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Interviews

Migrationsabkommen auf dem Prüfstand

de Caroline Schmidt, Dr. Annette Ranko

Dr. Malte Gaier im Gespräch zur Migrationsvereinbarung mit Tunesien

Dr. Malte Gaier berichtet, wie die im Juli von der EU und Tunesien unterzeichnete Absichtserklärung in Tunesien wahrgenommen und diskutiert wird, wo die Fallstricke liegen und welche Aspekte für ein nachhaltig funktionierendes Abkommen berücksichtigt werden müssten.

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1. Die Absichtserklärung zwischen der EU und Tunesien, die auch den Bereich Migrationssteuerung umfasst, wird seitens der Europäischen Kommission als Erfolg kommuniziert. Was wurde konkret vereinbart?

Die „strategische und umfangreiche Partnerschaft“ zwischen der EU und Tunesien beruht derzeit nur auf der unterzeichneten Absichtserklärung. Sie ist damit kein Abkommen im vertraglichen Sinne, sondern vielmehr eine politische Vereinbarung. Das ist wichtig zu betonen, da ja nun unter den EU-Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament in Frage gestellt wird, ob und in welcher Form die Erklärung noch zustimmungspflichtig ist. Insgesamt gab es fundamentale Kritik an der Erklärung von Seiten mehrerer Mitgliedstaaten. Mit Blick auf den konkreten Inhalt der Vereinbarung sind viele Elemente vage formuliert, sollen jedoch in mindestens fünf Folgeverhandlungen präzisiert werden. Sehr deutlich sind jedoch grundsätzliche Positionen beider Seiten zum Kernbereich Migration zum Ausdruck gebracht worden: Tunesien lehnt es ab, irreguläre Migranten aus Drittstaaten dauerhaft aufzunehmen und wird ausschließlich seine eigenen Landesgrenzen bewachen. Mit Blick auf entsprechende Versuche Großbritanniens, abgelehnte Asylbewerber in sichere Drittstaaten zu überführen, war dieses Szenario in der tunesischen Gesellschaft kontrovers diskutiert worden. Dies hatte Grundängste geschürt, die in den vergangenen Monaten auch stark politisch instrumentalisiert worden sind. Die EU wird ihrerseits Tunesien gesamtumfänglich unterstützen, das heißt, über die Migrationsbereiche Grenzschutz und die Bekämpfung von Schleuserkriminalität hinaus auch mittels direkter Budgethilfe und der Finanzierung großer Infrastrukturprojekte. Beispiele sind das unterirdische Hochspannungs-Stromkabelprojekt zwischen Italien und Tunesien ELMED und das Unterwasser-Glasfaserkabelsystem MEDUSA. Im Bereich der legalen Arbeitsmigration bleibt die Erklärung wichtige Details schuldig: eine Beschleunigung der Visaverfahren, eine stärkere Berücksichtigung der Personalbedarfe der europäischen Arbeitsmärkte. Insbesondere die Priorisierung bestimmter Antragstellergruppen wie Studenten, Absolventen und Fachkräfte in den Partnerländern sind zwar vorgesehen, aber der genaue Umfang der Kooperation ist noch unbekannt.

2. Wie wird das Abkommen in Tunesien bewertet?

Der Zeitpunkt der Migrationsdebatte fällt in die Phase eines zunehmenden Europaskeptizismus in Tunesien. Dieser speist sich aus den Erfahrungen des vorläufig gescheiterten und stark vom Westen mitgeprägten Jahrzehnts der demokratischen Transition ab 2011. Er wird gleichzeitig durch neue Narrative des populistischen Autoritarismus seit 2021 verschärft. Insgesamt wurde das Memorandum in der tunesischen Gesellschaft und unter ihren Eliten sehr kritisch aufgenommen. Sicherlich lag das auch an der komplexen Struktur und Konditionierung der angekündigten Gelder zur Unterstützung Tunesiens. Der weitverbreitete Vorwurf ist mangelnde Transparenz des Abkommens. Wenn am Ende der noch folgenden Verhandlungen konkrete Vereinbarungen, beispielsweise Projekte in der angestrebten Energiepartnerschaft, stehen, könnte dies dabei helfen, verlorenes Vertrauen in die EU wiederzuerlangen. Entscheidend wird jedoch aus tunesischer Sicht vor allem das Zustandekommen der finanziellen Hilfen i.H.v. mindestens 675 Millionen Euro durch die EU sein. Deren Auszahlung ist jedoch an eine Unterzeichnung der seit Ende 2022 vorliegenden Vereinbarung mit dem IWF durch den tunesischen Präsidenten gekoppelt. Diese hatte Saied bis zuletzt mit Verweis auf die schwerwiegenden sozialen Folgen beim vorgesehenen Abbau staatlicher Subventionen für Grundgüter jedoch kategorisch abgelehnt. Zuletzt hat vor allem die negative Berichterstattung in Europa aber v.a. auch in Deutschland über ausbleibende Erfolge des Abkommens und steigende Zahlen von in Italien anlandenden Migranten für viel Kritik gesorgt. Vor allem die implizit geäußerten Zweifel an den Kapazitäten und am Willen der tunesischen Behörden, mehr Boote abzufangen, haben landesweit für Unmut gesorgt. In diesem Zusammenhang hält auch der Vorwurf an die eigene tunesische Regierung an, die Migrationsfrage mit der EU vorschnell unter Wert verhandelt zu haben. Dabei wird von Kritikern des Memorandums der Vergleich mit dem finanziellen Umfang des Abkommens mit der Türkei herangezogen. In diesem Rahmen zahlte die EU bis einschl. 2023 bis zu zehn Milliarden Euro an Hilfen an die Türkei.

3. Tunesien hat sich über die letzten Jahre verstärkt zum Transitland der Migration in Richtung Europa entwickelt. Vor diesem Hintergrund ist es ein wichtiges Anliegen der EU, Tunesien künftig für eine umfassendere Partnerschaft zur Steuerung irregulärer Migration, auch aus anderen afrikanischen Herkunftsländern, zu gewinnen. Wie steht Tunesien dazu?

In der Tat verlaufen aus Tunesien mittlerweile fast 60 Prozent der Überfahrten nach Italien. Auf den Booten stellen Tunesier rund 20 Prozent der Migranten, womit Tunesien sowohl als Transit- als auch als Herkunftsland gelten kann. Die tiefe strukturelle Wirtschafts- und Finanzkrise im Land wird diesen Trend künftig weiter verstärken. Vor diesem Hintergrund ist das Interesse an einem dauerhaften, belastbaren Abkommen zwischen der EU und Tunesien v.a. für die EU von zentraler Bedeutung. Aber auch Tunesiens Interesse an einer langfristigen und umfangreichen Steuerung irregulärer Migration ist angesichts der Entwicklungen der vergangenen Monate gestiegen. Die unübersichtliche Situation an den Grenzen zu Algerien und Libyen sorgt immer wieder für humanitäre Notsituationen. Gruppen verzweifelter Migranten aus Subsahara-Afrika werden scheinbar beidseitig über die Grenze getrieben bzw. von dieser zurückgewiesen und müssen oft im Niemandsland zwischen den Grenzstreifen notdürftig kampieren. Dies sorgt für internationale Kritik, aber auch für gegenseitige Schuldzuweisungen unter den Grenzanrainern.

4. Welche Interessen sehen Sie aufseiten Tunesiens und inwiefern müsste die EU diese Interessen (stärker) aufgreifen, um zum Erfolg zu kommen?

Die tunesische Regierung und Präsident Saied haben wiederholt deutlich gemacht, dass Tunesien nicht zum Transit- oder Niederlassungsland von Migranten werden dürfe. Vor diesem Hintergrund werden die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen weiter an Bedeutung gewinnen: So werden z.B. die Begrenzung der 2015 eingeführten Visafreiheit für Staatsangehörige der ECOWAS-Staaten in Tunesien sowie die Schaffung legaler Ausreisemöglichkeiten für irreguläre Migranten in ihre Ursprungsländer diskutiert. Hier kann die EU konkret helfen, etwa bei der Finanzierung von Rückkehrflügen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass Tunesien mit diesen Staaten entsprechende bilaterale Rückführungsabkommen abschließt. Die zunehmende Instabilität sowie die jüngste Serie von Staatsstreichen in der Sahel-Zone werden in Tunesien mit Sorge beobachtet: Destabilisiert sich der Sahel weiter, wird es zu Fluchtbewegungen in Richtung Maghreb kommen. Auch der demografische Wandel könnte dabei eine Rolle spielen. In diesem Szenario wird Tunesien künftig stärker auf Unterstützung von außen angewiesen sein. Ein weiteres Kerninteresse vieler junger, gut ausgebildeter Tunesier ist die Erleichterung der legalen Erwerbsmigration. Mit Blick auf den vorhandenen Bedarf in Europa wurde diese beidseitige Chance bisher zu wenig ausgeschöpft. Im Gespräch mit jungen Tunesiern macht sich angesichts erschwerter Visazugänge steigender Frust und Unverständnis bemerkbar, wodurch sich negative Europaperzeptionen noch verstärken. Die umfangreiche Partnerschaft mit Tunesien – in der die EU seit 2011 der größte Geber ist – muss grundlegend neu gedacht werden. Dabei sollte der veränderten Sicht Tunesiens auf Europa Rechnung getragen und gleichzeitig grundlegende Positionen mit Blick auf Menschenrechte und Meinungsfreiheit formuliert werden.

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