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Geringe Wahlbeteiligung
Die 24,5 Millionen wahlberechtigten Iraker konnten landesweit in rund 8.000 Wahllokalen
abstimmen. Für die rund 2.5 Millionen Binnenflüchtlinge (IDPs) wurden Wahllokale
in Flüchtlingslagern eingerichtet. Erstmals in der Geschichte der irakischen Demokratie
fand die Abstimmung mit elektronischen Wahlkarten statt, die vorab beantragt werden
mussten. Diese Neuerung sollte den Wahlprozess beschleunigen und den Wahlbetrug
minimieren. Neu ist auch, dass Iraker im Ausland abstimmen konnten.
Am Wahltag waren die Wahllokale für die Bevölkerung von 7:00 Uhr bis 18:00 Uhr
(Ortszeit) geöffnet. Mitglieder der Streitkräfte und der den Streitkräften formal angegliederten
Volksmobilisierungskräfte (al-Hashd asch-Schaabi) hatten bereits zwei Tage
zuvor (mit einer Wahlbeteiligung von 79%) gewählt. Landesweit fiel die Wahlbeteiligung
am 12. Mai ersten inoffiziellen Angaben zufolge äußerst gering aus. Nach offiziellen
Angaben der Independent High Electoral Commission (IHEC) haben nur rund 44,5 Prozent
der Iraker an der Abstimmung teilgenommen. Damit haben 2018 deutlich weniger
Iraker Gebrauch von ihrem Stimmrecht gemacht als noch in den drei nationalen Parlamentswahlen
zuvor (2014: 62 %, 2010: 62,4 %, 2005: 79,6 %).
Irakische Experten gehen jedoch davon aus, dass die tatsächliche Wahlbeteiligung sogar
noch geringer ausgefallen ist. Demnach wurde das offizielle Ergebnis nach oben
korrigiert, um (1) die Legitimität des neu gewählten Parlaments zu gewährleisten und
(2) das Ansehen der IHEC sicherzustellen. Nach Informationen aus Regierungskreisen
beziehen sich die offiziellen 44,5 Prozent Wahlbeteiligung nur auf die zuvor registrierten 11,7 Millionen Wähler und nicht auf die Gesamtheit der 24,5 Millionen wahlberechtigten
Iraker.
Die äußerst geringe Wahlbeteiligung kann auf die weit verbreitete Enttäuschung insbesondere
junger Iraker mit den politischen Institutionen und den politischen Amtsträgern
in Bagdad zurückgeführt werden. Viele Iraker sind der Auffassung, dass die von neun
konfessionell ausgerichteten Parteien dominierte politische Landschaft kaum durch ihre
Stimmabgabe verändert hätte werden können. Dieses Argument speist sich vor allem
auch aus der Tatsache, dass die IHEC als politisiert gilt und von eben diesen neun politischen
Gruppierungen kontrolliert wird. Im Vorfeld der Wahlen hat es kaum Bemühungen
von Seiten der IHEC gegeben, die irakische Bevölkerung in das neue Abstimmungssystem
mit elektronischen Wahlkarten einzuführen und die Aufmerksamkeit auf den
Wahlprozess zu lenken. Internationale Kampagnen zur Beteiligung am demokratischen
Prozess hätten, irakischen Politikexperten zufolge, die irakische Bevölkerung nicht erreicht.
Unter den Schiiten seien es demnach vor allem Regierungsbeamte gewesen, die
sich an der Wahl beteiligt hätten, während die Wahlbeteiligung unter der schiitischen
Landbevölkerung äußerst gering war.
Außerdem haben organisatorische sowie technische Probleme im Umfeld der Wahlen zu
der geringen Wahlbeteiligung beigetragen. Berichten zufolge seien nur rund 76 Prozent
der beantragten Wählerkarten bis zum Wahltag ausgehändigt worden. Insbesondere
irakische Binnenflüchtlinge hätten Probleme bei der Registrierung und Abstimmung gehabt.
Am Wahltag selbst hat die zeitweilige Ausgangssperre sowie das zeitweilige Fahrverbot
zahlreiche Wähler an der Abstimmung gehindert. Die Ankündigung des Islamischen
Staates (IS), den Wahlprozess zu attackieren, dürfte Wähler zudem von der
Stimmabgabe abgehalten haben.
Bewertung
Nach Jahren des Bürgerkrieges und des Kampfes gegen den IS hat die irakische Demokratie
einen – in der Form – unerwartet heftigen Rückschlag erlitten. Exakt fünfzehn
Jahre nach dem Sturz des Saddam-Regimes sieht es danach aus, als hätten sich große
Teile der irakischen Bevölkerung von den politischen Institutionen und politischen Vertretern
in Bagdad abgewandt. Angesichts der dramatischen Herausforderungen, vor denen
der Irak im Jahr 2018 steht, ist fraglich, ob Parlament und Regierung angesichts
dieser schwachen Wahlbeteiligung über die nötige Legitimität und Durchschlagskraft
verfügen, die dringend notwendigen Reformen in der Wirtschaft, Verwaltung und im
Sicherheitssektor durchzusetzen.
Sicherheitslage am Wahltag
Von wenigen Zwischenfällen abgesehen, liefen die Wahlen relativ friedlich ab. In den
Provinzen Basra, Salah Ad Din und Diyala kam es zu Schießereien in Wahllokalen, in
der Provinz Anbar wurden Raketen auf ein Wahllokal abgeschossen. In Nadschaf, dem
religiösen Zentrum der Schiiten, wurde ein Wahllokal aufgrund von Rangeleien zwischenzeitlich
geschlossen. Diese Vorfälle hatten keine Todesopfer zur Folge und behinderten
die Abstimmung nur unwesentlich. Noch in den Abendstunden des Wahltages wurde bekannt, dass Explosionen in der Provinz Kirkuk bis zu sechs Todesopfer forderten.
Aus Sicherheitsgründen waren irakische Flughäfen am Wahltag von null Uhr an für den
gesamten Flugbetrieb geschlossen. Im gesamten Irak waren Fahrzeuge nur dann erlaubt,
wenn sie vorab von der IHEC registriert wurden. Aufgrund der stabilen Sicherheitslage
wurden beide Einschränkungen jedoch noch im Laufe des Wahltages aufgehoben.
Noch in den Wochen vor den Parlamentswahlen hatte der IS Attentate auf Wahllokale
angekündigt. Das Ausbleiben solcher Anschläge ist ein Zeichen dafür, dass der IS knapp
ein Jahr nach der Rückeroberung seiner vormaligen Hochburg Mosul nur noch über begrenzte
Kapazitäten zur Durchführung komplexer Anschläge verfügt und die irakischen
Sicherheitsorgane ein stabiles Sicherheitsregime etablieren konnten. Vor allem in der
Grenzregion zu Syrien und in der Umgebung von Kirkuk und Mosul existieren weiterhin
Terrorzellen des IS, von denen auch in Zukunft eine hohe Gefahr ausgehen kann.
Aufkündigung des Nuklearabkommens mit dem Iran
Der Austritt der USA aus dem Atomabkommen (JCPOA) mit Iran hat das Wählerverhalten
– aus hiesiger Sicht – nicht entscheidend beeinflusst. Das regionale Kräftemessen
sowie die internationale Einflussnahme in Bagdad dürften jedoch im Kontext der Koalitionsbildung
eine große Rolle spielen. Während der amtierende Premierminister Haider
al-Abadi als Befürworter des internationalen (militärischen) Engagements im Irak gilt
und es ihm bisher gelang, die Interessen Teherans, Riyads und Washingtons auszubalancieren,
gelten seine größten Konkurrenten Hadi al-Ameri und Nuri al-Maliki als Vertreter
iranischer Interessen, die ein langfristiges US-Engagement ablehnen. Diese Positionen
in einer gemeinsamen Regierung zu vereinen, dürfte angesichts der sich abzeichnenden
Eskalation zwischen Iran und den USA äußerst schwierig werden. Der schiitische
Kleriker Muqtada as-Sadr – der nach ersten Ergebnissen als Gewinner der Wahl hervorgehen
könnte – hatte mit seinen Parteimilizen, den Mahdi-Brigaden, zwischen 2004 und
2008 noch die US-Streitkräfte im Irak bekämpft. Zuletzt öffnete er sich jedoch mit seiner
Sairoun-Liste gegenüber den USA und Saudi-Arabien und könnte damit zu einer
neuen ausbalancierenden Konsenspartei werden. Sollte es nach Aufkündigung des
JCPOA und nach Ende des Kampfes gegen den IS zu einer Eskalation zwischen dem Iran
und den US (beziehungsweise deren jeweiliger Stellvertreter) im Nahen Osten kommen,
so wird gerade die irakische Regierung große Schwierigkeiten haben, nicht in diesen
Konflikt hineingezogen zu werden.
Vorläufige Ergebnisse
Das neue irakische Parlament wird insgesamt 329 Sitze umfassen. Die IHEC hat am
Sonntag, den 13. Mai, erste vorläufige Ergebnisse aus zehn der insgesamt 18 Provinzen
bekanntgegeben. Dabei handelt es sich um die Hauptstadt Bagdad, in der insgesamt 69
Parlamentssitze vergeben werden, und die vornehmlich schiitischen Provinzen im Süden des Irak, wo die Wahlen nach Einschätzung von Experten entschieden werden. Es zeichnet
sich ab, dass der amtierende Premierminister Haider al-Abadi keine der zentralen
Wahldistrikte gewinnen konnte, während die Sairoun-Bewegung des schiitischen
Klerikers Muqtada as-Sadr und die Conquest-Allianz von Hadi al-Ameri dort besonders
stark abschnitten. Damit scheint sich – zum jetzigen Zeitpunkt – ein neues Kräfteverhältnis
im irakischen Parlament zu ergeben und sich (auch aufgrund des Fastenmonats
Ramadan) eine langwierige Regierungsbildung mit noch unklarem Ausgang abzuzeichnen.
Anders als noch im Vorfeld der Wahl erwartet, dürfte das Ergebnis der nationalen
Parlamentswahl damit keine Fortführung des bisherigen Status quo bedeuten.
Nach Bekanntgabe der vorläufigen Ergebnisse aus zehn von 18 Provinzen ergibt sich
folgendes Bild (Stand 1100 MEZ):
- Sairoun-Bewegung (Muqtada as-Sadr) 1,1 Millionen Stimmen
- Conquest-Allianz (Hadi al-Ameri) 962.000 Stimmen
- Victory-Allianz (Haider al-Abadi) 717.000 Stimmen
- State of Law-Koalition (Nuri al-Maliki) 590.000 Stimmen
- National Wisdom-Bewegung (Ammar al-Hakim) 400.000 Stimmen
- Sairoun-Bewegung (Muqtada as-Sadr) 413.000 Stimmen
- Conquest-Allianz (Hadi al-Ameri) 232.000 Stimmen
- State of Law-Koalition (Nuri al-Maliki) 211.000 Stimmen
- Al-Wataniya (Ayad Allawi) 204.000 Stimmen
- Victory-Allianz (Haider al-Abadi) 194.000 Stimmen
gekommen, die Auswirkungen auf das Gesamtergebnis haben dürften. In Bagdad sowie
in den südlichen Provinzen haben demnach bewaffnete schiitische Milizionäre direkt in
Wahllokalen Einfluss auf das Wahlverhalten genommen. In anderen Fällen wurden
Stimmzettel nach Ende des Wahlgangs ausgetauscht und damit ein anderes Ergebnis
herbeigeführt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die IHEC nur geringfügige
Änderungen an der vorläufigen Verteilung der Parlamentssitze nehmen wird, um
gewaltsame Auseinandersetzungen der (Partei-) Milizen zu vermeiden.
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