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Flucht aus Russland

de Dr. Thomas Kunze, Stefanie Franzl, Leonid Syrota

Der russische Angriffkrieg auf die Ukraine ist auch in Russland eine Zeitenwende, denn immer mehr Menschen verlassen das Land.

Der 24. Februar 2022 markiert auch eine Zeitenwende in der russischen Gesellschaft. Über einer Million Menschen könnten das Land bereits verlassen haben. Die Exodus-Bewegungen sind dabei unterschiedlich geprägt und in verschiedene Gruppierungen einzuteilen. Die Auswanderungswellen aus Russland stellen die europäischen Staaten vor grundsätzliche Fragen über den Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigerern. In anderen Weltgegenden wie in Zentralasien sorgen die Ausreisewellen hingegen zunächst für wirtschaftliche Hoffnungen. Entgegen von Befürchtungen hat Russland seine Grenzen bislang (noch) nicht geschlossen. Das Verlassen des Landes ist den Bürgern in der Regel weiterhin möglich. Die russische Regierung scheint in der augenblicklichen Lage einen Vorteil darin zu sehen, wenn kritische Stimmen und Protestpotential Russland verlassen. Den Ton für den Umgang mit Exilanten prägt dabei der ehemalige Präsident Dimitri Medwedjew, Putins Stellvertreter im Nationalen Sicherheitsrat: „Verräter, die ihr Land so sehr hassen, dass sie seine Niederlage fordern, müssen als Staatsfeinde betrachtet werden. (…) Solche Personen sollten bis zum Ende ihres Lebens nicht nach Russland zurückkehren dürfen. (…) Die Rückkehr nach Hause kann nur bei eindeutiger öffentlicher Reue und durch Amnestie oder Begnadigung erfolgen. Obwohl es für sie besser wäre, nicht zurückzukehren.“

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Drei Auswanderungswellen

Die Fluchtbewegungen setzten ein im Februar und März 2022, unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Tausende Aktivisten verließen während einer ersten Flüchtlingswelle das Land. Darunter befanden sich vor allem Journalisten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Kulturschaffende. Sie entzogen sich möglichen Repressionen, denen sie sich ausgesetzt sahen oder den gravierenden Folgen, die sie befürchteten. Eine zweite Auswanderungswelle begann im Juli 2022. Hier handelte es sich überwiegend um Angehörige der mittleren und oberen Mittelschicht. Oft waren es Einzelpersonen oder Familien, die sich einige Wochen auf diesen Schritt vorbereiteten, ihr Geschäft oder Unternehmen geschlossen, ihre Arbeit gekündigt und das Ende des Schuljahres abgewartet hatten. Mit der Teilmobilmachung der Streitkräfte am 21. September 2022 löste die russische Regierung die dritte große Flüchtlingsbewegung aus. An den Grenzen zu Nachbarländern, wie z.B. an der russisch-georgischen und der russisch-kasachischen Grenze, wurden Schlangen von zehntausenden Männern im wehrpflichtigen Alter registriert, die Russland verlassen wollten. Während der dritten Fluchtwelle, ab September 2022, dürften insgesamt mehrere Hunderttausend Männer, die sich der Einziehung zum Wehrdienst entziehen wollten, das Land verlassen haben. Die meisten Flüchtlinge der dritten Welle flohen nach Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Israel, Kasachstan, Kirgistan, in die Türkei und nach Usbekistan.[1] Keines dieser Länder verlangt ein Einreisevisum für russische Bürger. Aber auch die Vereinigten Arabischen Emirate, und hier vor allem Dubai, entwickeln sich mehr und mehr zum Auffangbecken russischer Flüchtlinge.

 

Umgang mit den Flüchtlingen

Die Einreise in die EU gestaltet sich deutlich schwieriger. Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen lassen seit September 2022 keine russischen Staatsangehörigen mit einfachen touristischen Schengen-Visa mehr einreisen.[2] Zwar sind in den von diesen Ländern verhängten Einreisestopps Ausnahmen verankert, so gibt es Einreisemöglichkeiten aus humanitären Gründen, für Familienzusammenführungen, Menschen mit Aufenthaltserlaubnis oder den Transit von Personen aus der russischen Exklave Kaliningrad, für die Mehrzahl der russischen Flüchtlinge bleibt jedoch der direkte Landweg nach Europa versperrt.

Russische Kriegsdienstverweigerer hätten theoretisch die Möglichkeit, in Deutschland und anderen europäischen Ländern einen Antrag auf Asyl zu stellen. Aus einem Drittstaat heraus ist dies jedoch nicht möglich. Auch ein sogenanntes Botschaftsasyl, bei welchem der Flüchtling an einer europäischen Auslandsvertretung einen Asylantrag stellen kann, ist nicht möglich.

Über den Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigerern wird innerhalb der EU aktuell diskutiert. Finnland, Polen und die baltischen Staaten sperren sich gegen eine Aufnahme. Sie sehen in den Kriegsdienstverweigerern eine Sicherheitsbedrohung, da auf die Weise russische Agenten in andere EU-Länder gelangen könnten. Deutschland und Frankreich zeigen sich prinzipiell offen für die Aufnahme russischer Flüchtlinge. Auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung befürwortet nach einer aktuellen Umfrage des ARD-Deutschlandtrends die Aufnahme von russischen Kriegsdienstverweigerern.[3] Im Zusammenhang mit den Exilbewegungen aus Russland dürfen aber Sicherheitsaspekte nicht übersehen werden. Gerade aus Regionen des Nordkaukasus wie Tschetschenien war in den vergangenen Jahren ein Zustrom von Flüchtlingen in die EU zu verzeichnen, der die europäische Gemeinschaft mit Blick auf den islamischen Extremismus vor eine gesonderte Herausforderung stellt.[4]

Auf der Internetseite „Make it in Germany“ wirbt die Bundesregierung um ausländische Fachkräfte. Gesucht werden vor allem Pflegekräfte, Ärzte, Ingenieure, Naturwissenschaftler, Handwerker und IT-Spezialisten.[5] Russische Staatsbürger können sich u.a. hier um eine Stelle in einem deutschen Unternehmen bewerben und mit einer entsprechenden Zusage anschließend ein Visum beantragen. Für all jene, die kurzfristig das Land verlassen müssen, ist diese Möglichkeit jedoch nicht geeignet. Festzuhalten bleibt, dass der Weg nach Deutschland für russische Flüchtlinge sich derzeit als schwierig erweist. Eine einheitliche europäische Einigung ist nicht in Sicht. Dabei könnte Deutschland von den Auswanderern profitieren. Viele der Menschen, die aus Russland fliehen, gehören zur intellektuellen Elite des Landes. Laut eines Berichtes des russischen Ministers für Digitalentwicklung und Kommunikation, Maxut Schadajew haben im Jahr 2022 rund 100.000 IT-Spezialisten das Land verlassen.[6] Die große Anzahl der flüchtigen IT-Spezialisten hat neben wirtschaftlichen Gründen auch gesellschaftliche Gründe. Dieser Personenkreis steht der russischen Politik in großer Zahl kritisch gegenüber. Die Regierungspropaganda verfängt in der aufgeklärteren, progressiven IT-Branche kaum.

Vor allem zentralasiatische Länder haben erkannt, dass die Aufnahme hochqualifizierter russischer Fachkräfte die eigene Wirtschaft bereichern kann. In Kasachstan erhalten die Flüchtlinge einen Aufenthaltsstatus, Steuererleichterungen und Zuschüsse für Unternehmensgründungen. Auch Usbekistan vergibt Aufenthaltsgenehmigungen. Kirgisistan gewährt russischen Flüchtlingen den Status „digitaler Nomaden“, der es ihnen ermöglicht, ohne Genehmigung zu arbeiten und sofort eine persönliche Identifikationsnummer zu erhalten, die eine Unternehmensgründung erlaubt. Viele Flüchtlinge nutzen Telegram-Kanäle als Hauptinformationsquelle. So gibt es zahlreiche Gruppen unter der Überschrift: „Umzug nach Kasachstan“, „Umzug nach Usbekistan“ oder „Willkommen in Kirgisistan“.

 

Exilopposition

Fraglich ist, wie sich die vielen russischen Exilanten politisch engagieren werden. Zwar emigrieren nicht ausschließlich politisch aktive Personen aus Russland, trotzdem gibt es derzeit zahlreiche aktive politische Gruppen. Die russische Opposition im Ausland kann derzeit in mehrere Gruppierungen unterteilt werden. So ist als erste die Gruppe der „alten Berufsopposition“ zu nennen. Dabei handelt es sich um ehemalige Vertreter der früheren legalen Opposition in Russland, darunter einstige Duma-Abgeordnete, Minister und Beamte. Die zweite Gruppe besteht aus Bürgeraktivisten. Sie befinden sich in Gegnerschaft zum politischen Regime in Russland, kämpfen aber nicht um eigene politische Macht. Ihr Ziel ist es, in den Ländern, in denen sie ihren Wohnsitz haben, gemeinnützige Organisationen zu gründen, humanitäre Hilfe und das russische Kulturwesen zu fördern. Die dritte Gruppe setzt sich aus Aktivisten und Auswanderern zusammen, die Russland in den zurückliegenden zwei Jahren oder nach dem 24. Februar verlassen haben. Sie sind zum Teil aktive Gegner der gegenwärtigen russischen Führung. Diese Gruppe wird mit den anhaltenden Flüchtlingszahlen weiter anwachsen.

Die schillerndste Figur der russischen Exilopposition ist nach wie vor Michail Chodorkowski. Der mittlerweile in London lebende ehemalige Oligarch hat keinen direkten Einfluss mehr auf die russische Innenpolitik. Auch die gesamte ehemalige Gruppe um den bekannten Oppositionsführer Alexei Nawalny befindet sich mittlerweile im Exil. Sie hat sich in drei miteinander konkurrierende Lager gespalten, die sich um Leonid Wolkow, Ljubow Sobol und Wladimir Milow gruppieren. Ihre jeweilige Oppositionsarbeit konzentriert sich auf die sozialen Medien. Allerdings nimmt der Einfluss der Nawalny-Bewegung auf die Ereignisse in Russland ab. Im Vergleich zu den Filmen, die Nawalny selbst produziert hatte, finden die Berichterstattungen seiner einstigen Mitarbeiter eher wenig Beachtung.

Die politische Arbeit der Exilanten aus Russland erfolgt in kleinen, disparaten Gruppen, die überall in der Europäischen Union sowie in den anderen Exil-Staaten, vor allem im Südkaukasus, in Zentralasien, in Israel und der Türkei, existieren. Derzeit sind sie kaum institutionalisiert. Ein gemeinsamer Austausch beruht eher auf Zufällen und persönlichen Verbindungen. Sie konkurrieren untereinander außerdem um finanzielle Förderung und mediale Aufmerksamkeit. Durch diese „Zerstückelung“, Uneinigkeit und den mangelnden Einfluss nach Russland kann der politische Einfluss der russischen Exilanten vorerst als gering eingeschätzt werden.

 


[1] Vgl. Golubew, Sergej: “Россияне поставили рекорд по выездам в Центральную Азию. Что говорят последние данные о пересечениях границы “, in: Mediazona, 8.11.2022, https://zona.media/article/2022/11/08/exit, letzter Zugriff: 27.12.2022.

[2] Vgl. RBB: „Lage an Grenzen nach Einreisestopp für Russen ruhig“, 20.9.2022, https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/politik/2022/09/einreisestopp-polen-litauen-estland-lettland-brandenburg.html, letzter Zugriff: 9.11.2022; Vgl. Handelsblatt: „Finnland stoppt Einreise russischer Touristen“, https://www.handelsblatt.com/politik/international/grenzschutz-finnland-stoppt-einreise-russischer-touristen/28715178.htm, 29.9.2022, letzter Zugriff: 9.1.2023.  

[3] Vgl. ARD: „ARD-Deutschlandtrend, Oktober 2022“, https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/dtrend-okt-2022-101.pdf, letzter Zugriff: 27.12.2022, S. 32.

[4] Vgl. Schliefhack, Caspar: „Sicherheitsrelevante Entwicklungen in den tschetschenischen Gemeinden in Deutschland“, Konrad-Adenauer-Stiftung - Sicherheitsrelevante Entwicklungen in den tschetschenischen Gemeinschaften in Deutschland (kas.de), letzter Zugriff: 8.1.2022.

[5] Vgl. Bundesregierung, https://www.make-it-in-germany.com/de/, letzter Zugriff: 27.12.2022.

[6] Vgl. Nachrichtenagentur TASS, 20.12.2022, https://tass.ru/ekonomika/16639651, letzter Zugriff: 27.12.2022.

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