Weniger Rückkehrbereitschaft unter Syrern, weniger Akzeptanz unter Türken
Gekommen um zu bleiben? Diese Frage stellen sich dieser Tage viele Türken mit Blick auf die syrischen Flüchtlinge in ihrem Land. Im öffentlichen Diskurs werden letztere offiziell auch als Gäste bezeichnet. Das ist zum einen wertschätzend, aber auch bestimmt: ein Gast geht wieder. Waren es Anfang 2015 noch etwas mehr als 1,5 Millionen registrierte Syrer in der Türkei, sind es fünf Jahre später etwa 3,6 Millionen. Das liegt zum einen an dem anhaltenden Bürgerkrieg im Nachbarland, zum anderen aber auch an den über 450.000 syrischen Neugeburten in der Türkei (zum jetzigen Zeitpunkt etwa 465 pro Tag).[1] Diese Kinder haben Syrien nie gesehen, die Türkei ist für sie Normalität. Das sowie die sich weiter verschlechternde Lage jenseits der Grenze als auch natürliche Prozesse der sozialen Integration oder zumindest der Eingewöhnung vor Ort führen dazu, dass inzwischen dreimal so viele wie 2017 in jeglichem Fall nicht mehr nach Syrien zurückkehren möchten, so Murat Erdogan, Professor für Integrationsstudien an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. Wie er in einem Bericht für die KAS von Ende letzten Jahres aufzeigt, sind die in der Türkei geborenen syrischen Kinder de facto „staatenlos“: ihnen wird weder die türkische Staatsbürgerschaft noch die syrische automatisch zugestanden.[2] Geboren auf der Flucht sind sie gefangen zwischen den Welten. Kulturell sowohl syrisch als auch türkisch sind sie rechtlich keins von beidem. Ihre Zukunft als Menschen mit sogenanntem Temporären Schutzstatus ist ungewiss. Das ist psychisch belastend und erhöht den Wunsch nach einem Bleiberecht, zumindest aber nach Klarheit.
Gleichzeitig allerdings steigt die Unzufriedenheit der türkischen Bürgerinnen und Bürger über ihre syrischen „Gäste“. Waren 2017 bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit der Anwesenheit der vielen Flüchtlinge „unzufrieden“ – so der Wortlaut der Umfrage –, sind es 2019 ganze zwei Drittel.[3] Dabei sind diese Meinungen politisch anders verteilt, als man es zunächst vermuten könnte. So sind es Zahlen der Istanbuler Kadir-Has-Universität zufolge insbesondere Wähler der kemalistischen Republikanischen Volkspartei, CHP, welche zu 82,6% unzufrieden sind. Damit liegen die Anhänger der selbsterklärten Mitte-Links-Partei von Staatsgründer Atatürk mit ihrer Unzufriedenheit noch vor der nationalistischen MHP und der nationalistisch-kemalistisch gesinnten Splitterpartei Iyi Partisi, bei welchen sich laut selbiger Umfrage etwa 64 beziehungsweise 62 Prozent der Stammwähler als unzufrieden über die Syrer geäußert haben. Auch Anhänger der kurdisch-nationalistischen und zugleich links-progressiven HDP sind zu 71% unzufrieden über die neue ethnische Minderheit im Land. Die geringste Unzufriedenheit findet sich schließlich unter Wählerinnen und Wählern der muslimisch-konservativen Regierungspartei AKP von Staatspräsident Erdogan, von denen relativ betrachtet nur 59% angeben, unzufrieden mit der Anwesenheit der syrischen Geflüchteten zu sein.[4] Wie lassen sich diese empirischen Befunde erklären?
Mitte-Rechts weniger gegen Flüchtlinge als Mitte-Links
Kausalitäten mit Gewissheit zu identifizieren ist für die Sozialwissenschaften bekanntermaßen nahezu unmöglich. Zu sehr unterscheidet sich die reale Welt von den Bedingungen eines Experiments im Labor, auch wenn Vorher-Nachher-Vergleiche oft ein nützliches Mittel sind, sich daran anzunähern. Dennoch können auch bei dieser Methode viele Faktoren mit im Spiel sein, deren Wirkungskraft nicht auf den ersten Blick erkenntlich sein mag. So lässt sich beispielswiese nicht fest sagen, dass das Flüchtlingsthema dem CHP-Kandidaten bei den Istanbuler Bürgermeisterwahlen, Ekrem Imamoglu, zum Sieg verholfen hat. Es könnten genauso seine unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik sowie seine Vereinigung liberaler Gesellschaftspolitik mit seinem eigenen eher religiös-konservativen Hintergrund gewesen sein, welche die politische Mitte Istanbuls und damit die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler 2019 überzeugt haben. Umso mehr trifft diese Ungewissheit über Ursachen bei empirischen Korrelationen zu, welche allenfalls Informationen über statistische Effekte geben. Diese systematisch zu sezieren, kann jedoch helfen.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Religiosität sich statistisch positiv auf die Befürwortung einer „Willkommenskultur“ gegenüber Flüchtlingen auswirkt, wenn diese derselben Religion entstammen.[5] Beides ist bei den mehrheitlich religiösen und größtenteils sunnitischen Anhängern der AKP vis-à-vis den ebenfalls überwiegend sunnitischen Syrern der Fall. Die Betonung der Identifikation miteinander und der selbstverständlichen Hilfe für die „muslimischen Brüder und Schwestern“ durch Staatspräsident Erdogan tut zu einem solchen annehmbaren Effekt höchstwahrscheinlich das Ihrige, denn die Folgsamkeit gegenüber dem Parteivorsitzenden ist unter AKP-Wählern weiterhin groß. AKP-Bürgermeister wie Mehmet Abdi Bulut in der mittelgroßen Stadt Kilis an der türkisch-syrischen Grenze, wo inzwischen mehr Syrer als Türken wohnen, sprechen derweil gerne davon, dass eine soziale Integration der syrischen Flüchtlinge dank „religiös-kultureller Nähe“ nicht besonders schwerfalle.
Im Gegensatz dazu ist einer der sogenannten Sechs Pfeile der CHP (so etwas wie die Grundwerte der Partei) der explizite Nationalismus, der die türkische Nation einen soll, dabei aber wenig überraschend auch härtere soziale Grenzen gegenüber anderen schafft. Dieser allein kann die sozialen Einstellungen innerhalb der sich gleichzeitig als sozialdemokratisch definierenden Partei jedoch nicht erklären. Auch wenn auffällig ist, dass in diesem Milieu häufig eher von „Arabern“ als von Flüchtlingen gesprochen wird, hat diese Unzufriedenheit mit den Syrern schätzungsweise vor allem damit zu tun, dass mit ihrem Zuwachs eine Unterminierung der laizistischen Verfassung und freiheitlichen Grundordnung befürchtet wird. Gerade die säkular eingestellten CHP-Wähler sorgen sich um eine „Islamisierung“ der türkischen Gesellschaft durch traditionelle und konservative Syrer. Hinzu kommt, dass linke Umverteilungspolitik eben auch nicht zwangsweise „den Fremden“ mit einbezieht. Es ist also neben dem nationalistischen insbesondere das Mitte-Links-Lager, das sich gegen die Syrer im Land stellt.
Wirtschaftliche Probleme, kulturelle Vorbehalte
Nichtsdestotrotz lässt sich daraus nicht schlussfolgern, dass die vornehmlich sunnitisch-muslimische Gesellschaft der Türkei deswegen den syrischen Flüchtlingen nachhaltig positiv aufgeschlossen sei. Denn wie die Statistik zeigt, sind auch im konservativen AKP-Lager an die 60% mit der Anwesenheit der „muslimischen Geschwister“ aus dem Nachbarland unzufrieden. Das hat sowohl wirtschaftliche und soziale Gründe als auch „kulturelle“, was in Deutschland oft übersehen wird. Eine Studie der türkischen Denkfabriken ORSAM und TESEV sprach 2015 bereits davon, dass durch die Beherbergung der Flüchtlinge die Mietpreise stiegen, die Schwarzarbeit (meist zu Hungerlöhnen) zunehme und den Wettbewerb verzerre, die öffentliche Infrastruktur überfordert sei und in Grenzstädten die Inflation besonders ansteige.[6] Diese Herausforderungen sind 2020 mit mehr als doppelt so vielen syrischen Geflüchteten in der Türkei auch doppelt so groß und verringern die Akzeptanz quer durch die Gesellschaft.
Gleichzeitig zeigt die Studie, wie die Syrer bereits vor fünf Jahren begonnen haben, der türkischen Wirtschaft auch neue Chancen zu bieten. So sind viele Investitionen aus Syrien in die Türkei verlagert worden, bereits 2015 ist die Anzahl der in der Grenzstadt Gaziantep registrierten syrischen Unternehmen von 60 auf 209 gestiegen, der neue Wirtschaftssektor der humanitären Hilfe hat für Türken unzählige Arbeitsplätze geschaffen und sie in der internationalen Zusammenarbeit weitergebildet, und viele Syrer haben in der Türkei eigene Betriebe eröffnet – in denen sie auch Türken einstellen.[7] An Gerüchten, dass syrische Flüchtlinge sozialpolitisch bevorzugt würden oder durch sie die Kriminalität gestiegen sei, ist statistisch nichts dran – abgesehen von Fällen, in welchen Syrer selbst die Opfer waren.[8]
Dennoch verbreiten sich auch in der Türkei ähnliche Vorbehalte gegenüber den Fremden wie in Deutschland. So spricht Bürgermeister Bulut zum Beispiel davon, dass die Bürger sich vor jungen syrischen Männergruppen fürchteten und daher abends weniger auf die Straße trauen würden.[9] Im traditionellen und konservativen Istanbuler Stadtteil Fatih sowie anderswo in der Stadt am Bosporus, in der ein Großteil der Syrer lebt, erregten überdies Beschwerden über arabische Geschäftsschilder landesweit Aufsehen. Als Reaktion legte die AKP-Regierung für Werbung im öffentlichen Raum einen prozentualen Mindestteil in türkischer Sprache fest, um die aufgebrachten Wähler zu beruhigen. Viele Türken, einschließlich konservativer, prangern darüber hinaus die soziale Isolation syrischer Frauen zu Hause als ein Hindernis für die Integration in die türkische Gesellschaft an und sprechen von „kulturellen Unterschieden“ in vielerlei Hinsicht. Die verbreitete Vorstellung, dass Muslime und Muslime sich ihrer religiösen Gemeinsamkeit wegen leicht miteinander integrieren ließen, lässt sich empirisch somit nicht bestätigen – Vorbehalte gegenüber Fremden und Herausforderungen der Integration sind grenzübergreifend.
Diese Herausforderungen sind besonders groß, wenn die eigene Wirtschaft am Boden liegt. Dass das in der Türkei seit fast 2 Jahren so ist, hat viele Ursachen: eine Vertrauens- und Währungskrise, Inflation und Auslandsschulden sowie gesetzliche Rahmenbedingungen. Hinzu kommt ein Investitionsstopp aus dem Ausland angesichts der politischen Entwicklungen der letzten Zeit – man denke hier beispielsweise an Volkswagen. Auch der Wertverlust der Währung geht zu einem großen Teil auf die politischen Konflikte der Türkei mit den USA und europäischen Partnern zurück. Zwar lag das Wirtschaftswachstum im dritten Quartal 2019 mit 0,9% erstmals seit einem Jahr wieder im positiven Bereich, jedoch hat das einer Analyse des Handelsblatts zufolge mehr mit Schwankungen im Agrarsektor zu tun als mit nachhaltigen Verbesser-ungen.[10] Mit Blick auf die Flüchtlingskrise schafft dies für Deutschland ein besonderes Dilemma: es muss die Türkei (auch wirtschaftlich) unterstützen, ohne dabei politisch das Ruder aus der Hand zu geben.
Fazit: Die Türkei weiter unterstützen – vor allem bei der Integration
Die Auswirkungen der syrischen Flüchtlinge auf die türkische Wirtschaft lassen sich nicht schwarz-weiß definieren. Neben vielen vulnerablen Gruppen gehören zu den Syrern in der Türkei auch aktive Arbeitskräfte, Unternehmer und Unternehmensgründer. Der informelle Sektor („Schwarzarbeit“) macht darüber hinaus ohnehin ein Drittel des türkischen Arbeitsmarktes aus. Dennoch zeigen Arbeitsmarktstudien, dass durch die Aufnahme der meisten Flüchtlinge der Welt alles in allem die Arbeitslosigkeit in der Türkei gestiegen und die Beschäftigung zurückgegangen ist.[11] So hat die Inflation 2019 zwar wieder leicht abgenommen, nach wie vor liegt auch diese jedoch bei fast 16%. Dass bei einer so geschwächten Wirtschaft wie der türkischen die Ressentiments gegenüber der humanitären Herkulesaufgabe, wie sie die Türkei bewältigt, wachsen, ist kaum überraschend. Kulturelle Ängste und Sorgen um die öffentliche Sicherheit verstärken diese Ablehnung. Dass auch in der Türkei sich diese Besorgnisse an einem stereo-typisierten Bild des „Arabers“ und in manchen Kreisen gar des „Moslems“ aufhängen, wird in Europa dabei oft übersehen. Gleichzeitig findet auf informellem Wege und lokaler Ebene die Integration der Syrer bereits statt und ist auf lange Sicht das wahrscheinlichste Szenario – das sagen auch Kommunalpolitiker wie Mehmet Abdi Bulut in Kilis. Es ist nun an Deutschland, in Europa für seine Position eines Ausbaus der Flüchtlingshilfen an die Türkei und einen differenzierteren Blick auf das Land zu werben. Gleichzeitig ist es jetzt besonders wichtig, die türkische Regierung in ihrem solidarisch-caritativen Engagement zu bestärken und sie bei der Integration der Syrerinnen und Syrer in die türkische Wirtschaft und Gesellschaft aktiv zu unterstützen. Denn „Integration“ ist in der Türkei aus vielen Gründen zu einem Unwort geworden.
Walter Glos ist Leiter des Auslandsbüros Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Friedrich Püttmann ist honorarbeschäftigter wissenschaftlicher Mitarbeiter des KAS-Länderbüros Türkei, angehender Doktorand am Europäischen Institut der London School of Economics (LSE) und Mitbegründer des Ideenforums Turkey Europe Migration Policy Initiative (TEMPI).
Anmerkungen
[1] Murat Erdogan. 2019. Syrian Refugees in Turkey. Ankara: Konrad-Adenauer-Stiftung.
[2] Ebd.
[3] Mustafa Aydin et al. 2019. Public Perceptions of Turkish Foreign Policy. Istanbul: Kadir-Has-Üniversitesi.
[4] Mustafa Aydin et al. 2019. Public Perceptions of Turkish Foreign Policy. Istanbul: Kadir-Has-Üniversitesi.
[5] Pazit Ben-Nun Bloom et al. 2015. „Religious Social Identity, Religious Belief, and Anti-Immigration Sentiment.” American Political Science Review, 109(2): 203-221.
[6] Oytun Orhan & Sabiha Gündogar. 2015. Effects of the Syrian Refugees on Turkey. Istanbul: ORSAM/TESEV.
[7] Friedrich Püttmann. 2019. „Integration informell.“ AufRuhr – Das Magazin der Stiftung Mercator, 3. Dez.
[8] Oytun Orhan & Sabiha Gündogar. 2015. Effects of the Syrian Refugees on Turkey. Istanbul: ORSAM/TESEV.
[9] Thorsten Frei, MdB. 2019. Bericht zur Reise in die Türkei (Istanbul und Ankara) vom 29.9. – 2.10.2019. Berlin: DBT.
[10] Ozan Demircan. 2019. „Warum das Wachstum der türkischen Wirtschaft...“ Handelsblatt, 2. Dez.
[11] Oguz Esen & Ayla Binatli. 2017. „The Impact of Syrian Refugees on the Turkish Economy.“ SoSci, 6(129): 1-12.
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