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Transatlantische Partnerschaft: „Wir wären besser dran, voneinander zu lernen.“

Ein Gespräch mit Professor Stephen M. Walt über die Zukunft des liberalen Ordnungsmodels, die Wiederkehr von Großmachtrivalitäten und über die Notwendigkeit, das transatlantische Bündnis an die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen.

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S. Backovsky: Nach dem Kalten Krieg glaubten viele, dass die Entwicklung zu einer liberalen Weltordnung, die von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und multilateraler Zusammenarbeit getragen wird, unumkehrbar sei. Heute erleben wir eine Rückkehr von Großmachtrivalitäten sowie die steigende Gefahr eines nuklearen Wettrüstens. Rund um die Welt setzen nationalistische und autoritäre Akteure offene Gesellschaften und internationale Institutionen unter Druck. Gleichzeitig wird das Vertrauensverhältnis innerhalb der liberalen Staatengemeinschaft durch abweichende nationale Interessen in der Handels-, Umwelt-, Energie-, Sicherheits- oder Migrationspolitik geschwächt. 

Herr Professor Walt, wie können wir die Krisen der liberalen Weltordnung erklären? Gilt die Faustregel der Realistischen Schule "zwei Drittel Struktur, ein Drittel Handlung"?

S. Walt: Ja, das dürfte zutreffen. Die liberale Ordnung erodiert nicht zuletzt, weil die Vereinigten Staaten das "unipolare Moment" als eine Gelegenheit sahen, die westliche liberale Ordnung eben in eine Weltordnung umzuwandeln – das übergeordnete außenpolitische Ziel war, Demokratie und Märkte so weit wie möglich zu verbreiten. Dieser Ansatz scheiterte, weil einige nicht-liberale Staaten die Bemühungen der Vereinigten Staaten als bedrohlich empfanden, weil die Vereinigten Staaten nicht wussten, wie sie nach dem Regimewechsel stabile Demokratien etablieren konnten, und weil die Globalisierung nicht die versprochenen Vorteile für die Mittel- und Unterschichten in den USA und Europa brachte. Das Ergebnis war eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, kostspielige Besetzungen und/oder gescheiterte Staaten im Nahen Osten und eine populistische Gegenreaktion gegen viele liberale Ideen.

S. Backovsky: Außenminister Pompeo hat den Status quo der internationalen Beziehungen kürzlich als einen Wettbewerb der Werte zwischen der "freien" und der "unfreien" Welt dargestellt. Der Autoritarismus Russlands oder Chinas ist offensichtlich, die Freiheit als gemeinsamer Nenner von, sagen wir, G7-Ländern etwas weniger. Was definiert die "westliche Gemeinschaft" heutzutage? 

S. Walt: Die "westliche Gemeinschaft" besteht nach wie vor aus Staaten, die eng mit den USA verbündet sind und sich im Großen und Ganzen der liberalen Demokratie, den freien Märkten, der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten verpflichten. Aber diese Verpflichtungen sind vielerorts zerfranst, und selbst die Vereinigten Staaten scheinen diesen Idealen eine geringere Bedeutung beizumessen als es unter früheren Präsidenten der Fall war. Beispielsweise haben sich sowohl Polen als auch Ungarn in stark illiberale Richtungen bewegt, und an mehreren anderen Orten sind rechtsextreme Parteien mehr oder weniger zu einem festen Bestandteil der europäischen Politik geworden. Die nationalistische Stimmung hat dazu beigetragen, dass Großbritannien die EU verließ. Auch Präsident Trump scheint sich mit autoritären Herrschern wohler zu fühlen als mit den Führern einiger der engsten demokratischen Verbündeten Amerikas. Chinas Aufstieg verlagert zudem die Aufmerksamkeit der USA weg von Europa nach Asien, und dies wird wahrscheinlich zusätzliche Spannungen in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu anderen liberalen Staaten mit sich bringen. 

S. Backovsky: Präsident Trump wird für sein Handeln auf der internationalen Bühne zum Teil heftig kritisiert. Sind in der Außenpolitik der aktuellen Administration auch positive Ansätze zu finden?

S. Walt: Präsident Trump hat eine Reihe von guten außenpolitischen Instinkten: Er hat zum Beispiel Recht, wenn er die europäischen Länder des sicherheitspolitischen Trittbrettfahrens bezichtigt. Er liegt ebenfalls richtig, wenn er China beschuldigt, die Versprechen, die es beim Beitritt zur Welthandelsorganisation gemacht hat, nicht zu erfüllen. Sein Widerstand gegen die "ewigen Kriege" und unrealistische Projekte des Nation-Building ist ebenfalls nachvollziehbar. Leider fehlen dem Präsidenten das Wissen und das Temperament, um diese Instinkte in wirksame Politiken umzusetzen. Aus diesem Grund hat er nach mehr als drei Jahren im Amt kaum außenpolitische Erfolge vorzuweisen.

S. Backovsky: Sie argumentieren, dass die "Sicherheitsgarantie" der Vereinigten Staaten gegenüber Europa in ihrer derzeitigen Form für die transatlantischen Beziehungen wenig förderlich ist. Warum ist das so?

S. Walt: Aus mehreren Gründen. Erstens wird Europa aufgrund ihrer übermäßigen Abhängigkeit vom Schutz der USA dazu gezwungen, Dinge zu tun, die möglicherweise nicht in ihrem Interesse liegen – oder aber sich amerikanischen Initiativen anzuschließen, die möglicherweise unklug sind. Zweitens lenkt die Sicherheitsgarantie die Vereinigten Staaten von Themen ab, die von größerer Bedeutung sein sollen und sie erzeugt Ressentiments gegenüber den europäischen Partnern. Drittens ist Europa ohne die Hilfestellung der Vereinigten Staaten nicht in der Lage, außen- und sicherheitspolitisch wirksam zu handeln. Kurzum, es wäre für beide Seiten des Atlantiks - und für die transatlantischen Beziehungen - viel besser, wenn die USA und Europa gleichberechtigte Partner wären.

S. Backovsky: Ein Teilabzug der U.S. amerikanischen Streitkräfte aus Europa muss jedoch nicht automatisch zur Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union führen. Außerdem könnte die Absenz der Vereinigten Staaten die geopolitischen Ambitionen Russlands weiter schüren. Würden Sie diesen Punkten zustimmen? 

S. Walt: Wenn die relativ wohlhabenden Länder Europas nicht in der Lage oder nicht willens sind, sich zu verteidigen, können sie wohl kaum erwarten, dass dies die USA für sie tun. In Europa leben fünfmal so viele Menschen wie in Russland, und die russische Wirtschaft ist kleiner als die italienische. Die europäischen NATO-Mitglieder geben jedes Jahr das drei- bis vierfache der russischen Verteidigungsausgaben aus, auch wenn sich diese Summen nicht ganz in ihrer Verteidigungsfähigkeit niederschlagen. Ich denke, dass wenn die Vereinigten Staaten ihre militärische Rolle in Europa allmählich reduzieren, werden die wichtigsten europäischen Nationen die notwendige Verantwortung übernehmen. Und zu Ihrem zweiten Punkt: ich bin der Auffassung, dass die geopolitischen Ambitionen Russlands begrenzt sind. Sie wollen als Großmacht ernst genommen werden, und sie wollen nicht, dass die NATO weiter nach Osten expandiert. Aber ich glaube, dass Russland weder die Fähigkeit noch den Wunsch hat, in nennenswertem Umfang zu expandieren.

S. Backovsky: Sie argumentieren, dass die transatlantische Sicherheitspartnerschaft beziehungsweise die NATO nur dann langfristig Fortbestand haben wird, wenn sie sich an die divergierenden geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union anpasst. Auf welcher Grundlage kann das Bündnis erneuert werden?

S. Walt: Für die USA wird in den kommenden Jahrzehnten der Wettbewerb mit China noch stärker in den Fokus rücken. Europa wird sich bei diesem Konkurrenzverhältnis nicht neutral verhalten können, wenn es die engen Sicherheitsbeziehungen zu den USA aufrechterhalten will: es wird sich für eine Seite entscheiden müssen. Ich glaube, dass die einzige solide Basis für das transatlantische Bündnis darin bestehen wird, dass die Europäer mehr Verantwortung für die eigene Verteidigung übernehmen, während sich die Vereinigten Staaten eben auf China konzentrieren. Auch müsste sich Europa verpflichten, seinen Handel/Investitionen mit China zu begrenzen (zumindest bei Technologien im militärischen Anwendungsbereich). Im Gegenzug würden sich die USA dazu bereit erklären, in der NATO zu bleiben und im Notfall den Europäern auch militärisch zur Seite zu stehen.

S. Backovsky: Die Zusammenarbeit zwischen Russland und China nimmt in vielen Bereichen zu. Gleichzeitig schürt die Dominanz Chinas in Asien die historische Rivalität zwischen Peking und Moskau. Ist eine langfristige Allianz zwischen den beiden Ländern ein realistisches Szenario? 

S. Walt: Russland und China sind aufgrund ihrer geografischen Nähe sowie angesichts der sich abzeichnenden Vormachtstellung Chinas und der vielen Schwächen Russlands keine natürlichen Verbündeten. Indem die Vereinigten Staaten (und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Bündnispartner) jedoch wiederholt die russischen Interessen und Empfindlichkeiten ignorierten, trugen sie zur Annäherung der beiden asiatischen Giganten bei. Das ist jedoch töricht: Wir sollten nach Möglichkeiten suchen, die Spannungen mit Moskau zu senken und Russland von seiner derzeitigen Partnerschaft mit China abzubringen.

S. Backovsky: Als Student haben Sie ein Semester in Berlin verbracht und sind seither mehrmals zurückgekehrt. Was würden Sie -  als Freund Deutschlands - empfehlen, dass das Land in seiner Außenpolitik am dringendsten ändern sollte?

S. Walt: Deutschland ist das erste Land, das ich außerhalb der Vereinigten Staaten besucht habe. Seine Kultur, seine bemerkenswerten Leistungen und meine vielen Freunde hier vor Ort schätze ich sehr. Deutschland muss dringend erkennen, dass nicht alle außenpolitischen Probleme durch "civilian power", durch Gesetze oder durch Anrufe nach Brüssel oder Washington, gelöst werden können. Stattdessen müssen große Nationen manchmal handeln und manchmal "hard power" anwenden. Die Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahren den Fehler gemacht, militärische Gewalt als die Lösung von allen Problemen zu betrachten, während Deutschland den Fehler gemacht hat, zu glauben, militärische Macht sei unnötig oder irrelevant. Beide Länder wären besser dran, wenn wir voneinander lernen würden: Die Amerikaner sollten sich das Engagement Deutschlands für eine möglichst unaufgeregte und geduldige Diplomatie zum Beispiel nehmen; Deutschland sollte wiederrum seine militärische Kapazität, die es in den 1970er oder 1980er Jahren hatte, wiederaufbauen. Dann wären Sie besser in der Lage, Ihre Interessen gemeinsam mit Ihren Freunden in Europa und anderswo zu verteidigen.

 

Das Interview wurde im Rahmen eines zweitägigen Besuchs von Professor Walt beim Promotionskolleg „Sicherheit und Entwicklung im 21. Jahrhundert“ der Konrad-Adenauer-Stiftung im Januar 2020 durchgeführt. Das englische Original befindet sich unter www.kas.de/pkse.

 

Professor Dr. Stephen M. Walt

Stephen M. Walt ist Robert und Renée Belfer Professor für Internationale Beziehungen an der Harvard Kennedy School der Universität Harvard. Er gilt als ein führender Vertreter der Neorealistischen Schule der Internationalen Beziehungen. Vor seiner aktuellen Verwendung unterrichtete er in Princeton und an der Universität von Chicago. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Foreign Policy“ und Co-Vorsitzender des Redaktionsausschusses der „International Security“. Professor Walt wurde im Mai 2005 zum Mitglied der Amerikanischen Akademie der Künste und Wissenschaften gewählt. Seine Monographie „The Origins of Alliances“, wurde im Jahr 1988 mit dem „Edgar S. Furniss National Security Book Award“ ausgezeichnet. Professor Walt veröffentlicht eine wöchentliche Kolumne in Foreign Policy unter http://www.foreignpolicy.com/voices/walt

 

Dr. Simon Backovsky

Simon Backovsky verfasste seine Dissertation am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und an der Universität Bonn. Er forschte und lehrte zu den Themen Nationalismus und Europäische Integration, sein wissenschaftliches Interesse gilt zudem der Parteienforschung und den internationalen Beziehungen. Er ist seit 2015 Referent der Abteilung Ausländerförderung der Hauptabteilung Begabtenförderung und Kultur und seit 2017 Geschäftsführer des Promotionskollegs „Sicherheit und Entwicklung im 21. Jahrhundert“ der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Dr. Simon Backovsky (2021)

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