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Konflikt im Nordkaukasus- eine Bestandsaufnahme

Konrad-Adenauer-StiftungAußenstelle MoskauDr. Thomas Kunze, Henri Bohnet

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Der Konflikt im Nordkaukasus- eine Bestandsaufnahme

In der tschetschenischen Hauptstadt Grozny scheint ein Stück Normalität zurückgekehrt zu sein, zumindest zeigen das die Bilder des russischen Fernsehens. Zerstörte Gebäude werden wieder aufgebaut, das neu gewählte Parlament tagt, junge Leute sitzen in Straßenkaffees. Das ist nicht nur Propaganda. Besucher, die in den letzten Monaten in Tschetschenien waren, berichten von einer deutlichen Verbesserung der Situation zumindest in der tschetschenischen Hauptstadt.

Dennoch – nach den schockierenden Vorfällen im Musical-Theater an der Dubrowka im Herbst 2003, nach der Geiselnahme in Beslan 2004 und dem Blutbad in Naltschik 2005 kann auch im Jahr 2006 keine Rede von einer Befriedung des Nordkaukasus sein. Obwohl die Politik der „Tschetschenisierung“ des Konflikts bereits im dritten Jahr ist und die „Beendigung der Kriegshandlungen“ von der russischen Regierung vor geraumer Zeit verkündet wurde, bleiben viele Ursachen auch heute ungelöst, wobei die wesentlichen Gründe sozialökonomischer Natur sind. Ein enormes Problem besteht in der Gefahr der Ausweitung des Konflikts auf die Nachbarregionen.

Vertrauensverlust und ungenügende Aufklärung von Verbrechen

Die von der offiziellen russischen Seite genannten Fortschritte bei der Regelung des Konflikts – ein im Zusammenhang mit dem neuen Antiterrorgesetz besser abgestimmtes Reagieren der Sicherheitskräfte auf die konfliktspezifischen Herausforderungen – werden von offensichtlichen Defiziten bei der Administration der Gebiete und dem allgemeinen „Klima der Straflosigkeit“ unterwandert.

Die Behörden gestehen ein, zu wenig Geld zu haben für die über die Absicherung von Regierungsgebäuden und örtlicher Behören hinausgehende Sicherung insbesondere von Schulen. Dies war nach der Geiselnahme von Beslan gefordert worden. Und: Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Die Gefechte in Dagestan in der Nacht zum 16. Mai 2006, bei denen mehrere Personen ums Leben kamen, haben zudem Pläne von Untergrundkämpfern aufgedeckt, eine weitere Schule in ihre Gewalt bringen zu wollen. Die Kämpfe dort und der Bombenanschlag auf den amtierenden Innenminister der Republik Inguschetien in Nasran am 15. Mai 2006 unterstreichen die fortdauernde, äußerst prekäre Sicherheitslage auf dem gesamten Gebiet des Nordkaukasus.

Des Weiteren verbreiten Versuche, Verbrechen aufzuklären und die Übertäter zu bestrafen, wenig Hoffnung auf eine umfassende Aufklärung derartiger Gewaltverbrechen in der Region von Seiten der Behörden. Dies belegt der soeben abgeschlossene Gerichtsprozeß gegen den wahrscheinlich einzigen überlebenden Geiselnehmer der Schule von Beslan, bei dem Ungereimtheiten offenbar bestehen blieben. Immer wieder lassen sich Widersprüche in der öffentlichen Darstellung über den Hergang von Ereignissen feststellen. So suchen die Behörden nach Informationen der russischen Tageszeitung „Kommersant“ im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den inguschetischen Innenminister einen „Terroristen“, der bei der Geiselnahme von Beslan getötet worden sein soll.

Die Ausweitung des Konflikts: Ursachen und Folgen

Neben Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und Nord-Ossetien konstatieren auch die übrigen Verwaltungsgebiete im südlichen Föderalbezirk der Russischen Föderation zunehmende interethnische Spannungen und eine Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit. Die Verschärfung der interethnischen Gegensätze ist nach Expertenmeinung darauf zurück zu führen, dass die Flüchtlinge aus den Krisengebieten sich in den benachbarten Republiken niederlassen, wobei die russische Bevölkerung die Region verlässt.

Zuverlässige Zahlen über die Flüchtlingsziffer beziehen sich auf zuletzt auf 2002, als im gesamten südlichen Föderalbezirk 158.200 Flüchtlinge offiziell registriert waren. Das Flüchtlingsproblem wird als die „größte humanitäre Katastrophe im OSZE-Raum“ bezeichnet, das mittlerweile nicht nur den Nordkaukasus, sondern ganz Russland und seine kaukasischen Nachbarn betrifft.

In den acht nordkaukasischen Teilrepubliken der heutigen Russischen Föderation, die nur zwei Prozent des russischen Gesamtterritoriums ausmachen, leben sieben Millionen Menschen. Tschetschenien weist zudem die höchste Geburtenrate aller russischen Provinzen auf. Auf 1.000 Einwohner kommen durchschnittlich 24,9 Neugeborene pro Jahr. Landesweit liegt diese Zahl bei 10,2.

Diese Disproportionen der Bevölkerungsanteile einzelner ethnischer Gruppen vergrößern sich bei einer gleich bleibenden schlechten Wirtschaftslage: Der Haushalt Tschetscheniens, Dagestans und Inguschetiens wird zu mehr als 85% durch Zuschüsse aus Moskau finanziert, der Haushalt von Kabardino-Balkarien mit über 60%. Arbeitslosigkeitsraten zwischen 20% (Kabardino-Balkarien) und 70% (Tschetschenien) sind eine der Hauptursachen der überdurchschnittlichen finanziellen Abhängigkeit von Moskau, in einer Region wo die wirtschaftliche Transformation des Landes überproportional mehr Verlierer geschaffen hat und Klein- und Mittelunternehmen bisher nicht nachhaltig Fuß fassen konnten. Hier hat auch die Verdreifachung des Haushalts der Republiken des Nordkaukasus aufgrund der chaotischen Administration innerhalb der letzten fünf Jahre keine nennenswerten positiven Entwicklungen zeitigen können.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Ursachen der hohen Konfliktanfälligkeit im Nordkaukasus ist das Problem der Landverteilung, das seit der landesweiten Bodenreform Mitte der Neunziger Jahre besteht: Grund und Boden stellen für die Bewohner der Region eine der wichtigsten potentiellen Einnahmequellen dar. Während der Sowjetzeiten war insbesondere Kabardino-Balkarien für seine fruchtbaren Böden und Rekordernten berühmt. Heute sind die Umsetzung der Landreform und die damit verbundene Rückgabe des Staatsbesitzes und die Verteilung von Landtiteln häufig mit Korruption, Spekulation und Betrug seitens der örtlichen Behörden und einiger Privatunternehmer verbunden.

Arbeitslosigkeit und interethnische Spannungen haben die Polarisierung verschiedener Gesellschaftsschichten und deren Radikalisierung begünstigt; die Anwerbung neuer Untergrundkämpfer fällt nach Meinung von Fachleuten verhältnismäßig leicht: So sind nach Angaben des russischen Innenministeriums im Jahr 2004 1326 „Verbrechen terroristischen Charakters“ im südlichen Föderalbezirk begangen worden – dies entspricht 94% aller registrierten Straftaten dieser Art in der Russischen Föderation in diesem Zeitraum. Dabei verringerte sich gegenüber dem Vorjahr die Anzahl der Straftaten, die in Tschetschenien begangen wurden. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass es gegenwärtig zu einer tatsächlichen Ausweitung des Konflikts auf die Nachbargebiete Tschetscheniens kommt, trotz einer Quote von 1180 Mitarbeitern russischer Sicherheitsdienste auf 100.000 Einwohner im Nordkaukasus . Mit den fortdauernden Kriegshandlungen und den fast regelmäßigen Übergriffen russischer Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung ist der Tschetschenienkonflikt mittlerweile zu einem „Kristallisationspunkt islamischer Solidarität“ geworden, der die Teilnahme ausländischer „Dschihadisten“ begünstigt. Dabei wird deutlich, dass sich das ursprüngliche Ziel der tschetschenischen Aufständischen, die Unabhängigkeit ihrer Republik, zunehmend mit religiös-fundamentalistischen Zielen vermischt. Dieser Prozess wird von Seiten der russischen Regierung gefördert, die die „Separatisten“ mit den „Terroristen“ gleichsetzt.

Wachsende Probleme: gibt es Lösungsansätze?

Obwohl der Bericht des Sonderbeauftragten des Präsidenten für den Nordkaukasus, Kosak, vom Frühling 2005 darauf hindeutet, dass die Regierung mittlerweile die Dringlichkeit der sozialen und wirtschaftlichen Probleme anzuerkennen scheint, existiert offenbar kein klares Konzept zu deren Lösung. Eine adäquate Reaktion wird außerdem durch die Inkompetenz und Korruption innerhalb der regionalen Regierungen erschwert.

Darüber hinaus sind die Folgen des ungelösten Konflikts längst landesweit zu beobachten: seit seinem Beginn haben Angriffe auf „kaukasische“ Mitbürger in ganz Russland zugenommen. Fast tägliche Meldungen in der Presse über Opfer dieser Überfälle lassen den Eindruck aufkommen, dass momentan eine Welle der Xenophobie über das Land rollt. Kontrastierend hierzu ist eine zunehmende Politisierung des Islam in fast allen Föderationssubjekten der Russischen Föderation zu beobachten, in der örtliche Vereinigungen und regionale Parteien einen starken Zuwachs erfahren.

Derartige Entwicklungen lassen Zweifel daran aufkommen, dass der Konflikt im Nordkaukasus und seine zu Grunde liegenden Ursachen in naher Zukunft von der russischen Regierung und den örtlichen Behörden allein gelöst werden können.

Es liegt im Interesse Europas und Deutschlands, in dieser schwierigen Nachbarschaftsregion mit Russland weiterhin seine Hilfe bei der Lösung des Konflikts, dem Wiederaufbau der zerstörten Gebiete und der Versorgung der Flüchtlinge anzubieten.

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