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Das Jahr der Geisteswissenschaften hat in den vergangenen zwölf Monaten mit einer Reihe bezeichnender Veranstaltungen von sich reden gemacht; erinnert sei an die Wettbewerbe „Was sprichst Du?“ der deutschen Schulen, „Geist begeistert“ der deutschen Hochschulen und „Geist (d)er Stunde“ der deutschen Begabtenförderwerke. Zahlreiche Ausstellungen, Vorträge, Lesungen, Tagungen, Installationen und Auftritte begleiteten diese wichtige Initiative unter dem zwingenden Titel „ABC der Menschheit“. Vielfach zu beobachten war dabei der zwar notwendige, doch bisweilen auch allzu aufdringliche Versuch, öffentliche Aufmerksamkeit mittels Medialisierung bei gleichzeitiger Vereinfachung der Kampagnenbotschaft zu erlangen. Mit dem vorliegenden Sammelband, den Jörg-Dieter Gauger und Günther Rüther als Beitrag zum zurück liegenden Wissenschaftsjahr herausgeben, verhält es sich anders. Die Herausgeber, die beide Bildungs- und Kulturarbeit an verantwortlicher Stelle fördern und verantworten (der eine u.a. als Koordinator „Bildung und Kulturpolitik“, der andere als Leiter der Abteilung „Begabtenförderung und Kultur“ der Konrad-Adenauer-Stiftung), konzentrieren sich wieder hauptsächlich auf den intellektuellen Diskurs, auf die Perspektive von ‚Experten’ geisteswissenschaftlicher Betätigung, beschreiten im Zuge dessen aber einen eigenständigen Weg. Ihr Buch verbindet auf dem Feld subjektiver Betrachtung Skepsis und Zuversicht, Bedenken und Lichtblicke zugleich: „Zweifel an bildungspolitischen Entwicklungen, Selbstvergewisserung über die unverzichtbaren Leistungen der Geisteswissenschaften für den kulturellen Standard unserer Gesellschaft, Selbstbehauptung im Gefüge der Wissenschaften.“
Statt ausgewählte geisteswissenschaftliche Disziplinen ausschließlich solitär in die Reflektionen einzuschließen, beziehen die Herausgeber darüber hinaus auch namhafte Vertreter aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, aus Politik und Kultur, mit ein. Gerade die Geisteswissenschaften sollten es heute – so das Resümee in ihrem eigenen, einleitenden Beitrag – „als ihre ureigene Aufgabe verstehen, einen Bildungsbegriff zu entwickeln, zu pflegen und zu propagieren, der die grundlegenden Einsichten Humboldts mit modernen Realitäten verknüpft, ohne deren Kern aufzugeben“, nämlich „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (aus: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirklichkeit des Staats zu bestimmen, 1792). Gerade dieses Ganze zumindest in Ansätzen zu fassen, zu skizzieren und womöglich in den Griff zu bekommen, ist das Anliegen des Bandes. Kurzum, Jörg-Dieter Gauger und Günther Rüther bereiten damit den Pfad für die Diskussion des gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen epistemologischen Paradigmas, das aus inner- wie interdisziplinärem Blickwinkel aufs Korn genommen wird, ohne dass dieses an Substanz, Kern o.ä. verliert.
Die Geisteswissenschaften im internationalen Vergleich (Kap. I) betrachtet der am Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien in Rostock lehrende Historiker Wolf Gruner, der die Frage nach einer „Krise“ der Geisteswissenschaften zum Anlass nimmt, deren Stelle und Rolle, vor allem diejenige der Geschichtswissenschaft, in Deutschland mit der in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten heraus zu stellen. Gruner kommt zu dem Schluss, die Geisteswissenschaften seien „keineswegs in der Krise“, „wohl aber mit Blick auf die Forschungsfinanzierung“; sie spielen in Deutschland im Vergleich zum Ausland eine „angesehene und anerkannte Rolle“; sie sind – wie es im Titel des Aufsatzes von Gauger/Rüther heißt – ein „selbstverständliches Element moderner Kultur“. Und, die Geisteswissenschaften können angesichts modischer ökonomischer Aufrechnungen ihren ‚Nutzwert’ sehr wohl behaupten. „Die Bedeutung wirtschaftlicher Erfolge will niemand bestreiten“, schreiben die Herausgeber, „unbestreitbar ist aber auch, dass eine Gesellschaft auf geistige Ressourcen angewiesen ist, die ihre innere Stabilität auch dann stützen, wenn wirtschaftliche Erfolge einmal einbrechen.“
Im zweiten Kapitel befasst sich der Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Naturwissenschaften in Jena, Olaf Breidbach, mit der nicht immer einfachen Beziehung dieser beiden Disziplinen; er kommt letztendlich zu nachdrücklichen Resultaten wie dem, dass Geisteswissenschaften für die Naturwissenschaften nicht nur die Chance eröffnen, „deutlicher zu sehen, was sie machen und wie sie wirken“, sondern ebenfalls, „mehr zu erfassen und damit den Horizont der eigenen Arbeit zu erweitern“. Dies wäre – so ließe sich Breidbachs Plädoyer fortführen – für das kommende „Jahr der Mathematik“ 2008 ein sinnreicher Anknüpfungspunkt und die konsequente Fortführung der in 2007 bereits angestoßenen Überlegungen.
Für die Befundsicherung jener Überlegungen werden im dritten Kapitel Gewinn bringende Thesen entwickelt, die von der „Gefangenschaft der Geisteswissenschaften im Nutzen- und Leistungsdenken“ (Elisabeth von Erdmann) und die „Unterscheidungskunst“ der Geisteswissenschaften als „formale und universale Tätigkeit“ (Michael Gabel) über die „Bedrohung der kleinen Fächer“ (Erhart Graefe) und die „Kartographie der Kultur aus blendender Nähe“ (Anna-M. Horatschek) bis hin zu Themen wie die „Realität der universitären Geisteswissenschaften“ (Dieter Kessler), die „Perspektive der Angewandten Ethik“ (Nikolaus Knoepffler) oder das „transkulturelle Potenzial der Japanforschung“ (Michiko Mae) reichen. Während Peter Heine die Islamwissenschaft als Geisteswissenschaft bestimmt, tut dasselbe Eva-Maria Matthes mit der Erziehungswissenschaft und Jörg Rüpke mit der Religionswissenschaft. Der Münchener Germanist Oliver Jahraus allerdings nennt die Geisteswissenschaft mit Rückgriff auf systemtheoretische Konzepte (und zudem völlig zu Recht) eine „Sinnwissenschaft“, deren Gegenstand das sei, woran sie selbst allein als Wissenschaft auch partizipiere: „am Sinnprozess der Gesellschaft, ja an der Gesellschaft als Sinnprozess.“ Klaus Rosen bereitet hingegen Vorurteilen ein Ende, die in der Alten Geschichte eine „alte Geschichte“ sehen; Anton Schindling spricht von „Aufklärung mit historischer Tiefendimension“ und Walter Schweidler fordert, den „eigenen Gegenständen“ gerecht zu werden, und zwar indem man sich in der Rolle der Auslegung vorgängiger Wahrheitsansprüche diesen Ansprüchen aussetzt.
Wenn sich umgekehrt neben explizit ausgewiesenen Geisteswissenschaftlern (z.B. der Sozialethiker und Theologe Martin Honecker oder der Historiker Jörn Rüsen) gesellschaftliche Funktionsträger in Kapitel vier zu Wort melden, dann ist dies dem Anliegen geschuldet, die Diskussion behutsam zu weiten. Die Erörterungen des Generalsekretärs des Goethe-Instituts, Hans-Georg Knopp, des Präsidenten der Humboldt-Universität, Christoph Markschies, des Generalsekretärs der Humboldt-Stiftung, Georg Schütte, des kulturpolitischen Sprechers der CDU-Bundestagsfraktion, Thomas Sternberg, oder des Rechtswissenschaftlers George Turner lesen sich hierbei ebenso kritisch wie diejenigen des Schriftstellers Burkhard Spinnen. Ausgestattet mit einem Sensorium für aktuelle und aktuellste Stimmungen gibt Spinnen zu bedenken, dass es in Zukunft „unendlich schwierig“ sein wird, das „Wesen der Geisteswissenschaft dem demokratischen Bewusstsein zu vermitteln“, nicht ohne dem Leser ins Gewissen zu sprechen: „Aber es muss gelingen!“
Eine Stimme des Zweifels (Kap. V) meldet der Soziologe Clemens Albrecht an, der zum Schluss gegen die „übermächtige Wirklichkeit aus sozialer Anpassung, Nützlichkeits- und Verwertungsdruck“ für ein „strenges Ethos der Wissenschaft“ plädiert , das zehn Punkte umfasst, die ob ihrer Schlagkraft im Folgenden angeführt werden: (1) Diene der Wissenschaft, nicht ihrem Marketing!; (2) Betrachte die Wissenschaft als Lebensform, nicht als Job!; (3) Folge deinem Interesse, nicht den Ausschreibungen!; (4) Erforsche Themen, nicht Projekte!; (5) Arbeite an Deinem Buch, nicht an verschiedenen Publikationen!; (6) Werde klassisch, nicht exzellent!; (7) Lass Dich rezensieren, nicht evaluieren!; (8) Sichere Qualität, nicht Qualitätssicherung!; (9) Lehre Inhalte, nicht Kompetenzen!; (10) Bilde Schüler aus, nicht Nachwuchs!
Der Rückblick auf das Jahr der Geisteswissenschaften (Kap. VI) ist verständlicher Weise der Initiatorin desselben vorbehalten. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, zieht eine durchaus erfreuliche Bilanz: „Die Resonanz, auf die das Jahr der Geisteswissenschaften bei Wissenschaftlern aber auch in der Bevölkerung gestoßen ist, sowie die eingeleiteten Fördermaßnahmen machen deutlich: Deutschland kann das Zentrum geisteswissenschaftlicher Spitzenforschung auch in Zukunft sein.“
Dass in der Vergangenheit eine Reihe von Denkern, namentlich etwa Fichte, Dilthey, Husserl, Jaspers oder Snow, das Feld für eine derartig optimistische Prognose vortrefflich bestellt haben, demonstriert das dokumentierende Abschlusskapitel in aller Schärfe.
Fast zwangsläufig zeigen die von Jörg-Dieter Gauger und Günther Rüther präsentierten Ansichten auf die dem Buchtitel immanente programmatische Aussage „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“ (weniger angesichts der Fülle als vielmehr aufgrund der Qualität der versammelten Arbeiten) ein überzeugendes, insgesamt zuversichtlich stimmendes Bild, ganz im Verständnis Wolfgang Frühwalds, der die Geisteswissenschaften als „Ort“ erfasst hat, „an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen.“ (aus: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, 1991) Einfacher gesagt war zum Abschluss des Wissenschaftsjahrs 2007 eine Publikation vonnöten, die den neugierigen, ergebnisoffenen, nüchternen geisteswissenschaftlichen Blick mit kompetenten und durchaus auch mit emotionalen Implikationen verbindet.
So neigt sich das Jahr der Geisteswissenschaften – nachdenklich – dem Ende entgegen. Seine Denkanstöße haben jedoch das Zeug, unser Verständnis von Weltaneignung (allen Unkenrufen zum Trotz) nachhaltig zu verändern.
Oliver Ruf war als Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung zuletzt Preisträger beim Wettbewerb „Geist(d)er Stunde“ der deutschen Begabtenförderwerke und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Jahr der Geisteswissenschaften/Wissenschaftsjahr 2007; außerdem wurde er beim diesjährigen Essaywettbewerb des MERKUR – Zeitschrift für europäisches Denken mit dem 1. Preis ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bonn.