Verfasser:
Senior researcher Dr. Andreas Raspotnik, High North Centre for Business and Governance at Nord University;
Professor Rasmus Gjedssø Bertelsen, UiT Norway’s Arctic University;
Dr. Mariia Kobzeva, UiT Norway’s Arctic University;
und Professor Elana Wilson Rowe,
Norwegian Institute of International Affairs and High North Centre for Business and Governance at Nord University.
"Ich glaube, auch die Europäische Kommission sollte eine Meinung zu der Region der Arktis haben,“ so die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den Ministerpräsidenten der nordischen Staaten im August 2019.“
Eine solche Meinung äußerte die EU zuletzt im Frühjahr 2016 durch die Verabschiedung eines Politikvorschlags der Europäischen Kommission und der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Diese gemeinsame Mittteilung zu einem verstärkten Engagement der Europäischen Union in der Arktis definiert eine Vielzahl europäischer Maßnahmen, deren regionale Schwerpunkte auf drei wichtigen politischen Zielen liegen:
- Schutz und Erhalt der Arktis, Förderung der Forschung zur Bewältigung der Umweltauswirkungen und des Klimawandels;
- Förderung des nachhaltigen Ressourceneinsatzes und der wirtschaftlichen Entwicklung in Zusammenarbeit mit den in der Region lebenden Menschen;
- Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit durch Dialog mit den arktischen Staaten, indigenen Bevölkerungsgruppen und sonstigen relevanten Partnern und deren Einbindung in die Politikformulierung und -implementation.
Obwohl die Europäische Union während der letzten fünf Jahre durchaus fokussierte und konsistente Schritte zur Umsetzung dieser Ziele unternommen hat, ist es der Union bis heute weder nach außen noch nach innen gelungen, ihre Rolle in der Arktis überzeugend darzustellen. Intern blieb die Arktis ein Randthema europäischer Politikgestaltung, eine breitere Anerkennung der Bemühungen und ihrer Erfolge auch extern verwehrt.
Ein länderübergreifender, breiter Konsens zu den grundlegenden Fragen über die Zukunft der Arktis und ihre Bedeutung für die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten fehlt bisher. Das mag zum einen daran liegen, dass die vergangene Arktispolitik zu sehr von breiten Zielen für die Region bestimmt war – vom klima-bedingten Schutz bis zur nachhaltigen Entwicklung der Region – und zu selten an der Relevanz der Region für gesamteuropäische Entwicklungen. Zum anderen verkaufte sich die Europäische Union auch unter ihrem arktischen Wert, weil sie spezifische Stärken und Kompetenzen im Unionsportfolio gar nicht in Anschlag brachte. In der Zukunft sollten in diesem Sinne drei Politikbereiche stärker in europäischer Arktispolitik eingehen: die europäische Energie-, Meeres- und Weltraumpolitik. In ihnen liegt bisher ungenutztes Potential, um die Arktis stärker in das Zentrum europäischer Politikgestaltung zu rücken und die Aufmerksamkeit der arktischen Staaten und relevanten Partner stärker auf sich ziehen. Die für Herbst 2021 geplante Konkretisierung der Arktispolitik der Europäischen Union sollte versuchen dieses Potential abzurufen.
Energiepolitik
Knapp ein Viertel des Öl- und Gasverbrauchs der Europäischen Union werden heute durch Importe aus der Arktis, insbesondere der russischen Arktis gedeckt. Der Export von arktischem Öl und Gas nach Europa macht wiederum 10% des russischen BIP und 20% der gesamten Exporterlöse Russlands aus. Seit Jahrzehnten bereits importiert Westeuropa Erdgas aus Nordwestrussland über eine Pipeline-Infrastruktur durch Ost- und Mitteleuropa, die nun mittelfristig durch Nordstream 1 und 2 ersetzt werden soll.
In den letzten Jahren hat sich die Erdgasproduktion in der russischen Arktis, auch unter europäischer Beteiligung, stark entwickelt. So setzte sich das LNG-Projekt Jamal, mit Produktionskosten von über 23 Milliarden Euro und geplanten 16,5 Millionen Tonnen Flüssiggas pro Jahr, ursprünglich aus einem Konsortium des russischen Erdgasunternehmen Novatek (60%), des französischen Energieunternehmens Total (20%) und der China National Petroleum Corporation
(20%) zusammen. Total konnte seine Beteiligung an Jamal auch nach 2014 fortführen, weil der Gassektor von den der Annexion der Krim folgenden EU-Sanktionen gegen Russland ausgenommen war. Seit 2017 wird bereits Flüssiggas (LNG) vom nahegehenden Hafen in Sabetta nach Europa, aber auch Asien transportiert. Zurzeit arbeitet Novatek, ebenfalls unter Beteiligung von Total, an einem zweiten Flüssiggasprojekt – Arctic LNG 2 – mit einer Kapazität von 20 Millionen Tonnen/Jahr und einem geplanten Produktionsbeginn ab 2022/2023. Arktische Energieressourcen (Norwegen miteingeschlossen) und die diesbezüglichen Tätigkeiten europäischer Unternehmen sind somit nicht nur wesentlicher Teil europäischer Energiepolitik, sondern vielmehr auch essentieller Teil der arktischen Politik der EU.
Meerespolitik
Auch die Meerespolitik mit den Aspekten Fischerei, Ocean-Governance und maritimer Verkehr und Wirtschaft ist ein wichtiger Baustein europäischer Arktispolitik. Im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik verhandelt die Europäische Kommission nicht nur über den Zugang von Fangquoten im Nordatlantik und der Barentssee. Im 2018 war die Kommission außerdem Unterzeichner eines Abkommens zur Verhinderung unregulierter, kommerzieller Fischerei in der arktischen Hochsee, gemeinsam mit den Anrainerstaaten des Arktischen Ozeans Kanada, Dänemark, Norwegen, Russland, den Vereinigten Staaten, sowie Island, China, Japan und Südkorea.
Innerhalb der Europäischen Kommission zeichnet sich seit 2008 die Generaldirektion Maritime Angelegenheiten und Fischerei (MARE) federführend für die Arktispolitik der EU aus. Trotz dieser Verankerung und einer ganzheitlichen, integrierten Meerespolitik seit 2007, gelang es der Europäischen Union bis heute nicht, ihre arktischen Interessen mit ihrer international anerkannten Rolle als globaler maritimer Akteur in Einklang zu bringen. Dies ist insbesondere überraschend, da ein Drittel der weltweiten Handelsflotte unter EU-ropäischer Flagge fährt und die EU weite Teil der Politik in Bezug auf maritime Umwelt, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit zwischen den Mitgliedsstaaten koordiniert.
Zur Stärkung ihrer arktischen Rolle müsste die Europäische Union ihre globale Bedeutung im Bereich internationaler Ozean-Governance, Fischerei und maritimer Wirtschaft und Politik in den Mittelpunkt regionaler Bemühungen stellen – insbesondere unter Anbetracht einer zunehmenden Öffnung der Arktis für die internationale Schifffahrt. So könnte zum Beispiel der Globale Pakt der Vereinten Nationen hinsichtlich einer sozialeren und ökologischeren Globalisierung von einer verstärkten Koordination seitens der EU profitieren.
Weltraumpolitik
Die Europäische Union ist auf dem Weg ein bedeutender Weltraumakteur zu werden – dank des Satellitennavigationssystems Galileo und des Erdbeobachtungsprogramms Copernicus. Eine unabhängige Weltrauminfrastruktur ist für die strategische Autonomie der EU von entscheidender Bedeutung – und die europäische Arktis mit ihrer bereits vorhandenen Forschungs- und Satellitenkommunikationsinfrastruktur ist dafür ein wesentlicher Puzzleteil. Satellitennavigation und Erdbeobachtung sind für die Erschließung der Arktis – für den zivilen und den militärischen Verkehr – und für die Erfassung von regionalen, sowie globalen Klimaveränderungen unerlässlich.
In ihrer Rolle als bedeutender Weltraumakteur und Betreiber entsprechender Infrastruktur könnte die Europäische Union aber auch einen Mehrwert für Arktische Gemeinschaften selber schaffen, indem sie die Formulierung von dafür geeigneten Grundsätzen für den Datenaustausch vorantreibt und den Erkenntnissen aus der satellitengestützten Beobachtung von Ozeanen und Klima zu globaler Verbreitung und Aufmerksamkeit verhilft.
Die drei unentdeckten Ressourcen europäischer Arktispolitik
Die Energie-, Meeres- und Weltraumpolitik der Europäischen Union muss ausdrücklich in die Diskussion über die künftige Arktispolitik der EU miteinbezogen werden. Welche Rolle spielen die Energieimporte aus dem arktischen Teil Russlands und die Beteiligung europäischer Firmen im russischen Energiesektor für die Arktis- als auch Energiepolitik der EU? Welche Rolle spielt die Arktis, insbesondere der Nordatlantik, die Barentssee und der arktische Ozean für die EU als globaler maritimer Akteur? Welche forschungs-, wirtschafts-, zivil und sicherheitspolitischen Möglichkeiten bieten Galileo und Copernicus für die EU in der Arktis? Die Antworten auf diese Fragen könnten helfen, die Arktispolitik der Europäischen Union intern stärker ins Zentrum ihrer Politikgestaltung zu rücken. Ohne eine grundlegende Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird die Europäische Union aber auch zukünftig Gefahr laufen, als arktischer Akteur unterschätzt und missverstanden zu werden.