Rapoarte de țară
Die ebenso überraschende Begründung der Gerichte laute, Nastase habe am Wahltag unerlaubte „Agitation“ betrieben, indem er die Wähler mehrfach zur Stimmabgabe aufrief. Dabei ging es nicht einmal darum, dass Nastase zur eigenen Wahl aufgerufen hätte. Er hatte lediglich die Wähler aufgerufen, überhaupt wählen zu gehen, wie dies moldauische Politiker auch bei vorangegangen Wahlen immer wieder getan hatten. Den Gerichten zufolge sei aber lediglich die Wahlkommission zu Wahlaufrufen berechtigt. Das Wahlgesetz enthält dazu allerdings keine Bestimmung.
Das Urteil wirkt umso fragwürdiger als niemand, auch nicht die Gerichte, eine Verfälschung des Wählerwillens annehmen. Vielmehr ist offenkundig, dass Nastase selbst in vieler Hinsicht benachteiligt war, indem er vom Zugang zu Finanzen und den meisten Massenmedien weitgehend abgeschnitten war und in den sozialen Netzwerken massiven Fake News- und Verleumdungskampagnen ausgesetzt war. Dem Urteil in erster Instanz vorausgegangen war ein separates Verfahren über zwei Klagen der im zweiten Wahlgang unterlegenen pro-russischen Partei der Sozialisten (PSRM), die Nastase neben der Agitation am Wahltag auch die – in der Moldau verbotene – Nutzung der Unterstützung ausländischer Politiker im Wahlkampf vorgeworfen hatte. Letzterer Vorwurf war vom zuständigen Obersten Gericht bereits zurückgewiesen worden. Nach eigenen Angaben hatte die PSRM mit ihrer Klage allerdings nicht die Annullierung der Wahl angestrebt, sondern im Gegenteil nur einen Präzedenzfall, der die Möglichkeiten, Wahlen künftig aus ähnlichen Gründen anzufechten, beschränken sollte. Bereits am Wahltag hatte Nastases Gegenkandidat von der PSRM die Wahl als korrekt bezeichnet und Nastase zum Sieg gratuliert. Vor Gericht hatte auch die PSRM die Anerkennung der Wahl gefordert.
Bereits nach dem Urteil des Amtsgerichts am 19.6. war es zu spontanen Demonstrationen gekommen. Nach Aufrufen der pro-europäischen Oppositionsparteien, insbesondere der Partei Aktion und Solidarität (PAS) der ehemaligen Bildungsministerin und Präsidentschaftskandidatin Maia Sandu, der Plattform Würde und Wahrheit (PDA) von Andrei Nastase sowie der Liberaldemokratischen Partei (PLDM) hatten am vergangenen Sonntag mehrere zehntausend Bürger in Chisinau demonstriert. In der moldauischen Öffentlichkeit wird das Urteil weithin als politische Entscheidung wahrgenommen und der herrschenden Demokratischen Partei (PDM) und ihrem Vorsitzenden Vlad Plahotniuc, des mächtigsten Mannes in der Moldau, zugeschrieben. Die Justiz gilt als politisch kontrolliert. Insbesondere die pro-europäische Opposition spricht zudem von einem faktischen Bündnis zwischen der PDM und der PSRM.
Während Nastase sich als entschiedenster Gegner von Plahotniuc profiliert hatte, war die von der PDM informell mit großen Medienaufwand unterstützte, aber als unabhängige Technokratin präsentierte Kandidatin für das Bürgermeisteramt überraschend im ersten Wahlgang mit nur 17,5 Prozent weit abgeschlagen. Dieses Ergebnis hat die Möglichkeiten der PDM, ihre Machtposition bei den Ende des Jahres anstehenden Parlamentswahlen zu bestätigen, massiv in Frage gestellt. Bereits die jetzige Regierungsmehrheit kam nicht durch Wahlen, sondern nur durch Parteiwechsel von mehr als einem Drittel aller Abgeordneten zustande. Die PDM selbst hatte bei den letzten Parlamentswahlen 16 Prozent erhalten und verharrt in Umfragen seitdem um die zehn Prozent oder deutlich darunter. Wohl auch deshalb hatten PDM und PSRM bereits gegen die Warnungen der Venedig-Kommission des Europarates und der EU das Wahlrecht geändert, sodass künftig die Hälfte der Parlamentssitze durch Direktwahlen nach dem relativen Wahlrecht vergeben wird. Für die PDM verband sich damit die Hoffnung, dass in den meisten Wahlkreisen „unabhängige“ Kandidaten gewählt werden, die ihre Regierungsmehrheit auch künftig sichern würden. Die Venedig-Kommission hatte in diesem Zusammenhang ausdrücklich davor gewarnt, dass „unabhängige“ Kandidaten tatsächlich unter dem Einfluss mächtiger Geschäftsinteressen stehen könnten. Die Wahl in Chisinau dürfte aber auch innerhalb der PDM das Vertrauen erschüttert haben, dass ein Machterhalt durch Wahlen selbst unter dem neuen Wahlrecht möglich ist. In der Absurdität, eine Wahl aufgrund von Aufrufen zur Wahl für ungültig zu erklären, kann daher durchaus eine Methode liegen. Denn als Signal vermittelt es sowohl der Gefolgschaft der PDM in den Institutionen wie den Wählern des politischen Gegners, dass der Wählerwille allenfalls bedingt noch über die Machtverteilung entscheidet. Vor dem Hintergrund der anstehenden Parlamentswahlen ist es vermutlich der PDM wichtiger, im Inland den Eindruck von Kontrollverlust zu verhindern als Glaubwürdigkeit gegenüber den europäischen Partnern zu wahren.
Auch die Reaktionen der westlichen Partner der Moldau sehen in dem Urteil jedenfalls implizit oder explizit politische Willkür. EU-Botschafter Peter Michalko, zeigte sich „extrem besorgt“ über die Annullierung der Wahl und verwies darauf, dass es zu den europäischen Werten gehöre, dass der Wille des Volkes respektiert werde. In einer Stellungnahme der Deutschen Botschaft hieß es, dass die Wahl korrekt verlaufen sei. Der gewählte Kandidat müsse sein Amt antreten. Auch die US-Botschaft sprach von einer „unerwarteten und intransparenten“ Entscheidung, die eine Besorgnis erregende Entwicklung darstelle und das Vertrauen der Moldauer in demokratische Prozesse unterminiere. Selbst die rumänische Regierung, bislang der stärkste internationale Fürsprecher der moldauischen Regierung, sprach durch ihren Außenminister von einer „gravierenden“ Entscheidung, die sich auf die Stabilität der Republik Moldau auswirken könne.
Für die Europäische Volkspartei erklärte deren Vorsitzender Joseph Daul, er sei „entrüstet über die Aushöhlung der Demokratie in der Republik Moldau“ und warf dem „Kartell“ von Plahotniuc und Staatspräsident Dodon vor, „das politisch kontrollierte Justizwesen“ zu verwenden, um durch die Hintertür einen „eigenen“ Bürgermeister zu bestimmen. Noch vor der Entscheidung des Appellationsgerichts war die Annullierung der Wahl Thema im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europaparlaments am Donnerstag. Im Anschluss an die Sitzung veröffentlichten der Vorsitzende David McAllister (EVP), Rebecca Harms (Grüne), Co-Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung der Östlichen Partnerschaft, und Petras Austrevicius (ALDE), Berichterstatter im Europäischen Parlament für die Republik Moldau, eine Erklärung, in der festgestellt wird, dass die politische Einflussnahme auf die Justiz und auf die Durchführung von Wahlen den europäischen Standards widerspreche, denen sich die Republik Moldau im Assoziierungsabkommen mit der EU verpflichtet habe. Zugleich wurde die moldauische Regierung gewarnt, dass die makrofinanzielle Unterstützung durch die EU von der Einhaltung demokratischer Mechanismen und der Rechtsstaatlichkeit abhänge – eine Voraussetzung, die zurzeit nicht gegeben sei.
Nastase hat von „kriminellen Entscheidungen“ der Gerichte gesprochen und das Verfahren als „absurd“ bezeichnet. Maia Sandu, die Nastase im Wahlkampf entschieden unterstützt hatte, warnte davor, dass eine Bestätigung der Ungültigkeit der Wahl durch das Oberste Gericht eine „Kriegserklärung“ von Plahotniuc gegen die Bürger darstelle. Ferner gab Sandu Zweifeln Ausdruck, dass die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen von der Regierung anerkannt würden. Die Regierungspartei strebe an, dass sich die Bürger einem diktatorischen Regime beugen. Die Demokratische Partei reagierte indes äußerst verhalten. Die Gerichtsentscheidung sei „sensibel“ und müsse aufgrund „juristischer Argumente“ bewertet werden.
Das Vertrauen in den demokratischen Charakter der anstehenden Parlamentswahlen dürfte irreparabel beschädigt sein. Das Urteil zeigt, dass Justizverfassung und Rechtsordnung ermöglichen, Wahlen aus praktisch beliebigen Gründen zu annullieren. Was bedeutet das für eine Wahl von Abgeordneten in 50 Einzelwahlkreisen? Die Wahlkreise wurden in weitgehend intransparenten Verfahren binnen weniger Monate zugeschnitten, unter massiven Vorwürfen des Gerrymanderings seitens der Opposition. In vielen der Wahlkreise werden die Ergebnisse knapp sein. Die Resultate werden sich zudem auch durch internationale Wahlbeobachter wohl weniger kontrollieren lassen als bei einer nationalen Wahl nach dem Verhältniswahlrecht. Die Opposition findet dabei noch weitaus schlechtere Voraussetzungen für die Aufstellung von Kandidaten und die Wahlkampfführung vor als auf nationaler Ebene. Das Vertrauen vieler Wähler in die Ergebnisse und ihr Zustandekommen ist damit ohnehin schon mehr als gefährdet. Das alleine wirft die Frage auf, wie Demokratie bestehen kann, ohne das Vertrauen der Wähler in ihre Verfahren. Das Urteil zur Bürgermeisterwahl in Chisinau schafft jetzt zusätzlich noch das Szenario, dass in vielen Wahlkreisen Gerichtsverfahren in die Ergebnisse eingreifen. Insofern schafft das Urteil anstatt Rechtssicherheit nur weitere Verunsicherung.
Die Wirkung der Entscheidung ist noch schwer abzuschätzen. Zumindest kurzfristig dürfte sie zu einer erheblichen Mobilisierung der Anhänger der pro-europäischen Opposition führen, wie schon die Demonstration vom vergangenen Sonntag bestätigt hat. Insofern ist auch nicht ausgeschlossen, dass fortgesetzte Proteste zu einer Eskalation führen. Unklar ist aber auch, inwieweit das Urteil resignative Tendenzen in der pro-westlich ausgerichteten Wählerschaft verstärkt, indem es den Eindruck bekräftigt, dass Wahlen keine Veränderung mehr herbeiführen können. Die schwierigen politischen Umstände und eine starke Abwanderung der Eliten stellen in diesem Fall sogar die längerfristige Fortexistenz relevanter pro-europäischer Kräfte in Frage. Bislang hat sich die Regierungsmehrheit in der Moldau in erster Linie durch das Narrativ legitimiert, als faktisch stärkste politische Kraft eine geopolitische Hinwendung des Landes nach Moskau verhindern zu können. Zu beobachten war bislang tatsächlich eine Stärkung der pro-russischen Kräfte und eine Schwächung der pro-europäischen Oppositionsparteien, hinter denen die große Mehrheit der pro-westlich ausgerichteten Wählerschaft steht, wie der Ausgang der Bürgermeisterwahl und ihre Annullierung erneut bestätigt haben. Welche Entwicklung das Land tatsächlich nimmt, wird mit davon abhängen, welche Konsequenzen die europäischen Partner aus ihren eigenen Erklärungen ziehen.