Wir beginnen an der Leonhardskirche, wo der deutsche Philosoph, Humanist, Jurist und Hebraist Johannes Reuchlin beigesetzt wurde. Reuchlin kämpfte, angetrieben von seinem Wissen, welches er aus Übersetzungen der jüdischen Schriften schöpfte, im 16. Jahrhundert gegen den aufkommenden Antijudaismus an und trat dafür ein, jüdische Schriften nicht zu verbrennen, sondern sie zu bewahren. Im Chor der Kirche erinnert der über 500 Jahre alte Grabstein, unscheinbar in eine Säule eingelassen, an Leben und Werk Reuchlins, der seinen Kampf für ein freies jüdisches Leben nie aufgab. Andrea Welz merkte an: ,,Was man kennt, verteidigt man”, und erklärte, dass diese Maxime ihre Motivation zur Leitung der Stadtführung sei, denn auch heutiger Antisemitismus fuße nicht selten auf simpler Unwissenheit. Sie hoffe, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mithilfe der Veranstaltung eine bessere Kenntnis über das jüdische Leben in Stuttgart erlangen würden.
Zentrum des damaligen Stuttgarter Judentums war die mittlerweile in Brennerstraße umbenannte Judengasse, ein schmaler Abzweig der Hauptstätter Straße in direkter Nachbarschaft der Leonhardskirche, wo sich seit Ende des 14. Jahrhunderts eine jüdische Ansiedlung mit Synagoge und rituellem Bad befand. Eine kleine Hinweistafel unter dem heutigen Straßenbild ist die letzte Spur dieser langen Geschichte, die im Stadtbild übrigbleibt.
Angekommen am Charlottenplatz, mussten aber auch dunkle Kapitel jüdischen Lebens aufgeschlagen werden, die im Laufe der Zeit immer schrecklichere Ausmaße annahmen: Vom Beginn der jüdischen Diasporageschichte, deren Wurzeln sich in der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 durch die Römer finden, leitete Welz über zum Antisemitismus des 18. Jahrhunderts, dessen prominentestes Opfer der württembergische Bankier Joseph Süß Oppenheimer war: 1738 wurde der zum Hoffaktor ernannte Oppenheimer Opfer einer von Judenfeindlichkeit motivierten Justizmordes; sein Leichnam wurde über sechs Jahre öffentlich in einem Eisenkäfig zur Schau gestellt.
Dem furchtbaren Höhepunkt antisemitischer Verfolgung widmete sich Andrea Welz am Hotel Silber, dem Gebäude am Karlsplatz, das während der NS-Herrschaft als Zentrale der Gestapo genutzt wurde. Im Gebäudekeller wurden zahllose Häftlinge, darunter viele Juden, gefoltert und ermordet – bis heute sind nicht alle Opfer identifiziert. Während dieser Zeit wurde das Stuttgarter Judentum zerstört: Jüdische Kaufhäuser wurden enteignet, jüdisches geistiges Eigentum wurde vernichtet, die Synagoge in der Hospitalstraße wurde Opfer der Zerstörungen in der Reichspogromnacht 1938, unzählige Stuttgarter Juden wurden verfolgt, deportiert und in grausamem Ausmaß systematisch ermordet.
Vor dem Hintergrund der Lebensumstände im 19. Jahrhundert wird diese Entwicklung umso unbegreiflicher: Nachdem Juden ab 1864 staatsbürgerlich gleichberechtigt waren, war das Zusammenleben jüdischer und nicht-jüdischer Stuttgarter nämlich größtenteils von Harmonie und Gemeinsinn geprägt. Zahlreiche Kaufhäuser und Unternehmen waren in jüdischer Hand, jüdische Kultur prägte und formte die Stuttgarter Kulturlandschaft maßgeblich. Der Sozialreformer Eduard Pfeiffer, der sich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Stuttgart einsetzte, ist nur ein Beispiel für Menschen jüdischen Glaubens, der es zu seiner Lebensaufgabe machte, das Wohl der bürgerlichen Allgemeinheit zu verbessern.
Von der Vergangenheit in die Gegenwart: Die Führung setzte sich in der 1951 nach der Zerstörung 1938 neu aufgebauten Synagoge in der Hospitalstraße fort – bis auf eine Steintafel mit hebräischer Inschrift der Zehn Gebote blieb vom alten Gebäude nichts übrig.
Auf ein koscheres Abendessen im der Gemeinde angegliederten Restaurant TEAMIM folgte eine Führung durch die Synagoge in Begleitung des Gemeindemitgliedes David Holinstat, in der die Teilnehmenden tiefe Einblicke in das Judentum als Religion sowie in das Praktizieren jüdischen Glaubens in der heutigen Zeit gewinnen konnten. Vom Ablauf eines Gottesdienstes und der Ausstattung der Synagoge über den jüdischen Lebenszyklus und den jüdischen Kalender mit seinen zahlreichen Feiertagen bis hin zu verschiedenen religiösen Strömungen im Judentum wurden die wichtigsten Aspekte beleuchtet und sämtliche Fragen der Teilnehmenden beantwortet.
In der jüdischen Gemeinschaft gebe es einen zentralen Aspekt, der alles und alle zusammenhält, so Holinstat: Toleranz. Auch Andrea Welz ist der Meinung, dass ein tolerantes Miteinander der einzige Weg ist, um ein harmonisches und friedvolles Zusammenleben, nicht nur zwischen Juden und Nicht-Juden, sondern zwischen allen Menschen gewährleisten zu können. Sie ist sicher, dass Veranstaltungen wie diese die Gemeinschaftlichkeit stärken, denn „Was man kennt, das verteidigt man“.
Wir danken der Stadtführerin Andrea Welz und der Israelitischen Religionsgemeinschaft Stuttgart herzlich für die partnerschaftliche Zusammenarbeit.
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