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Nach den Europawahlen in Polen

Автор: David Gregosz, Dr. Piotr Womela

Die EU-Politik der Regierung Tusk

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 hat die pro-europäische und liberale Partei Bürgerplattform gewonnen. Ihr größter Konkurrent, die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit, wurde mit nur 1 % schlechterem Ergebnis Zweiter. Was sagt das Wahlergebnis über die polnische politische Szene aus und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus? Was ist nach dem Urnengang für die Ausrichtung der Europapolitik zu erwarten. Das vorherige Kabinett, das von der Partei Recht und Gerechtigkeit gebildet wurde, war bezüglich der Zusammenarbeit äußerst skeptisch und versuchte den Integrationsprozess zu begrenzen. Kehrt Polen als kraftvoller Akteur in die europäische Arena zurück und was hat das Land Europa zu bieten?

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Zurück auf der europäischen Bühne

Am Abend der Europawahl triumphierte Premierminister Donald Tusk. In den Exit Polls lag die Bürgerkoalition (KO)[1] klar vor der Partei von Jarosław Kaczyński, Recht und Gerechtigkeit (PiS). In dieser Stunde sprach Tusk mit Pathos „Wir sind ein Leuchtfeuer der Hoffnung für Europa. Wir sind Anführer in der Europäischen Union“. Er erinnerte explizit daran, dass in Ländern wie Deutschland und Frankreich die etablierten Parteien viel schlechter abgeschnitten haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits gezeigt, dass in Frankreich der euroskeptische Rassemblement National von Marine Le Pen die EU-Wahlen gewonnen hatte, was Präsident Emmanuel Macron dazu veranlasste, das Parlament aufzulösen. In Deutschland überholte die AfD unterdessen die SPD, die als größte Partei die Regierungskoalition anführt. Die Abstimmung hat also gezeigt, dass das Vertrauen der Wähler in die Regierungen in Paris und Berlin gesunken ist. Tusk hingegen tat so, als ob er glaubte, dass die polnische Bürgerplattform die letzte Hoffnung der Euro-Enthusiasten in der Union sei. Diesen Erfolg wird er wahrscheinlich bei den jetzt laufenden Verhandlungen zu der Besetzung von Schlüsselpositionen in der Europäischen Union nutzen wollen. Tusk ist einer der Verhandlungsführer der Europäischen Volkspartei geworden. Er wird sicherlich die Position seiner Partei in der EVP-Familie stärken und mehr Einfluss auf das Geschehen in Brüssel ausüben wollen. Tusk sprach sich erneut für Ursula von der Leyen als Chefin der Europäischen Kommission aus. Darüber hinaus wird es spekuliert, dass ein Pole den Posten des Verteidigungskommissars erhalten könnte. Wie die Verhandlungen ausgehen werden, wissen wir im Moment nicht, aber allein die Tatsache, dass der polnische Premierminister sie als Vertreter der größten Fraktion im Europäischen Parlament führt, sagt viel über seine Position unter den europäischen Staatsmännern aus.

Damit unterscheidet er sich grundlegend von seinen Vorgängern. Die von der PiS gestellte Regierung hatte sich selbst ins europäische Abseits manövriert, indem sie umstrittene Reformen u.a. im Justizwesen durchführte. Diese Reformen wurden von der EU als Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit betrachtet und führten dazu, dass Polen europäische Gelder vorenthalten wurden. Erst Ende des Jahres 2023 genehmigte die EU-Kommission Mittel aus dem europäischen Corona-Wiederaufbaufonds. Damit entspannte sich die Lage in einem länger andauernden Streit zwischen Warschau und Brüssel und der neugewählte Premierminister Tusk konnte sich als Macher präsentieren, der Geld aus der Union freimachte. Tusk gilt als ein erfahrener Politiker, sowohl in der polnischen als auch in der europäischen Politik. Er war bereits Regierungschef Polens und von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates, sowie Vorsitzender der EVP bis 2021, als er in die polnische Politik zurückkehrte. Er ist daher mit den Mäandern der europäischen Politik wohl vertraut und verfügt über Kompetenzen und Wissen, um seine Ziele zu erreichen. Die Außenpolitik sollte auch eine hervorgehobene Rolle in der Kommunikation der Regierung mit der polnischen Gesellschaft spielen. Einer der wichtigsten Wahlslogans, mit denen die KO bei den letzten Parlamentswahlen gewonnen hat, lautete „zurück zu Europa“. Dies muss eine deutlich aktivere Europapolitik bedeuten. Tusk braucht sichtbare Erfolge in diesem Bereich, zumal der bis zum Äußersten strapazierte Haushalt es nicht erlauben wird, alle anderen Wahlversprechen schnell zu erfüllen, dabei sind die Erwartungen der Wählerschaft an die Regierung sehr hoch.

All das lässt schließen, dass Polens Regierung unter Tusk zurück im europäischen Spiel ist und Ambitionen hat, in der ersten Liga der großen europäischen Akteure mitzuspielen.

Der Ausgang der Europawahlen ist auch für die weitere Entwicklung des innenpolitischen Kräfteverhältnisses von Bedeutung. Obwohl das Endergebnis leicht von den Umfragen abwich und der Vorsprung der KO schrumpfte, behielt die Partei von Tusk ihre führende Position, und das zum ersten Mal seit zehn Jahren. Dies hatte eine symbolische Bedeutung. Eine Serie von Wahlsiegen der PiS ging damit zu Ende. Die Wähler orientieren sich oft am Sieger, was kurz- und mittelfristig zu einem weiteren Anstieg der Unterstützung für Tusks Partei führen könnte. Dies ist nicht unbedeutend, zumal Mitte 2025 Präsidentschaftswahlen anstehen. Der derzeitige, der PiS-nahestehende Präsident Andrzej Duda hat angekündigt, dass er sein Veto einlegen wird, wenn die derzeitige liberaldemokratische Parlamentsmehrheit versuchen würde, die von der Vorgängerregierung seiner Parteikollegen eingeführten Reformen rückgängig zu machen. Ein Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr würde sicherlich den Spielraum der Regierung vergrößern – auch in Bezug auf die Außen- und Europapolitik.

 

Europa – Visionen und politische Polarisierung

Das Ergebnis der Europawahlen zeigt mehr als nur den Erfolg von Premierminister Tusk. Zudem haben die europäischen Medien ihn bereits als einen Politiker gefeiert, der sich mit dem Populismus auseinandergesetzt hat. Aber ist Tusk der einzige Sieger dieser Wahl? Wenn wir einen Blick auf die politische Szene insgesamt werfen, ist die Sachlage nicht mehr so eindeutig. Denn es gibt noch einen weiteren Wahlsieger: die politische Polarisierung. Anders ausgedrückt: Die zwei großen Lager – stets in Konflikt miteinander – haben einen Sieg davongetragen. Die kleineren Parteien hingegen, die versuchten, ihren Weg zwischen den sich bekriegenden Giganten zu finden, haben verloren. Die Bürgerkoalition erhielt 37,1 % und die PiS 36,2 % der Stimmen. Die Gesamtzahl beläuft sich auf mehr als 73 %. Das ist deutlich mehr als bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober 2023, als insgesamt 66 % der Wähler für beide Formationen stimmten. Dabei hat die Partei von Jarosław Kaczyński ihr Ergebnis nur geringfügig verbessert und die Gruppierung von Donald Tusk um mehr als 6 Prozentpunkte.

Tusk war sich dieser Polarisierung, die auch den Wahlkampf beherrschte, durchaus bewusst. Man hörte weniger über konkrete europapolitische Vorschläge und mehr über die politischen Schwächen seiner Konkurrenten. Er stellte erfahrene politische Kämpfer als Kandidaten auf, Politiker aus der ersten Reihe, darunter mehrere Minister aus seiner eigenen Regierung. Sie scheuten nicht, ebenso wie ihre politischen Konkurrenten, vor Negative Campaigning zurück. Auf der Wahlkampfveranstaltung im Juni, dem Hauptereignis der KO-Kampagne, donnerte Tusk mit Blick auf die PiS-Abgeordneten: „Müssen wir uns für unsere Abgeordneten schämen?“ Er fügte hinzu, dass die Wahllisten der
PiS-Europaabgeordneten eher Fahndungslisten ähnelten. „Wollen wir“, so Tusk, „wirklich Diebe, Schurken und Menschen ohne Gewissen nach Brüssel entsenden?“. Diese Strategie hat sich als erfolgreich erwiesen. Andere Parteien, die nicht auf eine konfrontative Polarisierung setzten, haben schließlich deutlich schlechter abgeschnitten. Die Ergebnisse der PO-Koalitionspartner sehen schlecht aus. Die Unterstützung für den Dritten Weg ist von 14,4 % im Oktober auf 6,9 % gesunken. Auch die Linke erhielt nur noch 6,3 % der Stimmen, obwohl sie bei den Parlamentswahlen mit 8,6 % der Wähler rechnen konnte.

Lediglich die antieuropäische Konfederacja (Konföderation) kann zufrieden sein, denn ihre Unterstützung stieg von 7,2 % auf 12,1 %. Dieses letzte Ergebnis zeigt, dass die Europawahlen eine Wählerschaft mobilisieren, die gegen eine weitere Integration ist. Interessanterweise entschieden sich vor allem junge Wähler für die Partei. Für die Wähler der Konföderation war der Euroskeptizismus der PiS nicht ausreichend und sie haben sich für eine radikalere Option entschieden. Das Ergebnis der Konföderation entzieht sich dem Muster des PO-PiS-Duopols und vielleicht entwickelt sich die Partei zur dritten politischen Kraft in Polen. Für den Moment können wir jedoch von einem überraschend guten Ergebnis für die Partei sprechen, aber es ist noch weit davon entfernt, als Game Changer bezeichnet zu werden. Andererseits ist einer der bereits sichtbaren Nebeneffekte des guten Ergebnisses der Konföderation die Radikalisierung der PiS, die die Partei als Bedrohung auf der rechten Seite der politischen Szene sieht. Um eine Abwanderung ihrer Wähler zur Konföderation zu verhindern, hat sie ihre Haltung bereits verschärft, indem sie kurz nach den Wahlen eine rassistisch geprägte Anti-Immigrationskampagne startete. Darin bezieht sich die PiS auf eine bereits bewährte Methode, Angst vor Migranten aus Asien und Afrika zu schüren, nur dass die Botschaft aufdringlicher ist und Munition gegen die aktuelle Regierung liefern soll, die angeblich eine europäische Politik der offenen Grenzen befürwortet.

Hat Donald Tusk also wirklich Grund, seinen Wahlerfolg zu feiern? Ja und nein. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppierungen sind gering. Von den insgesamt 53 Sitzen im Europäischen Parlament, die auf Polen entfallen, hat die KO 21 Sitze gewonnen und die PiS 20. Addiert man die Ergebnisse der drei Gruppierungen der derzeitigen Regierungskoalition (KO, „Dritter Weg“, Linke), so kommen sie auf 50,27 % - gegenüber 53,71 bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr. Die Parteien, die dem Kurs der Europäischen Union kritisch gegenüberstehen, nämlich PiS und Konföderation, kommen zusammen auf 48,27 %. Dies stellt fast ein Gleichgewicht der Kräfte dar. Die EU-Enthusiasten haben nur einen Sitz mehr gewonnen als die Euroskeptiker (27 zu 26).

Erwähnenswert ist auch die niedrige Wahlbeteiligung, die mit 40,6 % deutlich niedriger war als im Oktober, als eine Rekordbeteiligung von 74,4 % zu verzeichnen war. Die stärksten Rückgänge der Wahlbeteiligung wurden in den traditionellen Hochburgen der Rechten verzeichnet, also in den östlichen Regionen Polens. Die nördlichen und westlichen Regionen und generell die größeren Städte, wo die KO besser abschneidet, erwiesen sich als mobilisierter. Anders als bei den vorigen Wahlen gab es in den ländlichen Gebieten und Dörfern kein Andrang in den Wahllokalen, als ob EU-Themen dort eine größere Gleichgültigkeit als Widerstand hervorriefen. Wäre die Mobilisierung der PiS-Wähler größer gewesen, wäre das Ergebnis auch für die KO nicht so günstig gewesen. Es gibt noch ein beträchtliches Mobilisierungspotenzial unter den Wähler der Rechten. Bei Wahlen, die größere Emotionen wecken, wie die Präsidentschaftswahlen, kann es noch aktiv werden.

Tusks Triumph kann daher als knapper Punktsieg bezeichnet werden und sicherlich nicht als Sieg durch KO.

Das Gefecht zwischen den beiden Parteien war auch eine Auseinandersetzung zweier Visionen der Außenpolitik. Der politische Streit zwischen der PiS und der KO bestimmt die politische Szene in Polen quasi seit dem EU-Beitritt Polens 2004. Der grundlegende Streit in der polnischen Europapolitik betrifft den Substanzwert der Mitgliedschaft. Bereits während des Wahlkampfs 2015 machte die PiS sehr deutlich, dass man in der Außenpolitik vor allem im Sinne der nationalen Interessen handeln und diese, wenn nötig, entschlossen in der EU verteidigen wolle. Die Politik der KO wurde in dieser Hinsicht als zu unterwürfig kritisiert. Hinter dieser Kritik stand der Wunsch, eine bestimmte Art von Narrativ über die nationale Identität in einem sich vereinigenden Europa zu entwickeln. Für die polnischen Konservativen sind die Bewahrung einer durch den europäischen Kosmopolitismus bedrohten Identität und die Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität in größtmöglichem Umfang vorrangige Ziele. Die PiS sieht die EU als ein „Europa der Vaterländer“, in Anlehnung an das Konzept von de Gaulle. Dieses Konzept hat in der Umsetzung der Partei die Form von Ängsten und Verneinung angenommen. Sie kritisierte scharf die Einmischung der EU in die inneren Angelegenheiten Polens. Dies äußerte sich zum Beispiel in der Nichtumsetzung von EuGH-Urteilen. Diese Haltung der PiS hat während ihrer Regierungszeit zu einer Isolierung Polens auf der internationalen Bühne geführt und damit die Möglichkeiten zur effektiven Verwirklichung der nationalen Interessen eingeschränkt, für die sie sich eigentlich so sehr einsetzen wollte.

Anders verhält es sich bei der Bürgerplattform. Diese strebt für Polen eine gestaltende Rolle bei der Entscheidungsfindung in der EU an. Dieses Bestreben erfordert jedoch Zusammenarbeit und Kompromisse, was wiederum von ihren politischen Gegnern oft als Verrat an den nationalen Interessen bezeichnet wurde. Im Dezember 2023 bezeichnete der Vorsitzende der PiS Premierminister Tusk nach dessen Regierungserklärung vor dem polnischen Parlament als deutschen Agenten. Dies passte in das Narrativ der PiS, dass Deutschland der dominierende Staat in der EU und Polens Rivale sei und dass Tusk unter dessen Diktat handele. Die Aussage sagt wahrscheinlich mehr über den Autor dieser Worte aus als über den Adressaten. Sie zeugt aber sicherlich von der hohen Temperatur des politischen Klimas in Polen.

 

Pragmatismus als Modus Operandi

Konkrete Ansätze der Europapolitik der Bürgerplattform sind schwer eindeutig zu charakterisieren. Die derzeitige Regierung hat keine eigene Grand Strategy entwickelt. Vielmehr sind Kalkül und Pragmatismus zu erwarten. Entscheidungen werden getroffen, um auf aufkommende Herausforderungen und die Stimmung der Wähler zu reagieren. Das war auch bei Tusks vorherigen Kabinetten der Fall. Als er 2007 zum ersten Mal Premierminister wurde, sprach er von der Notwendigkeit, dass Polen so schnell wie möglich der Eurozone beitreten solle. Nach der Finanzkrise, aus der Polen ohne größeren Schaden davongekommen ist, bot sich die Gelegenheit dazu. Aufgrund der geringen öffentlichen Unterstützung für eine Euro-Einführung machte er jedoch einen Rückzieher von diesen Ankündigungen.

Auch aus der Lektüre der gegenwärtigen programmatischen Dokumente der KO kann man eine detaillierte europapolitische Strategie nicht entnehmen. Sie sind knapp und pragmatisch ohne große ideelle Ausschweifungen. Noch im PO-Programm von 2016 wurde die Inspiration durch christliche Wertevorstellungen hervorgehoben. Außer der christlichen Tradition wurden gemeinsame Werte, wie Rechtsstaatlichkeit, Anerkennung der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, Frieden und das Verständnis für die Notwendigkeit wirtschaftlicher Zusammenarbeit betont. In späteren Dokumenten verweist die Partei nicht mehr auf historische Traditionen. In ihrem Wahlprogramm für 2019 betonte sie, dass die EU eine Wertegemeinschaft sei und führte in einem kurzen Wertekatalog auf, wofür die PO steht: Menschen- und Individualrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität auf.

Im Programm der KO für die letzten Parlamentswahlen 2023 nahmen europäische Themen dagegen nur einen Randplatz ein. Darin wurde lakonisch darauf hingewiesen, dass die KO beabsichtigt, für Mittel aus den EU- Fonds zu sorgen und nach der Regierungsbildung in das Entscheidungszentrum in der EU zurückzukehren. Außerdem wurde im Wahlprogramm angekündigt, dass aus EU-Geldern die polnische Ostgrenze zu Belarus gesichert werden solle. Ebenfalls im Koalitionsvertrag aus dem letzten Jahr ist zur Europapolitik nur wenig zu finden. Dieses Thema taucht im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Sicherheit Polens durch die Zusammenarbeit mit der NATO und der EU und im Hinblick auf die Unterstützung der grünen Transformation auf.

Im Wahlkampf für das Europaparlament wiederrum fanden Slogans über den Erwerb von europäischen Geldern den größten Widerhall. Man konnte also den Eindruck gewinnen, dass die Einstellung der Politiker gegenüber der EU von einer utilitaristischen Haltung geprägt ist. Dies ist auch die Haltung, die im Allgemeinen den öffentlichen Diskurs in Polen beherrscht. Die große Mehrheit der Polen ist mit der Mitgliedschaft zufrieden, weil die EU konkrete Vorteile bietet. Polen ist noch der größte Nettoempfänger von europäischen Geldern und die 20-jährige Mitgliedschaft hat dem Land einen wahren Entwicklungssprung beschert.

Es ist aber nicht klar, welche Position die polnische Regierung zu den großen europäischen Herausforderungen einnehmen wird, die jetzt auf dem Tisch liegen. Erklärungen zu dem vom Europäischen Parlament im Jahr 2023 verabschiedeten EU-Reformprojekt, zum Migrationspaket oder zum Green Deal sind eher nebulös.

EU-Reform

In Bezug auf die Reformpläne der EU äußerte Außenminister Radosław Sikorski in einem Interview (Polityka, 01.05.2024) den Wunsch, dass Europa in bestimmten Bereichen enger zusammenarbeitet und ist bereit, sich vorzustellen, das Prinzip der Einstimmigkeit bei der Entscheidungsfindung aufzugeben, um die operativen Fähigkeiten der EU in Verteidigungsfragen zu erhöhen. Gleichzeitig spricht sich die Regierung gegen eine Änderung der europäischen Verträge aus. Um das Einstimmigkeitsprinzip zu begrenzen, werden aber Vertragsänderungen notwendig. Die Position der Regierung zu den Reformprozess insgesamt ist unbekannt und es ist schwer zu sagen, welche EU in Hinblick auf die künftige Erweiterung sie sich wünscht.

Migration

Im Mai billigte der EU-Rat den europäischen Migrationspakt. Der polnische Vertreter im Rat hat dagegen gestimmt. Die Bereitschaft zur Aufnahme von Migranten aus anderen europäischen Ländern im Zusammenhang mit dem obligatorischen Solidaritätsmechanismus ist in der polnischen Gesellschaft gering und die Regierung ist sich dessen bewusst. Darüber hinaus wurde die öffentliche Meinung einige Tage vor den Europawahlen durch die Nachricht elektrisiert, dass ein polnischer Soldat von einem Migranten getötet wurde, der versuchte, die polnisch-belarussische Grenze zu überqueren. Daher erklärte Tusk, dass die Europäische Union Polen keine Migrantenquoten auferlegen werde. Im Gegenteil, sagte er, Polen werde finanzielle Unterstützung von der Union einfordern, da es ein Aufnahmeland für Migranten vor allem aus der Ukraine geworden sei. Vielleicht ist der Sinneswandel der KO in der Frage der Umverteilung von Migranten auf frühere Erfahrungen zurückzuführen. Als Reaktion auf die Migrantenkrise von 2015 schlug die EU vor, die in Südeuropa angekommenen Migranten auf die Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Die damalige polnische Regierung, die von der PO gebildet wurde, erklärte sich bereit, mehrere tausend Migranten aufzunehmen. Dies geschah während des Wahlkampfs für das polnische Parlament. Die PiS nutzte dieses Thema aus, indem sie die Polen mit Migranten aus kulturell fremden Ländern verängstigte. Wie Meinungsumfragen zeigen, hatte die PO 2015 die Wahl unter anderem deshalb verloren, weil sie dem Umverteilungsmechanismus zugestimmt hat.

Diese Thematik bestimmt weitgehend die europäische Debatte in Polen. In den letzten Monaten hat die polnische Regierung oft von der Notwendigkeit gesprochen, die Außengrenzen der EU, einschließlich der polnisch-weißrussischen Grenze, zu sichern und Europa vor massenhafter und unkontrollierter Migration zu schützen. Sikorski betonte dieses Thema bei der Vorstellung seiner außenpolitischen Ziele im April dieses Jahres. Er sagte, dass das derzeitige europäische Asylsystem ineffizient sei und ein gemeinsamer klarer Migrationspfad für diejenigen benötigt werde, die die europäische Wirtschaft und Gesellschaft brauche. Bisher fehlt es jedoch an konkreten Vorschlägen.

Energiewende

Auch bei der Energiewende gibt es keine klaren Ankündigungen. In dieser Frage kommt der Druck vom Koalitionspartner der PO, der Partei Polska 2050, zusammen mit der Volkspartei (PSL) im Bündnis „Dritter Weg“, die das Umweltthema in seinem Programm in Vordergrund stellt. Wie bereits erwähnt, ist die Forderung nach einer schnellen Dekarbonisierung im Koalitionsvertrag enthalten. Das Erreichen der Klimaneutralität ist jedoch keine leichte Aufgabe und weckt ambivalente Gefühle in Polen. So wurde beispielsweise die Idee der Ministerin für Regionalpolitik aus Polska 2050 Subventionen für den Kauf von gebrauchten Elektroautos einzuführen, kritisiert, dass Polen mit diesem Programm zu einer Müllhalde für gebrauchte Batterien für Elektroautos wird. Das Subventionsprogramm selbst soll aus dem Covid-Wiederaufbaufonds finanziert werden, für das die neue liberale Regierung die EU-Mittel freigeschaltet hat. Die Zuschüsse aus diesem Konjunkturprogramm, die sich für Polen voraussichtlich auf rund 130 Milliarden Euro einschließlich Darlehen belaufen werden, sollen zu fast einem Drittel für Investitionen in grüne Mobilität und zu einem Viertel für grüne Energie verwendet werden. Viele Polen haben jedoch Angst vor dem rasanten Tempo des grünen Wandels und den steigenden Energiepreisen. Sikorski sagte in dem bereits zitierten Interview, dass die Voraussetzung, die Zulassung von Autos mit Verbrennungsmotor bis 2035 zu beenden, nicht realisierbar sei und dass die Klimaziele über einen längeren Zeitraum erreicht werden sollten als es im Green Deal vorgesehen ist.

Auch die polnischen Landwirte sind besorgt über den European Green Deal, was sie im Frühjahr 2024 mit einer großen Protestaktion in Warschau zum Ausdruck brachten. Daraufhin begann der Premierminister, von Freiwilligkeit, statt von Zwang im Zusammenhang mit den grünen Ambitionen der EU zu sprechen. „Die Aufgabe meiner Regierung, so Tusk, ist es, aus dem Green Deal diejenigen Bestimmungen zu streichen, die den Interessen der polnischen Landwirtschaft direkt schaden.“ Dazu gehört die Streichung einiger Anforderungen im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung der Landwirtschaft. Unter anderem soll die ursprünglich im europäischen Konzept vorgesehene Verpflichtung, einen Teil der Ackerflächen stillzulegen, gestrichen werden. Darüber hinaus werden landwirtschaftliche Betriebe mit einer Größe von bis zu 10 ha, von denen es in Polen relativ viele gibt, nicht mit Strafmaßnahmen im Zusammenhang mit der Umsetzung von Umweltstandards belegt. Diese Interventionen der Regierung wiederum werden von Umweltschützern abgelehnt und der Regierung wird vorgeworfen die Klimaziele zu verwässern. Ökologen haben jedoch weniger Einfluss auf die Politik als die Agrarlobby.

Ukraine

Auch die Begeisterung über die rasche Integration der Ukraine ließ nach, als die polnischen Landwirte begannen, gegen den Import von ukrainischem Getreide zu protestieren. Donald Tusk wies kürzlich darauf hin, dass die polnischen Landwirte die Kosten für die Massenimporte ukrainischer Lebensmittel in das vereinigte Europa nicht tragen können. Obwohl sich das Land einer existenziellen Bedrohung durch Russland gegenübersieht und jeden Euro an Exporteinnahmen braucht, wird von ihm erwartet, dass es die strengen Agrarmarktregeln der EU respektiert. Übrigens hat die Debatte über die Folgen der angestrebten EU-Osterweiterung noch nicht begonnen. Sie wird sicherlich nicht einfach sein, denn Polen könnte einen großen Teil der Strukturfondsmittel aus dem gemeinsamen Haushalt an die Ukraine verlieren und damit zum Nettozahler werden. Das bedeutet nicht, dass die Unterstützung für die ukrainischen Beitrittsbestrebungen aufhören wird. Die Mitgliedschaft liegt in Polens elementarem geostrategischen Interesse, aber sie könnte die bisher weit verbreitete pro-europäische Begeisterung der Polen überfordern.

Sicherheit

Es gibt jedoch Politikbereiche die Tusk voranbringen will. Es scheint, dass der Bereich, in dem Polen die Führung übernehmen will, die Sicherheitsfrage sein wird[2]. Der Krieg in der Ukraine, der in Polens unmittelbarer Nachbarschaft stattfindet, hat die außenpolitischen Prioritäten verändert und die Sicherheitsfrage in den Vordergrund gestellt. Die Regierung Tusk hat erhebliche Mittel für den Ausbau der Armee in Höhe von 4 % des BIP vorgesehen. Die Modernisierung der Armee wird wahrscheinlich von diplomatischen Bemühungen zur Stärkung der Verteidigungskomponente der EU begleitet werden. Gleichzeitig weist die Regierung darauf hin, dass es sich nicht um eine Wahl zwischen engen Beziehungen zur EU und der Zusammenarbeit mit den USA handelt. Niemand in Polen stellt das transatlantische Bündnis in Frage. Andererseits scheinen angesichts der Bedrohung durch Putins Russland und der Ungewissheit über den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen die Synchronisierung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsanstrengung, die Möglichkeit gemeinsamer militärischer Missionen im Rahmen der GSVP und eines effektiven Krisenmanagements oder die Zusammenarbeit der Rüstungsindustrien durchaus legitim. In diesem Sinne hat sich Sikorski bereits mehrmals geäußert. Premierminister Tusk hingegen forderte die Einsetzung eines europäischen Verteidigungskommissars, der mit wichtigen Kompetenzen ausgestattet sein soll, sowie Investitionen in ein europäisches Luftverteidigungssystem. Die im Jahr 2022 vom Bundeskanzler Scholz angekündigte European Skyshield Initiative wurde zuerst von der PiS-Regierung abgelehnt. Tusk entschied sich aber unlängst dafür, dass Polen sich an dem Vorhaben beteiligen wird. Man kann vermuten, dass Polen zu einem der wichtigsten Befürworter der Initiative würde und diese in die bestehenden und zukünftigen nationalen Luftabwehrsystemen integrieren will.

 

Hauptdarsteller der polnischen Europapolitik

Wenn man die polnische politische Szene beobachtet, ist völlig offenkundig, dass Donald Tusk die wichtigste Figur im liberal-demokratischen Lager ist. In der Öffentlichkeit gilt er als Autor des Wahlerfolges im Oktober 2023, als die PiS abgewählt wurde. Mit ihm verbinden die Polen ihre Hoffnung auf eine pro-europäische Wende. Tusk ist mit den komplizierten und oft informellen Entscheidungsprozessen der EU gut vertraut und beweist Agilität oder ist zumindest in der Lage, seine Effektivität zu demonstrieren. Weitreichende Visionen der europäischen Integration zu entwerfen, ist hingegen wahrscheinlich nicht sein Metier. Für die Gestaltung einer realistisch geprägten Außenpolitik ist ein anderes Regierungsmitglied zuständig. Die zweite Säule der polnischen Europapolitik ist zweifelsohne Radosław Sikorski, ein ebenso erfahrener und mit einer starken Persönlichkeit ausgestatteter Politiker. Auf ihn stützt sich die polnische Außenpolitik und Tusk scheint großes Vertrauen in ihn zu haben. Er ist es, der mit den großen sicherheitspolitischen Herausforderungen betraut wird, während der Europaminister Adam Szłapka eher im Hintergrund agiert und erstmals einem Exekutivorgan angehört. Gerade die Steigerung der Resilienz und Abschreckungsfähigkeit wird die Priorität der polnischen Regierung sein. Polen ist jetzt ein Frontstaat, der aus Sicht der europäischen Sicherheitsarchitektur wichtig ist. Tusk ist sich dessen im Klaren. Neue Initiativen und Erkenntnisse in der Sicherheits- aber vor allem auch in der Europapolitik wird es sicherlich mit der polnischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2025 geben. Diese Präsidentschaft kann dann ein Erfolg werden, wenn sich Polen in den wesentlichen europapolitischen Politikfeldern klar und konstruktiv positioniert. Es muss darüber hinaus in der Lage sein, neue Allianzen in dem nach den Wahlen strapazierten Europa zu schmieden.

 

[1] Bei der Bürgerkoalition handelt es sich um eine Wahlbündnis, das von der Bürgerplattform (PO) unter Donald Tusk angeführt wird.

[2] Zur sicherheitspolitischen Ausrichtung Polens und seinen Implikationen für Europa siehe auch einen vorkurzen erschienen Länderbericht des Auslandsbüros Polen. https://www.kas.de/pl/web/polen/informacje-z-kraju/detail/-/content/polen-als-starker-sicherheitsgarant-an-der-nato-ostflanke

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