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„Good-bye“ Europa – „Privjet“ Russland?

de Ralf Wachsmuth †, Sebastian Fiebrig

Der „Einheitliche Wirtschaftsraum“ – der Abschied der Ukraine

Nach der gleichzeitigen Ratifizierung des Dokumentes über den Einheitlichen Wirtschaftsraum durch die Werchowna Rada und die russische Staatsduma am 20. April ist der Weg frei für die Schaffung der so genannten „Ost-EU“, bestehend aus der Ukraine, Russland, Belarus und Kasachstan. Die Details zu dieser Union sollen schon Ende Mai auf einem Gipfel der vier Staatsoberhäupter in Kiew ausgearbeitet werden. Noch ist allerdings nicht klar, welche konkreten Ziele Präsident Kutschma mit dieser Union verfolgt, denn sie ist bezüglich ihrer politischen und wirtschaftlichen Folgen für die Ukraine umstritten.

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Eine Absichtserklärung ohne Details

Am 19. September vergangenen Jahres unterzeichneten die Präsidenten der vier teilnehmenden Staaten einen Vertrag über die Schaffung eines Einheitlichen Wirtschaftsraumes (EWR). Die Initiative dazu ging vom russischen Präsidenten Wladimir Putin aus, der sich von einem Einheitlichen Wirtschaftsraum eine Stärkung der Position der russischen Wirtschaft im Konkurrenzkampf mit den USA, der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China und einer durch die Erweiterung langfristig ökonomisch stärkerer werdenden Europäischen Union verspricht.

Die Werchowna Rada ratifizierte das Dokument mit 265 Ja-Stimmen (von 450 Stimmen), verknüpfte es aber mit dem einschränkenden Zusatz, dass alle noch folgenden Detailvereinbarungen zum Einheitlichen Wirtschaftsraum der ukrainischen Verfassung entsprechen müssen. Dieser Zusatz könnte entscheidend sein für die weitere Ausgestaltung des Abkommens, denn nach Aussage von Oleksandr Tschaly, dem stellvertretenden Außenminister, kann die Spannweite von einer Freihandelszone, die den außenpolitischen Spielraum nicht einengt und seiner Meinung nach auch nicht im Widerspruch steht zu einer Integration in europäische Strukturen, bis hin zu einer Zollunion oder im äußersten Fall einer Währungsunion reichen, die das Ende aller ukrainischen Integrationsbestrebungen in die EU bedeuten würde. Tschaly wurde am 14. Mai auf eigenen Wunsch (!) hin entlassen, da sich seiner persönlichen Meinung nach „das Fenster der Möglichkeiten (für eine EU-Integration) geschlossen“ habe. Damit hat auch der letzte Kämpfer für eine EU-Perspektive die Regierung verlassen.

Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Präsidenten von Russland und der Ukraine auf die Einrichtung einer reinen Freihandelszone beschränken werden, da eine solche zwischen Russland und der Ukraine bereits 1993 und zwischen allen GUS-Mitgliedern 1994 vereinbart wurde. Die Vereinbarungen wurden aber von russischer Seite bis heute nicht ratifiziert. Ende April machte Kutschma deutlich, was er sich von dem Vertragswerk verspricht: „Die Vereinbarung ist ... nicht nur eine ökonomische Kooperation. Sie beinhaltet einheitliche Ziele für alle Bereiche des Lebens in unseren Ländern.“ Dies entspricht auch dem Wunsch Russlands, möglichst bald eine gemeinsame Organisation zu gründen, in der alle Bereiche der Wirtschaftspolitik gemeinsam bestimmt würden, so zum Beispiel einheitliche Zolltarife. Diese Organisation entspräche ihrem Wesen und ihrer Funktion nach einer supranationalen Organisation, der die teilnehmenden Staaten entsprechende Kompetenzen übertragen müssten, was nach Meinung von ukrainischen Verfassungsexperten in Konflikt mit der Verfassung des Landes steht. Die Stimmengewichtung soll das Verhältnis der Wirtschaftskraft der Mitgliedsstaaten abbilden, wodurch Russland 75-80 Prozent und die Ukraine lediglich zehn Prozent Mitbestimmung erhalten würde. Moskau hätte sich somit einen dominanten Einfluss auf seine Nachbarstaaten gesichert und die Ukraine in die Rolle eines unbedeutenden Juniorpartners und Befehlsempfängers degradiert.

Kutschmas Außenpolitik des ständigen Schwankens

Einen Grund für die Hartnäckigkeit Kutschmas bei der Verfolgung des Ziels EWR sehen politische Beobachter unter anderem in seiner Verärgerung über die zögerlich-ablehnende Haltung der Europäischen Union gegenüber der Ukraine. Die aus Brüssel während der Feierstimmung der letzten Wochen aus Anlaß der Erweiterung in Richtung Ukraine gesandten Signale wurden als enttäuschend und eher als Rückschritt denn Fortschritt empfunden. Statt eines eindeutig positiven Signals für eine Assoziierungs- bzw. Beitrittsperspektive kam aus Dublin die Nachricht von der Weigerung der EU, der Ukraine den Status einer Marktwirtschaft zu gewähren, wie ihn Russland bereits erhalten hat. Die Reaktion Kutschmas war eindeutig: „Wir können nicht sitzen und warten, dass man uns sagt, dass wir irgendwann einmal dazugehören würden. Wir leben jetzt.“ Der Status einer Marktwirtschaft ist außerordentlich wichtig für den Zugang zum EU-Markt aufgrund der dort herrschenden Anti-Dumping-Gesetze und auch die letzte Hürde auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft in der WTO. Begründet wurde die Verweigerung mit dem politischen Druck, den die Regierung auf die Opposition und die Medien ausübt, sowie kontroversen Handelsentscheidungen. Der deutsche Botschafter Dietmar Stüdemann zeigte sich von den enttäuschten ukrainischen Kommentaren ungerührt und bezeichnete das ganze als „blame game“, in dem es nur um gegenseitige Schuldzuweisungen ginge: „Den Worten müssen auch Taten folgen. Man legt viel zu sehr Wert auf verbale Signale.“

Wendet sich Kutschma also der russischen Seite zu, um die EU durch den Aufbau einer Drohkulisse dazu zu bewegen, einen EU-Ukraine-Plan zu entwickeln, der Kiew endgültig unabhängig von Moskau macht? Erfolgt sein Eintreten für die ukrainische Beteiligung am EWR aus tiefer Überzeugung oder ist es ein letztes Loyalitätsbekenntnis zum Präsidenten des mächtigen Nachbarn, bevor er in den politischen Ruhestand tritt? In einer Umfrage der Democratic Initiatives Foundation, die in Zusammenarbeit mit dem Sozis-Center im April durchgeführt wurde, geben sich die Ukrainer unentschieden: 39,4% votieren für den Beitritt zum EU-Wirtschaftsraum und genau so viele für den Beitritt zum Einheitlichen Wirtschaftsraum. Interessanterweise ist eine Mehrheit für die gleichzeitige Mitgliedschaft in beiden, was jedoch völlig ausgeschlossen ist. Diese Unmöglichkeit spiegelt sich aber auch in dem Wunsch des Präsidenten Kutschma wider, der in einem strategischen Papier an das Parlament für 2007 das Ziel einer Zollunion mit der EU ausgibt und das gleiche bis 2009 im EWR verwirklicht sehen möchte. Mit der Mitgliedschaft im EWR wird nicht nur die Annäherung an die EU verkompliziert, auch ein WTO-Beitritt würde möglicherweise in Frage gestellt. Denn für den Fall der Einrichtung einer supranationalen Organisation wäre dieses Gremium für die Verhandlungen mit der WTO zuständig und alle bisher von der Ukraine erzielten positiven Ergebnisse hinfällig. Der amerikanische Deputy Assistant Secretary for European and Eurasian Affairs Steven Pifer meinte zu dieser Problematik: „Die Ukraine müsste sich dann die Frage gefallen lassen, ob sie denn nicht schon Mitglied einer Handelsorganisation wäre.“

Abgesehen von den politischen Folgen für die Ukraine herrscht Unklarheit über die wirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Bündnisses. Der Vorsitzende der oppositionellen Fraktion „Nascha Ukraina“ Juschtschenko kritisiert das Vorgehen als ökonomisch unvernünftig: „Die Kooperation mit der EU muss verstärkt werden, denn dieser Markt ist viermal größer als der zu erwartende aus der Kooperation.“ In das gleiche Horn stößt der ehemalige Außenminister Boris Tarasjuk und Vorsitzende des „Ausschusses für die europäische Integration“ im Parlament. Er befürchtet ernsthafte negative wirtschaftliche Konsequenzen, die er mit Zahlen des Leiters des Zentrums für Marktreformen Lanowy untermauert: einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 5%, einen Einbruch des Staatshaushaltes um 8 Mrd. UAH und damit eine negative Auswirkung auf den Lebensstandard der Bevölkerung. Das Gegenteil behauptet der amtierende Premierminister und designierte Präsidentschaftskandidat der pro-präsidentiellen Kräfte Janukowitsch, der von einem Anstieg des Handels mit Russland allein in diesem Jahr um 33% von 15 auf über 20 Mrd. US Dollar ausgeht, für den Fall der baldigen Errichtung des Wirtschaftsraumes. Einige Kräfte erhoffen sich eine Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft durch eine Senkung der Preise für Öl und Gas, die zu 70% aus Russland bezogen werden. Die russischen Inlandspreise für Gas zum Beispiel sind fast zwei Drittel niedriger als die ukrainischen. Ein Wegfall der russischen Steuern und Zölle auf Energieträger würden zwar die ukrainischen Produkte verbilligen und wettbewerbsfähiger machen, doch gleichzeitig ein Loch in den russischen Staatshaushalt reißen. So kostet zum Beispiel ein Kubikmeter Erdgas in Russland etwa 13 Dollar; ein ukrainisches Unternehmen muss dafür aber zwischen 42 und 44 Dollar auf den Tisch legen. Ausgerechnet in diesem einzigen einhellig positiven Punkt für die Ukraine wollte die russische Seite eine Ausnahme erreichen, doch musste sich die Regierung den Forderungen der anderen Länder beugen, keine Ausnahmen zuzulassen. Ungeklärt bliebe auch die Zukunft der ukrainischen Kohlezechen, die um 20 - 40% teurer fördern als die russische Konkurrenz und so auf einem gemeinsamen Markt nicht mehr konkurrenzfähig wären. Befürworter und Gegner präsentieren ökonomische Bilanzen, die ihre jeweiligen Positionen untermauern. So hat z.B. das ukrainische Wirtschaftsministerium errechnet, dass durch den Wegfall von Zöllen und eines Anstiegs der ukrainischen Exporte und des Warenaustauschs sich insgesamt ein Plus von 1,25 Mrd. Dollar ergibt. Der Haushaltsausschuss des Parlaments bezweifelt die Seriosität dieser Berechnungen und weist darauf hin, dass in der optimistischen Hochrechnung des Ministeriums zum Beispiel die zu erwartende russische Kompensationsforderung durch Senkung der Gebühren für den Gastransit durch die Ukraine, die sich negativ auf den Staatshaushalt auswirken würde, nicht enthalten ist.

Ein Thema für „nur“ den Wahlkampf?

Die wirtschaftlichen Folgen des Einheitlichen Wirtschaftsraums für die Ukraine sind schwer einzuschätzen und die Bewertungen von Regierung und Opposition könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Der Regierung hat auf außenpolitischem Gebiet mit der Ratifizierung des Abkommens ein Thema besetzt, mit dem Premierminister Janukowitsch im anstehenden Präsidentschaftswahlkampf vor allem im bevölkerungsreichen und stark industrialisierten Osten und im Süden der Ukraine Punkte sammeln kann, die einer Union mit Russland traditionell eher zugeneigt sind als einer EU-Integration. Der Oppositionskandidat Juschtschenko und die ihn unterstützenden Parteien und Fraktionen haben sich dagegen deutlich mit Hinweisen auf die politischen und wirtschaftlichen Folgen gegen den Vertrag ausgesprochen und spiegeln das im EU-orientierten Westen vorherrschende Meinungsbild wider. Das Brüsseler „Nein“ hinsichtlich der Gewährung des Status einer Marktwirtschaft und die Zurückhaltung der Kommission, der Ukraine einen Zeitplan bis zu einer Assoziierung vorzulegen, machen der Opposition das Leben nicht leichter und haben denjenigen Kräften eine Steilvorlage geliefert, die dem „Projekt Europa“ ohnehin skeptisch gegenüber standen. Juschtschenko hat den Schuldigen für die europäisch-ukrainische Verstimmung ausgemacht, nämlich den Präsidenten Kutschma, „dessen Innenpolitik im Gegensatz zu europäischen Werten steht.“ Ferner versprach er seinen Bürgern, dass im Falle seines Wahlsieges die „Ukraine nach zwei oder drei Jahren so viele Fortschritte gemacht haben wird, um klare Signale von der EU zu erhalten.“ Der ukrainische Premierminister hat seinerseits einen Schlussstrich unter die Diskussion gezogen und die neue Marschroute vorgegeben: „Wir werden nicht in einem Waggon dritter Klasse nach Brüssel fahren.“ Der stellvertretende Ministerpräsident Asarow erklärte das strategische Ziel der ukrainischen Außenpolitik folgendermaßen: „Die Politik der europäischen Integration ist nicht identisch mit dem Ziel der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.“

Nach Meinung von politischen Experten ist das Abkommen, das im Laufe dieses Monats von den vier Präsidenten unterzeichnet werden soll, nicht unumkehrbar. Sobald sich der Pulverdampf des Wahlkampfs verzogen hat, ein neuer Präsident das Ruder übernimmt, Einzelheiten des Vertragswerks und der Fahrplan der Integration bekannt werden und der EU-Ukraine-Aktionsplan unterschriftsreif vorliegt, wird sich die Aufregung legen und die Verantwortlichen in Kiew und Brüssel werden eine beide Seiten befriedigende pragmatische Lösung finden. Für den traurig–pessimistischen Ausblick eines Journalisten der Wochenzeitung „Den“ ist im Augenblick noch zu früh. Er schreibt zur Haltung der Europäer: „Vielleicht liegt die Entwicklung (Schaffung des EWR) ja im Sinne des Westens. Es ist viel einfacher mit einer de facto Einheit zu verhandeln, so dass alle Probleme in einer einzigen Hauptstadt gelöst werden können.“

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Gabriele Baumann

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Leiterin des Projekts Nordische Länder

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04 iunie 2004
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