Am Abend des 3. März 2022, einige Tage nachdem der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenski eine Bitte um unmittelbare Aufnahme in die EU unterschrieb, unterzeichneten in der Republik Moldau Staatspräsidentin Maia Sandu, Premierministerin Natalia Gavrilița und Parlamentspräsident Igor Grosu den Antrag der Republik Moldau auf EU-Mitgliedschaft. Kurz darauf lässt Maia Sandu auf ihrem Twitter-Account verlautbaren: „Die Zeit ist reif: “#Moldova officially signs the application for membership to join the #European Union. Moldovian [Symbol] citizens are prepared to work hard towards a stable and prosperous future in the EU [Symbol] & the family of European states” (@sandumaiamd, 03.03.2022, 18:49)”. Am nächsten Tag reichte Daniela Morari, Botschafterin der Republik Moldau bei der EU, den Antrag in Brüssel ein.
Während die moldauische Opposition, Zivilgesellschaft und auch Vertreter der EU-Institutionen zunächst noch etwas überrascht schienen und eine Weile brauchten, um sich zu Wort zu melden, re-tweetete der Twitter Account des rumänischen Staatspräsidenten Klaus Iohannis die Meldung von Maia Sandu unmittelbar und veröffentlichte wenige Minuten später einen eigenen Tweet: „Ich begrüße den heutigen historischen Schritt von Präsidentin Maia Sandu @sandumaiamd. Rumänien wird den Platz der Republik Moldau in der Familie der Europäischen Union weiterhin aufrichtig, beständig und aktiv unterstützen. Wir werden die Republik Moldau in diesem Bestreben uneingeschränkt unterstützen.“ (übersetzt aus dem Rumänischen; @KlausIohannis, 03.03.2022, 18:58)
Rumäniens Rolle
Es wirkt, als hätten sich die Presseabteilungen der moldauischen Staatspräsidentin und des rumänischen Staatspräsidenten gut abgestimmt. Dies wäre auch nicht verwunderlich: Die Integration der Republik Moldau in die Europäische Union zählt zu den außenpolitischen Prioritäten Rumäniens. Die beiden Nachbarländer sind historisch, kulturell, und sprachlich eng miteinander verbunden. Viele Moldauer besitzen auch einen rumänischen Pass. Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist man in Rumänien um die Sicherheit des Nachbarlandes besorgt: Von 1940 bis 1991 war das Land als Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik eine Unionsrepublik der UdSSR. Die geschichtsrevisionistische Begründung, die der russische Präsident Wladimir Putin seinem Angriff auf die Ukraine vorausschickte, könnte er auch gegen die Republik Moldau wenden. Zumal das Land nach wie vor von einem eingefrorenen Territorialkonflikt geschwächt und damit ein leichtes Ziel für russische Angriffe ist.
Der rumänische Europaabgeordnete Siegfried Mureșan ist der Ansicht, dass die Antwort der Europäischen Union auf den moldauischen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gerade deshalb lauten sollte: "Ja, Sie sind willkommen; lassen Sie uns mit der Arbeit beginnen". Dem Europaabgeordneten zufolge hat die Republik Moldau im vergangenen Jahr gezeigt, dass sie die mit der EU vereinbarten Reformen durchführen will und kann und die europäische Integration anstrebt." Siegfried Mureșan verwies darauf, dass die Republik Moldau von einer pro-europäischen Mehrheit geführt werde. Die Bürger des Landes hätten bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit überwältigender Mehrheit für diesen Kurs gestimmt.
Ursula von der Leyen sagte am 06.03.2022, dass der Antrag der Ukraine auf einen EU-Beitritt einen Prozess angestoßen habe, der aber noch Zeit benötige. Auf die Frage nach einem Beitrittstermin antwortete sie: „Das ist schwer zu sagen, weil es natürlich davon abhängt, wie die Entwicklung vor Ort ist.“ Für einen Beitritt sei noch einige Arbeit notwendig. Wann Reaktionen auf das Gesuch der Republik Moldau und Georgiens, das ebenfalls eingereicht wurde, zu erwarten sind, ist noch unklar (faz.net, Liveticker Ukraine, 06.03.2022).
Reaktionen im Land
Mihai Mogâldea, Experte beim renommierten moldauischen Think Tank IPRE, äußerte sich in der Folge skeptisch über die Bereitschaft der EU, Ausnahmen für die drei assoziierten Staaten zu machen, um ihnen den Beitritt in einem vereinfachten Verfahren zu ermöglichen: "Wir müssen die Umstände berücksichtigen, unter denen dieser Antrag gestellt wurde. Für die Republik Moldau und für Georgien hat sich ein Fenster der Möglichkeiten geöffnet, nachdem die Ukraine den Antrag in einem anderen Kontext als dem unseren gestellt hat. Ein beschleunigtes Verfahren außerhalb der Verträge der Europäischen Union ist nicht möglich. Die Verfahren können durch die Bemühungen der Europäischen Union und der Republik Moldau, Reformen schneller durchzuführen, lediglich beschleunigt werden.“ (adevarul.md, 05.03.2022).
„Die Republik Moldau ist institutionell und wirtschaftlich noch nicht bereit für den Beitritt zur Europäischen Union. Der Integrationsprozess wird in Etappen ablaufen - assoziierter Staat, Beitrittskandidat, Erfüllung aller vertraglichen Bedingungen und Erlangung des Mitgliedsstatus", erklärte auch der Oppositionspolitiker Stefan Gligor in der Talkshow "Ghețu fragt" im moldauischen Fernsehsender TV8.
Die Erwartungen an die Europäische Union seitens der moldauischen Staatsspitze, aber auch seitens der Parteien und Zivilgesellschaft sind also durchaus realistisch. Allerdings gibt es auch Stimmen, die darauf hinweisen, dass ein Antrag auf EU-Mitgliedschaft zum aktuellen Zeitpunkt sehr ungünstig gewesen sei.
Mögliche Hürden
"Ich hoffe, dass es in der Republik Moldau nicht zu einer Destabilisierung kommen wird, jetzt, wo wir einen Krieg an der Grenze haben. Ich hoffe, dass sich die Parteien in der Republik Moldau vernünftig verhalten und Botschaften vermeiden, die die Gesellschaft spalten. Die Tatsache, dass sich die Staatspräsidentin mit parlamentarischen und außerparlamentarischen Parteien getroffen hat, ist ein Zeichen dafür, dass provokative Botschaften vermieden werden sollten", sagte der "IDIS Viitorul"-Experte Veaceslav Berbeca (adevarul.md, 05.03.2022).
Und in der Tat: Russland ist nicht nur gegen die Osterweiterung der NATO, die als Bedrohung der eigenen nationalen Sicherheit gesehen wird. Russlands ist auch gegen eine Osterweiterung der EU. Andererseits darf Russland nicht behaupten, dass die EU-Annäherung der Republik Moldau jetzt irgendwie überraschend komme: Bereits 1998 trat ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der Republik Moldau und der Europäischen Union in Kraft. Die EU unterstützte dabei den Aufbau der Marktwirtschaft sowie einer funktionierenden Demokratie im Land. 2010 wurden in Chișinău im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik der EU die Assoziierungsgespräche mit der Republik Moldau aufgenommen. Langfristig sei die EU-Mitgliedschaft zwar ein Ziel, sagte der damalige moldauische Außenminister Iurie Leancă, aber vorerst wolle man eine Freihandelszone schaffen, gemeinsam wirtschaftliche Probleme lösen und vor allem die Visumpflicht für moldauische Bürger abschaffen. Am 27.06.2014 wurde in Brüssel das wirtschaftliche und politische Assoziierungsabkommen zwischen der Republik Moldau und der EU geschlossen. Am 02.07.2014 hat das moldauische Parlament das EU-Assoziierungsabkommen ratifiziert. Dass die Republik Moldau ein Beitrittsantrag einreicht, ist im Zuge dieser Entwicklung also nur folgerichtig.
Beschleunigt wurde dieser Prozess fraglos durch die geschichtsrevisionistischen Äußerungen des russischen Präsidenten und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für die Republik Moldau wurde deutlich, dass es ohne EU-Einbindung Russland schutzlos ausgeliefert sein werde. Moskau hat bewiesen, dass ein Status als neutraler Staat für den Schutz vor russischen Zudringlichkeiten vermutlich wertlos ist. Bereits ab März 2014, als Russland die ukrainische Krim völkerrechtswidrig annektiert hatte und das damit verbundene Budapester Memorandum gebrochen hatte, wuchsen in der Republik Moldau die Ängste vor einer möglichen russischen Aggression. Die Bombardements am frühen Morgen des 24.02.2022 auf die ukrainische Hafenstadt Odessa waren auch in der nur 180km weit entfernten moldauischen Hauptstadt Chisinau zu hören. Auch im Nordosten des Landes waren Einschläge auf der ukrainischen Seite zu hören.
Die bange Frage, die bei vielen Moldauern die große Freude über den Schritt hin zur EU-Mitgliedschaft trübt, lautet: Was wird mit Transnistrien?
Die Transnistrien-Frage
Die Moldauische Sowjetrepublik wurde 1991 im Zuge der Auflösung der UdSSR zur unabhängigen Republik Moldau. Während dieser nationalen Selbstfindungsphase kam es zu einer von einigen Bevölkerungsgruppen als zu rumänisch-nationalistisch empfundenen Politik, die zu größeren Konflikten zwischen der Zentralregierung in Chișinău und überwiegend von ethnischen Minderheiten bewohnten Gebieten - insbesondere Transnistrien und Gagausien - führte. Letztere Regionen hatten bereits 1990 ihre Unabhängigkeit erklärt. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Massenprotesten. In Transnistrien eskalierte die Situation ab 1992 und es kam zu einem Bürgerkrieg mit über 1.000 Toten, der schließlich mit der Abspaltung des separatistischen Landesteils Transnistrien, bzw. der selbsternannten „Pridnestrowischen Moldauischen Republik“ endete. Die Kämpfe wurden erst durch das Eingreifen der auf transnistrischem Territorium stationierten russischen 14. Armee unter Führung von General Alexander Lebed beendet. Verhandlungen zur Lösung des Transnistrien-Konflikts führten bislang zu keinem Erfolg, so dass sich beide Konfliktparteien inzwischen mit dem Status quo weitgehend arrangiert haben. Während die Region Gagausien 1994 erfolgreich und friedlich wieder in die Republik Moldau eingegliedert werden konnte, nachdem ein umfangreiches Autonomieabkommen ausgehandelt worden war, sind in Transnistrien nach wie vor russische Truppen stationiert.
Während sich die Situation in der Ukraine im Januar und Februar 2022 immer weiter zuspitzte, sorgte man sich in der Republik Moldau, dass von Transnistrien aus sogenannte „false flag“-Operationen durchgeführt werden könnten, um die Ukraine zu diskreditieren und Russland den Kriegsbeginn zu ermöglichen. In Cobasna, im Norden Transnistriens, lagern zudem noch riesige Mengen (genannt wird die Zahl von rund 22.000 Tonnen) Munition aus ehemaligen Sowjetbeständen.
Es kann nun nicht verwundern, dass die transnistrische Führung in Tiraspol kurz nach dem Beitrittsgesuch der Republik Moldau zur EU erneut eine Anerkennung ihrer Unabhängigkeit fordert. „The time is now!“, mag man sich auch in Tiraspol denken. Tiraspol fordert die Republik Moldau in einer veröffentlichten Erklärung auf, einen Dialog mit Transnistrien aufzunehmen, "mit dem Ziel einer endgültigen zivilisierten Regelung der Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen und gutnachbarlichen Existenz zweier unabhängiger Staaten durch die Unterzeichnung eines zwischenstaatlichen Abkommens". Außerdem fordert Transnistrien die Vereinten Nationen, die OSZE, die Vermittler und Beobachter im Verhandlungsprozess sowie die internationale Gemeinschaft insgesamt auf, "Transnistrien, das seit mehr als 30 Jahren besteht, anzuerkennen", und die Republik Moldau, "die Achtung des Rechts des transnistrischen Volkes auf Selbstbestimmung zu gewährleisten und diplomatische Beziehungen mit Transnistrien aufzunehmen".
Auf Seiten Chişinăus wies das Büro für Reintegration darauf hin, dass die transnistrische Region seit langem ein direkter Empfänger zahlreicher EU-Hilfsprogramme sei. „Wir sind der Ansicht, dass unsere gemeinsamen Bemühungen auf die Förderung vertrauensbildender Maßnahmen zwischen den beiden Seiten des Dnjestr gerichtet sein sollten. Die Region Transnistrien ist ein direkter Nutznießer der zahlreichen Hilfsprogramme, die von der Europäischen Union angeboten werden, und diese Programme werden in ihrem Umfang noch zunehmen und allen Einwohnern des Landes zugutekommen", stellt die Institution fest. "Chişinău ist weiterhin offen für einen konstruktiven Dialog in allen bestehenden Verhandlungsformaten und gleichzeitig entschlossen, alle verbleibenden Probleme im Hinblick auf die Wiedereingliederung der Republik Moldau nur im Dialog zu lösen", heißt es in der Stellungnahme (agora.md).
Bislang gibt es keine konkreten Hinweise, dass der russische Präsident Putin plant, die Republik Moldau anzugreifen oder die Unabhängigkeit Transnistriens anzuerkennen. Tiraspol hat in den letzten dreißig Jahren zahlreiche ähnliche Anträge auf Anerkennung gestellt. Nicht einmal die ausschließlich an Moskau gerichteten Anfragen sollen bisher beantwortet worden sein. Ein Hauptgrund, warum Transnistrien bisher nicht den Weg Abchasiens, Südossetiens und der separatistischen Regionen in der Ostukraine eingeschlagen hat, ist wohl das Fehlen einer gemeinsamen Grenze mit Russland. Sollte sich diese im Zuge des Russischen Krieges gegen die Ukraine ändern, ändert sich auch die Lage für Chisinau und Tiraspol. Auch dieser Umstand könnte die moldauische Staatspräsidentin bewogen haben, jetzt den Antrag auf EU-Beitritt zu stellen. „The time is now!“, gilt auch hier, bzw. wird die Nagelprobe erfolgen, sollte die russische Armee bei Odessa landen und die direkt an die Republik Moldau angrenzenden ukrainischen Oblaste einnehmen.
So schwebt die Republik Moldau zwischen Hoffnung, Luftanhalten und berechtigter Sorge vor dem aggressiven Russland. „The time is now“, gilt damit auch für die Europäische Union und ihr wahrnehmbares Bemühen, bei der Erweiterungspolitik endlich auch stärker geostrategisch zu denken.