Festabend der Berliner Rechtspolitischen Konferenz 2022
Traditionell wurde die Berliner Rechtspolitische Konferenz am Donnerstagabend vom Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung eröffnet. Prof. Dr. Norbert Lammert unterstrich die Dringlichkeit und Schwierigkeit der Thematik und stellte fest, dass die Konflikte allemal handfester seien als die eher rhetorisch als operativ stattfindenden Reformansätze. Die Beschreibung der EU als „Sonnenschein-Union“ wertete er als nicht offensichtlich falsch und bemängelte diesbezüglich, dass „wir über die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der institutionellen Verfassung der Europäischen Union seit vielen Jahren immer wieder reden, aber nicht wirklich vorankommen.“
Prof. Dr. h.c. Joseph H.H. Weiler Ph.D., Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls an der New York University School of Law und Preisträger des Joseph-Ratzinger-Preises 2022, schaute in seinem Festvortrag „The Church of European Integration Facing the Reformation“ mithilfe religiöser Metaphorik mit Witz und Weitblick auf das Wesen der Europäischen Union und die Zukunft der Europäischen Integration. Den EuGH beschrieb Weiler als “defining DNA of what Europe is“, attestierte ihm jedoch einen Glaubwürdigkeitsverlust in Sachen ultra-vires-Akten. Am Ende seiner Rede plädierte er für Veränderung im Sinne der Stabilität (“if you want things to remain the same as they are, you have to change“). Im Speziellen schlug er eine Änderung des grundsätzlichen Entscheidungsethos des EuGH vor (“the default should be, when in doubt, less integration“) sowie die Einrichtung einer gemischten Kammer am EuGH.
Der Konflikt um Werte: Die Rechtsstaatlichkeitskrisen als Belastungsprobe für die Europäische Union
Am Freitag begrüßte Frau Dr. Viola Neu, stellvertretende Leiterin der Hauptabteilung Analyse und Beratung, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum zweiten Tag der Konferenz in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie unterstrich in ihrer Einführung die Bedeutung der Europäischen Einheit in einer Zeit sich verschärfender Krisen, bevor sie das Wort an die Moderatorin des ersten Panels zu den Rechtsstaatlichkeitskrisen, Dr. Anna-Lena Hollo, übergab.
Den Auftakt machte Axel Bormann, Rechtsanwalt und Wissenschaftlicher Referent am Institut für Ostrecht, mit einem Einblick in die osteuropäischen Mitgliedstaaten Polen, Ungarn und Rumänien. Er kam hierbei zu dem Schluss, dass die Schwerpunkte der Bruch- und Konfliktlinien hinsichtlich des EU-Rechtsstaatskonzepts in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich, wenn auch letztlich innenpolitisch grundiert seien. Prof. Dr. habil. iur. Maciej Taborowski, Professor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften und ehemaliger stellvertretender Ombudsmann der Republik Polen für Bürger- und Menschenrechte, betonte mehrfach die überaus dramatische Lage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Polen. Er bewertete im Rahmen seines Impulsvortrags die Reaktionen der EU-Organe als sehr positiv und beschrieb sie als „Sand im Getriebe einer Macht, die die Begrenzung der Demokratie anstrebt“. Es bestünde zwar im Moment keine Chance auf Umsetzung der EuGH-Urteile, jedoch seien diese dennoch wichtig als Rechtsgrundlage für den „day after“, also die spätere Aufarbeitung der Geschehnisse in Polen. Die ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Richterin am Estnischen Staatsgerichtshof Prof. Dr. Julia Laffranque ging in ihrem abschließenden Kommentar auf einschlägige Beispiele aus der Straßburger Rechtsprechung ein und betonte die Wichtigkeit der Einbindung der Zivilgesellschaft bei der Lösungsfindung für die vorherrschenden Krisen.
Der Konflikt (oder Dialog) der Gerichte: Der EuGH als Hüter der Werte?
Das zweite, von Dr. Wolfgang Janisch moderierte Panel beschäftigte sich mit den Konflikten zwischen EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten. Die Richterin am Europäischen Gericht und frühere Professorin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften Prof. Dr. Krystyna Kowalik-Banczyk referierte über die Rolle des EuGH beim Schutz der europäischen Werte. Der Inhalt von Art. 2 EUV scheine mittlerweile vom EuGH von seinem bisherigen Status als rein stützende Programmatikvorschrift befreit und zu rechtlich verbindlichen Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten geworden zu sein. Sie hob zudem das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung hervor, welches vom EuGH anders ausgelegt würde als von einzelnen nationalen Gerichten. Daran anknüpfend ging Narin Nosrati, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Völkerrecht und Öffentliches Recht an der LMU München, auf die „Widerstände“ von mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten ein, wobei sie die politische Dimension des jüngsten polnischen Urteils als Sonderfall betonte. Nosrati wies insbesondere auf die Rechtssachen „Meloni“ und „Taricco“ als Beispiele für den erfolgreichen Gerichtsdialog hin, der sich in der Vergangenheit als einzig sinnvolles Mittel zur Konfliktbeilegung, Deeskalation und Stärkung der Rechtsordnung gezeigt habe. Prof. Dr. Christian Calliess, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der FU Berlin, unterstrich letztlich in seinem Kommentar nochmals das Dasein der EU als Werteverbund mit den Verfassungsprinzipien des Art. 2 EUV als Fundament sowie die Wichtigkeit des Gerichtsdialogs. Im Wege der wertenden Verfassungsvergleichung müsse der EuGH „behutsam“ im Sinne der gegenseitigen Loyalität und Rücksichtnahme Kerngehalte des Art. 2 EUV ableiten, was zwar ein langer, auch sicher schmerzhafter, aber per se dialogischer Prozess zwischen den Gerichten sei.
Der Konflikt als Chance: Von der Selbstreflexion zum Zukunftsmodell
Das letzte Panel wagte schließlich den Blick in die Zukunft. Gegenstand der von Dr. Roya Sangi M.A. (Rechtsanwältin bei Redeker, Sellner, Dahs Berlin) moderierten Podiumsdiskussion waren Reformbestrebungen auf gerichtlicher sowie gesamteuropäischer Ebene. Ioanna Dervisopoulos, Richterin am Hessischen Staatsgerichtshof und ehemals Referentin im Kabinett der Generalanwältin Juliane Kokott, ging auf bereits erfolgte sowie noch denkbare Reformen am „Motor der Integration“ ein, die zur Entlastung des Gerichtshofs beitragen sollen. Der Fokus ihrer Ausführungen für eine Reform de lege ferenda lag auf der in Art. 256 III AEUV angelegten Möglichkeit, Vorabentscheidungsersuchen an das Gericht abzugeben, was sie im Ergebnis jedoch skeptisch sah. Der Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Tübungen, Prof. Dr. Martin Nettesheim, beschäftigte sich mit Konfliktlösungsmechanismen zwischen EuGH und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, wobei er zunächst zwischen drei verschiedenen Konflikttypen unterschied (Auslegungskonflikte, Aufgabenkonflikte, Grundstruktur-/Wertekonflikte). Nettesheim sprach sich im Ergebnis gegen die Einrichtung weiterer Gremien für letztere beide Konflikte aus, vielmehr sollten diese auf politischer Ebene gelöst werden. Benjamin Hartmann, Referent bei der Denkfabrik der Präsidentin der Europäischen Kommission I.D.E.A., gewährte als Stimme der Brüsseler Praxis letztlich einen Einblick in die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas, die am 9. Mai 2022 ihren Abschluss fand. Die Konferenz habe zur Reflexion über unsere europäische Demokratie beigetragen und unterstrichen, dass die europäischen Institutionen einen engeren Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern führen sollten, so Hartmann. Bürgerforen wie bei dieser Konferenz würden fortan zu einem Bestandteil der europäischen Demokratie.
„Demokratie ist nicht aus der Mode gekommen, aber sie muss sich stets selbst erneuern, um das Leben der Menschen weiter zu verbessern.“ - David Sassoli
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