75 Jahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland und damit auch 75 Jahre Grundgesetz ist gerade für Bonn, wo alles seinen Ausgang nahm, ein besonderes Jubiläum. Die Stadt Bonn feiert es unter Mitwirkung der Politik und vieler zivilgesellschaftlicher Akteure am 25. Mai, für das Büro Bonn der KAS NRW war die alljährliche Bonner Rede - das Format zur Reflexion über verfassungsrechtliche Fragen – die Gelegenheit, nicht über einzelne Artikel zu diskutieren, sondern „das Ganze“ in den Blick zu nehmen. So führte Dr. Ulrike Hospes, Leiterin der KAS NRW und des Büros Bonn, in den gut besuchten Abend im traditionsreichen Juridicum der Universität Bonn ein. Dass es aber nicht in erster Linie ums Feiern ging, machte sie von Anfang an deutlich, und den aufmerksamen Beobachter musste es nachdenklich stimmen, wie zart das gegenseitige Schulterklopfen und wie heftig das besorgte Nachdenken über die Festigkeit unserer Demokratie an dem Abend geriet.
Es war schon bemerkenswert, dass Udo Di Fabio als Festredner nur ein Drittel seiner Einlassungen den Verdiensten und Errungenschaften des Grundgesetzes widmete. Er rekapitulierte die drei Innovationen unserer Verfassung gegenüber der Weimarer Reichsverfassung: 1. die Abschaffung der starken Stellung des Reichspräsidenten, 2. die Ermöglichung der Einbettung des Grundgesetzbereiches in supranationale Organisationen wie UN und später EU und 3. die starke Stellung der Grundrechte und damit der Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat.
Dann aber kam er schnell zu den Sorgen und Bedenken, die Staatsrechtler und Politiker, Wissenschaft und Öffentlichkeit beschlichen haben: Es gebe nach Di Fabio eine deutlich veränderte Stimmungslage in der Gesellschaft, die 1. fragmentierter und in Milieus gespaltener sei, 2. moralisierender, unerbittlicher und weniger pragmatisch urteile, dementsprechend 3. mehr denn je erregungsbestimmt sei und 4. deswegen sich von den pragmatischen und komplexen Abläufen konkreter Politik immer stärker abwende. Die Welt der Politik, vielfach verstrickt in Notwendigkeiten und Abhängigkeiten, beginnt sich von der Welt der moralbewegten „Zuschauer“ zu entfremden, ein Repräsentationsdefizit wird empfunden, direkte Partizipation gefordert, die das Grundgesetz auf Bundesebene nicht vorsieht.
Das Bundesverfassungsgericht gerate dadurch in die Rolle einer Instanz, die wie ein Monarch über den „Niederungen der Politik“ stehe, es wird mit sehr deutschen, politromantischen Sehnsüchten befrachtet, sich über das „Parteiengezänk“ hinwegzuheben oder eine „Vollkaskoversicherungspolice“ auszustellen, was aber seiner Rolle als kontrollierende, nicht gestaltende Kraft nicht entspricht. Mal von Überhöhungen abgesehen, ist aber die Wertschätzung des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung enorm, wird sogar immer höher, je mehr der Eindruck entsteht, es „funktioniere ja nichts mehr richtig“. Die Reputation der Deutschen Bahn wird erst in Jahrzehnten wieder zurückzugewinnen sein, die des Bundesverfassungsgerichts wird spiegelbildlich immer höher.
In Zeiten, wo alles in Fluss zu kommen scheint, steigt auch die Sorge um die Verlässlichkeit dieses Ankers. Wir kann das Bundesverfassungsgericht vor dem möglichen Zuwachs populistischer oder gar extremistischer Parteien geschützt werden? Darüber wird in den politischen Führungszirkeln schon gegrübelt, und mancher ist auf die Idee verfallen, die bisher einfachgesetzlich festgelegte Zweidrittelmehrheit zum Verfassungsrang zu erheben. In der einzigen konkret verfassungsrechtlichen Einlassung wies Di Fabio diesen Vorschlag ab, denn so würde ein Zustand zementiert, in dem Extremisten mit einer Drittelminorität alle Entscheidungen zur Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts lahmlegen könnten.
An dieser Stelle offenbarte sich das Credo des liberalen Rechtsphilosophen, der Di Fabio inzwischen geworden ist: Nicht staatliche und nicht rechtliche Maßnahmen können die Demokratie vor der Erosion und der Unterspülung durch Extremisten bewahren, sondern nur die politische Auseinandersetzung, der Einsatz jedes Einzelnen für die freiheitsgewährende Grundordnung. Denn auch bei der Demokratiefrage sei es zu einer Zuschauermentalität gekommen. Die Bürde der Bewahrung der Demokratie wird staatlichen Organen aufgelastet, jeder Einzelne neige dazu, sich der Verantwortung zu entziehen.
In der anschließenden, vom WDR-Journalisten Dr. Christian Hermanns souverän geleiteten Podiumsdiskussion traten die ARD-Journalistin Gigi Deppe, Berichterstatterin aus Karlsruhe, und die Politikwissenschaftlerin Dr. Julia Reuschenbach von der FU Berlin dazu und erweiterten den Reflexionsrahmen noch einmal. Gigi Deppe berichtete in verschiedenen Facetten vom Alltag der Arbeit des Bundesverfassungsgerichtes und von den Veränderungen, die sie in ihrer langjährigen Tätigkeit beobachten konnte. Bemerkenswert für sie ist, dass sich doch vieles inzwischen von Karlsruhe nach Luxemburg, zum Europäischen Gerichtshof verlagert habe.
Julia Reuschenbach setzte aus ihrer Sicht bei den Überlegungen Di Fabios zur allmählichen Delegitimierung der Demokratie an. Sie sieht nicht nur in den Extremen der Gesellschaft ganz rechts und ganz links ein Problem, sondern auch in der Mitte: Es herrsche ein schwindendes Vertrauen in das Funktionieren von Institutionen, der Einzelne habe ein Gefühl von Unwirksamkeit und von der „Abgehobenheit“ der politischen Sphäre, und viele meinen obendrein, sie könnten sich nicht mehr so frei äußern wie zuvor. Di Fabio stellte klar, was damit nur gemeint sein kann: natürlich nicht die staatliche Bestrafung geäußerter Meinung wie in Diktaturen. Aber die von ihm im Impuls schon beschriebene Moralisierung und Emotionalisierung der Öffentlichkeit sorgt dafür, dass abweichenden Meinungen mit Aggressivität begegnet wird, dass der Einzelne Gefahr läuft, persönlich dafür „fertig gemacht“ zu werden.
Warum aber wird der politische Diskurs so leidenschaftlich und unnachgiebig? Di Fabio hat dazu eine weitgespannte These, die zeigt, dass sein Denken weit über das Juristische hinausgeht: Er gab die Säkularisierungsthese des kanadischen Philosophen Charles Taylor wieder, der in den modernen Gesellschaften eine Migration des Sakralen von der kirchlich-religiösen in die politische Sphäre erkennen will. Die Politik lädt sich moralisch und in der Schicksalsbedeutung auf, aus politisch-pragmatischen Fragen werden „Menschheitsfragen“ (wie z.B. die Klimarettung), Missionare gebe es nicht mehr in den Kirchen, dafür aber in der Politik, es gehe unduldsamer, teilweise sogar inquisitorisch zu. Man habe den Eindruck, die „letzten Fragen“, früher die von Schuld und Erlösung, wären jetzt Aufgaben der Politik.
In einem solchen Klima bläht sich dann auch ein Begriff wie „Leitkultur“ nach Di Fabios Meinung unnötig auf. „Leitkultur“, das sei doch Grundgesetz und Schwarz-Rot-Gold, mehr nicht! Dies verband er mit einem Bedauern, dass der wohl verstandene, an der Verfassung sich festmachende Patriotismus einer Ichbezogenheit gewichen sei, die die Politik nur daran ermesse, wie weit es ihr gelänge, die eigenen Bedürfnisse und Ansichten zu bedienen.
Es war längst über die Zeit, als der Moderator den Fragen des Publikums und den in ihrer Frischheit nicht nachlassenden Einlassungen der Podiumsmitwirkenden Einhalt gebieten musste. Insbesondere die Umstände nach schulischer und politischer Bildung bewegte die Gäste, ist doch das Wissen über historische Zusammenhänge, politische Verantwortlichkeiten und Institutionen essentiell für das Verständnis unserer Demokratie. Der freiheitliche Staat lebt nun einmal von der Urteils- und Tatkraft seiner Bürgerinnen und Bürger.
Eine konzentriert nachdenkliche Betrachtung zu den Fundamenten unserer Demokratie!
Am Mittwoch, 15. Mai erscheint in unserem Podcast #Erststimme die neue Folge, in der Dr. Julia Reuschenbach mit Prof. Di Fabio über das Grundgesetz spricht. Hören Sie gern rein!
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