 30 ff. in den Blick genommen hat und vieles am augenblicklichen Zustand des Föderalismus zu bemängeln hatte. Vergleiche man, so Kirchhof, die Formulierungen des Grundgesetzes, nach denen die Länder den Bund bilden, mit dem heutigen Bund-Länder-Verhältnis, so wird die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich. Die Kräfte zwischen Bund und Ländern haben sich in einer Entwicklung von der Nachkriegszeit, in der das föderale Element als Gegengewicht zur zentralistischen Vergangenheit in der NS-Zeit Konjunktur hatte, bis heute immer mehr zugunsten des Bundes verschoben. Kirchhof stellt heute einen „unitarischen Bundesfinanzföderalismus“ fest, also eine durch Finanzzuweisungen zu den Ländern gesteuerte Dominanz des Bundes.
Kirchhof, der sich selbst als leidenschaftlicher Föderalist bezeichnete, konnte zwar viele gute Gründe für den Föderalismus aufführen, seine Bürgernähe, die demokratische Balance in der Parteiendemokratie, das Wettbewerbselement von politischen Lösungen, aber er konnte auch nicht verhehlen, dass manches an unserer Zeit dem Föderalismus zuwider läuft: die Vereinheitlichungstendenzen in der Wirtschaft, der Technik, der Logistik, Forderungen nach Effizienz und Transparenz. Auch schwindet in einer mobilen Gesellschaft das landsmannschaftliche Element.
In der mit 300 Teilnehmern gut gefüllten Bundeskunsthalle wurde allmählich immer klarer, wie sehr sich Deutschland seit der Republikgründung verändert hat: Die Wiedervereinigung mit ihrem zentralstaatlichen Schub, die wachsende Zuwanderung, die Orientierung der Unternehmen am globalen Markt , die Binnenmobilität der Bürger, nicht zuletzt die wachsende Bedeutung der EU als einer neuen staatlichen Ebene über dem Bundesstaat – alles dies spricht nicht dafür, dass sich an den Defiziten des Föderalismus in Deutschland in Zukunft viel ändern wird.
Natürlich könne man einiges verbessern, das erbrachte die anschließende Diskussion auf dem Podium, bei der Helge Matthiesen, Chefredakteur des Bonner Generalanzeigers, mit klugen Fragen versuchte, die Gesprächspartner - außer Kirchhof noch Roland Sturm, Professor für Politische Wissenschaft an der Uni Erlangen, und der Bonner OB Ashok Sridharan - aus der Reserve zu locken. Aber die Lösungen, die sie anboten, in der Inneren Sicherheit, in der Bund-Länder-Finanzfrage, waren doch eher technische Details. Gegen die Grundstimmung könne man nicht ankommen, sinnierte das Podium. Überall in Europa strebten regionale Gliederungen Staatlichkeit an; Schottland, Katalonien, Flandern sind beredte Beispiele eines regionalen Freiheitsdranges gegen den Zentralstaat. Nur in Deutschland herrsche ein lustloser „Föderalismus ohne Föderalisten“, mit Ländern, die gerne Kompetenzen abgeben, wenn sie nur an den finanziellen Tropf des Bundes kommen. Ja, will denn keiner mehr lokale Freiheit, wollen alle nur Gleichheit und gleiche Verteilung in Deutschland?, schwang sich Sturm in einem leidenschaftlichen Appell auf. In der Tat, ein Staat, der durch seine Struktur ungleiche Lebensverhältnisse ermöglicht – und Ungleichheit ist der Grundgedanke des Föderalismus – hat zur Zeit keine Lobby.
Das Bonner Publikum, geborene Föderalisten, konnten hinterher allerdings noch einiges in der Diskussion an Optimismus zurückgewinnen. Das ist die Essenz des rheinischen Grundgesetzes.
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