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Ex-Präsident Ion Iliescu vor Gericht: Revolutionär oder Verbrecher?

de Hartmut Rank, Jochen Schlenk
„Unantastbarkeit der Machtfiguren und ein totaler Skeptizismus, was Gerechtigkeit betrifft, ist Teil der kollektiven Überzeugungen in diesem Land, […]“. Insoweit mag vielleicht das Ende November 2019 eröffnete Gerichtsverfahren gegen Ion Iliescu überraschen. Iliescu war von Dezember 1989 bis 1996 sowie von 2000 bis 2004 der Präsident Rumäniens und steht jetzt vor Gericht. Vorgeworfen wird ihm, im Rahmen der „rumänischen Revolution“ 1989 Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Die Bedeutung des Verfahrens für Rumänien kann kaum überschätzt werden: Nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit für die zahlreichen Opfer der Revolution, sondern auch, weil das Gericht über die Geschichte zu befinden hat. Bis zum heutigen Tag ist umstritten, ob es sich bei den Ereignissen vom Dezember 1989, während der über 1100 Menschen in Rumänien ums Leben kamen, tatsächlich um eine Revolution oder nicht vielmehr um einen geschickt ausgeführten Staatsstreich gehandelt habe.

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Rumänien im Dezember 1989

 

Die revolutionäre Umwälzung in Osteuropa im Jahre 1989 erreichte auch Rumänien. Ab dem 16. Dezember 1989 kam es täglich zu immer größer werdenden Demonstrationen gegen die jahrzehntelange Diktatur unter Nicolae Ceaușescu. Dies führte zur Flucht des Ehepaars Ceaușescu am 22. Dezember, seiner Festnahme und schließlich zu seiner Exekution am 25. Dezember im Anschluss an einen nur einstündigen Scheinprozess durch das Militär.[1]

Zeitgleich mit der Flucht Ceaușescus übernahm Ion Iliescu die Kontrolle über das Fernsehen und beanspruchte im Rahmen der Gründung des „Fronts zur Nationalen Rettung“ (FSN) die Führung der „Revolution“. Iliescu war ebenfalls kommunistischer Parteifunktionär, wurde jedoch 1971 wegen Kritik an Ceaușescu vom Sekretär des Zentralkomitees zum Kreisparteisekretär im Distrikt Timiș degradiert.[2] Er galt als Reformer im Sinne der sowjetischen „Perestroika“, pflegte gute Kontakte nach Moskau und wurde als potentieller Nachfolger des gesundheitlich angeschlagenen Ceaușescus gehandelt. Aber auch die Armee wechselte die Seite. Während die Streitkräfte noch Tage zuvor auf Demonstranten in Timişoara geschossen hatte, agierte sie nun als Verteidigerin der „Revolution“. Nach dem Machtwechsel am Abend des 22. Dezembers griffen sodann Unbekannte die Demonstranten an, woraufhin die Armee das Feuer erwiderte. Im Fernsehen wurde die Bevölkerung dazu aufgerufen, die „Revolution“ vor den „Terroristen“ zu beschützen und auf die Straße zu gehen. Zudem verbreiteten Rundfunk und Fernsehen auch eine Vielzahl von Gerüchten; unter anderem, dass das Trinkwasser vergiftet worden sei und Bomben gelegt worden wären. Der Ceaușescu-Biograph Thomas Kunze spricht von einer „Art Massenpsychose“, die entstanden sei. Die Verwirrung hielt bis zum 27. Dezember an und führte zu Straßenkämpfen mit unklarem Verlauf, an denen neben „Revolutionären“ auch verschiedene Sicherheitskräfte und Militäreinheiten beteiligt waren.

Bis zum 22. Dezember 1989 verloren 162 Menschen bei den Auseinandersetzungen zwischen den Aufständischen und den staatlichen Ordnungskräften ihr Leben. Etwa sechsmal so viele Opfer starben aber erst nach dem Machtwechsel; also nach dem Erfolg der „Revolution“. Von den „unbekannten Terroristen“ konnte niemand gefasst oder identifiziert werden. Viele Fragen sind deshalb bis heute ungeklärt: Wer waren die besagten „Terroristen“ und was war ihre Motivation? Wurden gezielt Falschinformationen verbreitet, um die Bevölkerung zu mobilisieren, zu verwirren oder Legitimität zu stiften? Was war die Rolle des Militärs und inwieweit bestanden bereits vor den revolutionären Ereignissen Putschintentionen einiger Kommunisten?

In einer Umfrage aus dem Jahr 2009 gaben 47% der Rumänen an, dass sie in den Ereignissen des Dezembers 1989 eine Revolution sehen; 36% gehen hingegen von einem Staatsstreich aus. Vor diesem Hintergrund muss das aktuelle Gerichtsverfahren gegen Iliescu betrachtet werden. Teile der ungeklärten Vergangenheit werden nun wieder öffentlich diskutiert und aufgearbeitet.

 

Juristische Entwicklung

 

Bis zur Anklage gegen Iliescu im April 2019 war es jedoch ein weiter Weg. Tatsächlich sind die Ereignisse des Dezembers 1989 nicht zum ersten Mal Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen. Der erste Anlauf erfolgte von 1990 bis 1994 unter Präsidentschaft von Iliescu und richtete sich gegen ehemalige Führer der Kommunistischen Partei um Ceaușescu sowie Beamte der Polizei und Securitate. Strafrechtlicher Vorwurf war häufig zunächst die Begehung eines Genozids nach Art. 357 des damals gültigen rumänischen Strafgesetzbuches (CP) – bzw. der Beihilfe dazu – wegen der Mitwirkung an den Gewaltmaßnahmen gegen die Demonstrationen vom 17. und 22. Dezember. In erster und zweiter Instanz erging zunächst eine Verurteilung wegen Genozids, welche jedoch später im Wege der Kassation aufgehoben und in Beihilfe zur besonders schweren Fall des Totschlags abgewandelt wurde.[3] Im Übrigen wurden zwar tausende Ermittlungsverfahren eröffnet und 198 Personen angeklagt. Viele der Akten blieben aber längere Zeit unbearbeitet und statistische Angaben über die Zahl der Urteile fehlen. Mit dem Wechsel der Regierung im Jahr 1996 hin zu einem Mitte-Rechts-Bündnis veränderte sich auch die Stoßrichtung der Anklagen. Im Vordergrund stand nun die Untersuchung der Rolle des Militärs; so wurden beispielsweise die beiden Generäle Victor Athanasie Stanculescu und Mihai Chitac für den Tod von 72 Demonstranten in Timişoara verantwortlich gemacht und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Militär in der Öffentlichkeit als Verteidiger der „Revolution“ von 1989 wahrgenommen.

Die Verurteilungen in diesen beiden Phasen beschränkten sich jedoch weitestgehend auf Verbrechen der Tage vor Ceaușescus Flucht am 22. Dezember 1989.

Im Jahre 2004 wurde sodann zwar ein Versuch unternommen, Iliescu und einige weitere für die Tode nach der Machtübernahme gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. Das rumänische Verfassungsgericht – dessen Richter überwiegend von Iliescu ernannt worden waren – hielt die Anklage jedoch für verfassungswidrig. Schließlich wurden sodann im Jahr 2007 die Ermittlungen unter Verweis auf Verjährung eingestellt: nach rumänischem Strafrecht verjährte u.a. Mord nach 15 Jahren.

Mehrere Faktoren führten aber im Jahre 2016 zur erneuten Untersuchung der Ereignisse und schließlich zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Ion Iliescu[4]:

Zunächst hatten die Beitrittsverhandlung und sodann der Beitritt Rumäniens zur EU einige Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zur Folge. Konkret bedeutete das unabhängigere Strafverfolgungsbehörden.

Weiterhin ergingen in den Jahren nach 2007 einige Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen Rumänien, in denen die unzureichende Untersuchung der Todesfälle während der „Revolution“ kritisiert wurde.[5] Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtscharta (EMRK), das Recht auf Leben, sei verletzt worden.

Und schließlich: im Rahmen der Strafrechtsreform im Jahre 2014 wurde der neue Straftatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschaffen (Art. 439 CP). Da dieses Delikt nicht dem Strafhinderungsgrund der Verjährung unterliegt, war der juristische Weg zur Strafverfolgung wieder geebnet. Dies bestätigte im Jahre 2016 der rumänische Oberste Gerichtshof und ermöglichte somit die erneute Untersuchung der „Revolution“ von 1989.

Hinsichtlich des Beginns und Endes der jeweiligen Verfahrensphasen in den letzten drei Jahrzehnten fällt auf, dass diese sich im Wesentlichen mit den Regierungswechseln in den Jahren 1996, 2000 und 2004 decken. Einige Forscher sprechen insoweit von „offensichtlicher politischer Voreingenommenheit und Instrumentalisierung“ der Verfahren.

 

Vorwürfe der Staatsanwaltschaft

 

Im April 2019 folgte sodann die Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen den inzwischen 89-jährigen und gesundheitlich angeschlagenen Ion Iliescu, gegen Gelu Voican Voiculescu (Mitglied des FSN und ehemaliger Vize-Premierminister) und gegen Iosif Rus (ehemaliger Kommandant der Luftwaffe). Ursprünglich sollte auch der inzwischen verstorbene Admiral Emil Dumitrescu angeklagt werden.

Iliescu und Voiculescu wird vorgeworfen, die Sicherheitsbehörden dazu missbraucht zu haben, Falschinformationen zu verbreiten, um dadurch eine Stimmung des Terrors hervorzurufen. Rus soll einem Luftwaffenregiment befohlen haben, seine Abzeichen zu wechseln und durch die Verwirrung 48 Tote verursacht haben. Die Staatsanwaltschaft stützt sich in der Anklage auf unzählige Zeugenaussagen sowie auf die Zusammenarbeit mit Historikern, Schriftstellern und Journalisten. Zudem haben sie die Militär- und Zivilarchive des rumänischen Senats überprüft.[6]

Als Tatmotiv Iliescus sehen die Staatsanwälte sein Bestreben, sich vor dem rumänischen Volk legitimieren zu wollen, um dadurch von seinen prosowjetischen Ansichten und den bereits zuvor aufgebauten Machtstrukturen abzulenken. In diesem Zusammenhang sieht die Staatsanwalt-schaft auch die eilige Hinrichtung Ceaușescus am 25. Dezember 1989, dem ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren verwehrt blieb. Im Dezember 2017 gab die Staatsanwaltschaft zudem bekannt, dass dem Militär während der Verhaftung von Ceaușescu mindestens drei Mal befohlen wurde, ihn zu töten.

Bei dem jetzt begonnenen Prozess handelt es sich übrigens um das zweite derzeit laufende Strafverfahren gegen Iliescu. Im Juni 2017 wurde er bereits (ebenfalls wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit) angeklagt, da er für die blutige Beendung der Demonstrationen gegen die Regierung am 13. bis 15. Juni 1990 in Bukarest durch eilig in die Hauptstadt gebrachte Bergarbeiter verantwortlich sein soll: während der dritten gewaltsamen Bergarbeiterproteste („Mineriade“) kamen sechs Menschen ums Leben und Hunderte wurden verletzt.

 

Bedeutung des jetzigen Verfahrens

 

Antonie Popescu, Anwältin der Organisation „Asociația 21 Decembrie 1989“ – welche für die Aufklärung der damaligen Ereignisse kämpft – sieht das Verfahren als Chance, „der jungen Generation zu zeigen, dass Iliescu und der FSN im Dezember 1989 keine Helden, sondern vielmehr Verbrecher waren.“[7] Etwas vorsichtiger hingegen plädiert die Historikerin Raluca Grosescu dafür, angesichts der „langfristigen Geschichte der Politisierung […] in dieser Art von Gerichtsverfahren”, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Nicht verwunderlich ist, dass Iliescus Mitangeklagter Gelu Voican Voiculescu das Verfahren als politisch motiviert bezeichnet. Wie das Verfahren abschließend zu beurteilen ist, wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen. Angesichts der breiten zivilgesellschaftlichen Mitwirkung im Beweisverfahren (s.o.), einer umfassenden Anklageschrift von 3300 Bänden sowie der Befragung von mehr als 5000 Zeugen[8] erscheinen die Anklagepunkte jedenfalls nicht ohne jegliche Grundlage.

Eine umfassende und abschließende Aufklärung darf man von dem Gerichtsverfahren trotzdem nicht erwarten. Vielmehr stellt es einen Baustein dar im Gesamtkontext der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit des Landes.

Einen weiteren Baustein in dieser Hinsicht bildete auch die Schaffung des Nationalen Rats für das Studium der Securitate-Archive (CNSAS) im Jahre 1999. Nachdem im Jahre 2005 schließlich all jene Akten, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht bereits zerstört worden waren, an den CNSAS übergeben wurden, ist der Rat seither damit beauftragt, Zugang zu den Akten zu gewährleisten sowie ehemalige Securitate-Mitarbeiter zu enttarnen.[9]

Nichtsdestotrotz: Gerade die rechtstaatlichen Rückschritte der letzten Jahre (nach dem EU Beitritt 2007) machen deutlich, dass Rumänien eben noch immer mit seinem kommunistischen Erbe ringt. Das Gerichtsverfahren fordert insoweit die rumänische Gesellschaft heraus, die eigene Geschichte zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen: War Ion Iliescu ein Revolutionär oder Putschist? – Ein Held oder ein Verbrecher?

Ob dieses absehbar lang dauernde Verfahren zu Ende geführt werden kann, ist angesichts des sehr hohen Alters des angeklagten Ex-Präsidenten unwahrscheinlich bzw. zumindest fraglich. Selbst wenn am Ende des Prozesses das Gericht von der Schuld Ion Iliescus überzeugt sein sollte, ist außerdem ungewiss, ob er überhaupt noch haftfähig sein wird.

Die Bedeutung des Verfahrens besteht eher, wie dargelegt, in der neu entfachten Diskussion um die Einordnung der Ereignisse des Dezember 1989 in Rumänien. Die Debatte darüber beschäftigt die Rumänen zurzeit wieder intensiv: 

Genau 30 Jahre nach Beginn des Volksaufstands in Rumänien hat auch das Europaparlament am 19.12.2019 eine von rumänischen und weiteren Abgeordneten mehrerer Fraktionen (EVP, S&D, Renew Europe) verfasste Resolution[10] verabschiedet:

Darin wird Rumänien aufgefordert, seine Anstrengungen zur Aufklärung der Wahrheit über die Ereignisse der „Revolution“ im Dezember 1989 zu intensivieren.

 

[1] Zum Vorwurf des Genozids im Prozess gegen Ceaușescu: Raluca Grosescu und Raluca Ursachi, Transitional Trials as History Writing. The Case of Romanian December 1989 events, 2015, S.75 ff.

[2] Thomas Kunze, Nicolae Ceaușescu, Eine Biographie, 3. Auflage, S. 200 f.

[3] Julia Trappe, Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, Eine Untersuchung aus strafrechtlicher Perspektive, S. 70 ff.

[4] Raluca Grosescu, The Trials of the Romanian Revolution, verfügbar unter: http://www.cultures-of-history.uni-jena.de/politics/romania/the-trials-of-the-romanian-revolution/

[5] U.a. Alecu and others v. Romania (Nr. 56838/08); Association “21. December 1989” and Others v. Romania, (Nrn. 33810/07 u.a.); Lăpuşan and Others v. Romania (Nr. 29007/06 u.a.); Sandru and Others v. Romania (Nr. 22465/03); Agache and Others v. Romania (Nr. no. 2712/02).

[6] https://www.romaniajournal.ro/society-people/former-president-ion-iliescu-indicted-in-the-revolution-file/, Artikel vom 21.12.2018.

[7] Zitiert nach Grosescu, vgl. Fn. 12: Die Aussage wurde in einem Telefongespräch von Grosescu mit der Anwältin getroffen.

[8] https://balkaninsight.com/2019/11/29/romania-starts-long-awaited-trial-over-1989-revolution-deaths/, Artikel vom 29.11.2019.

[9] Kritisch dazu: https://www.mdr.de/zeitreise/stoebern/damals/rumaenien-geheimdienst-securitate100.html, zuletzt aktualisiert am 06.01.2016.

[10] http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0109_EN.html

 

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Hartmut Rank

Leiter des Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika und Repräsentant des Länderprogramms Kolumbien 

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