Správy a analýzy
Die politischen Umwälzungen in den letzten drei Wochen, die in dieser Form keiner vorhergesagt oder auch nur vermutet hatte, haben den eigentlichen Fall fast in den Hintergrund treten lassen: Die Frage, wer den brutalen Mord an einem jungen investigativen Journalisten und seiner Lebensgefährtin in einem kleinen Ort 45 Kilometer nordöstlich von der Hauptstadt Bratislava in Auftrag gegeben hat. Schnell war klar, dass dieser wahrscheinlich im Zusammenhang mit seinen Recherchen im Milieu eines mutmaßlichen mafiösen Netzwerkes der kalabresischen ‘Ndrangheta in der Ostslowakei stehe. Der bekannte italienische Journalist und Antimafia-Experte Roberto Saviano schrieb dazu in einem bemerkenswerten Beitrag, dass sich die ‘Ndrangheta in der Slowakei nicht mehr als Gast sehe, sondern das Land längst als ihr „Territorium“ betrachte. Es ging in den Recherchen des ermordeten Ján Kuciak aber auch um den Einfluss dieses Mafia-Netzwerkes in die slowakische Politik, insbesondere in die regierende Partei Smer-SD und das unmittelbare Umfeld des Parteichefs und bis dato noch amtierenden Ministerpräsidenten Robert Fico. Und genau das ist der Hintergrund für die Massenproteste in vielen Städten der Slowakei, die auf die politische Führung des Landes abzielen.
Regierung in der Krise
Aus dem Fall des noch aufzuklärenden Doppelmordes wurde der politische Fall Slowakei. Er führte zum Rücktritt des umstrittenen Innenministers Robert Kaliňák und des Ministerpräsidenten Robert Fico. Doch das Klima im Lande hat sich derart angespannt, dass auch die Rücktritte und die Umbildung der Regierung unter dem designierten Ministerpräsidenten Peter Pellegrini (auch Smer-SD) wohl nicht zum Ende der Proteste führen. Es herrscht die Meinung, dass es sich nur um einen politischen Schachzug von Fico handelt, der als Parteichef der mächtigen Smer-SD im Hintergrund weiter die Fäden zieht. Auch der kommunikative Stil seines Abgangs („Ich verabschiede mich keinesfalls. Wir werden uns schon bald wiedersehen“) hat viele erst recht wütend gemacht. Staatspräsident Andrej Kiska hat die Ministerliste für das neue Kabinett am Dienstag auch prompt abgelehnt, und dem designierten Regierungschef Pellegrini eine Frist bis Freitag gesetzt, um einen neuen Vorschlag einzureichen. Die zukünftige Regierung müsse das Vertrauen der Bürger in den Staat wieder herstellen und glaubhaft vermitteln, dass sie alles tun werde, um eine „unabhängige, unverzerrte Untersuchung“ des Mordes an Ján Kuciak und seiner Verlobten zu ermöglichen, so Kiska. Zu hören war, dass es vor allem um die Neubesetzung des Innenministeriums ging.
Vom „Problemkind“ zum „Musterschüler“
Was ist los in diesem kleinen Land, das vielen unbekannt war und oft mit dem noch kleineren Slowenien verwechselt wurde? Wo liegen die Hintergründe dieser Entwicklung? Nach der Samtenen Revolution 1989 und der Unabhängigkeit im Jahre 1993 durchlief die Slowakei einige schwierige Jahre unter dem autoritär und nationalistisch regierenden Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar, und das Land geriert in die europäische und internationale Isolierung. Doch ab dem Jahre 1998 ging es mit der Wahl von Mikuláš Dzurinda steil aufwärts. In zwei entscheidenden Legislaturperioden führte der liberal-konservative Politiker das Land nicht nur zurück auf den demokratischen Weg und vollzog 2004 den Beitritt der Slowakei in die EU und Nato, sondern brachte es auch zu wirtschaftlicher Prosperität und bestimmte die Mitgliedschaft in der Eurozone durch eine wirtschaftliche Stabilitätspolitik entscheidend vor. Die Slowakei wurde vom „Problemkind“ zum „Musterschüler“: Flat Tax, Deregulierung und ein enormer Industrialisierungsschub machten das Land zum sogenannten „Tatra-Tiger“. Auch die 2006 zur stärksten Partei gewählte sozialpopulistische Smer-SD, die eine soziale Korrektur des wirtschaftsliberalen Ansatzes propagierte, unternahm keine fundamentale Neuausrichtung. Mit Ausnahme von zwei Jahren dominierte sie bis jetzt unter dem starken Mann Robert Fico die politische Szenerie in der Slowakei.
„Klima der Straflosigkeit“ – Misstrauen gegenüber Polizei und Justiz
Doch Kenner und Beobachter des Landes wussten bereits, dass hinter dieser schönen Fassade ein massives und permanentes Problem steht: Klientelismus und Korruption auf allen Ebenen – auf der nationalen Ebene sowie in den Regionen und Kommunen. Eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstütze Studie des Instituts für wirtschaftliche und soziale Reformen (INEKO) aus dem Jahre 2017 konstatierte, dass neben dem politischen Populismus und Extremismus die Korruption die hauptsächliche Herausforderung für die demokratische Entwicklung in der Slowakei darstelle. Gerade in den letzten Jahren wurden von den Medien und NGO’s zahlreiche Korruptionsfälle aufgedeckt, bei denen es vor allem auch um Bestechung und Amtsmissbrauch ging. Die Korruptionsgesetzgebung in der Slowakei ist zwar in keinem schlechten Zustand, doch bei der Implementierung der Gesetze besteht ein eklatantes Defizit. Viele haben den Eindruck einer selektiven Justiz und Strafverfolgung, in der die „kleinen Fälle“ geahndet werden, aber die großen Skandale ungelöst bleiben. Das monierte auch die ad-hoc-Delegation von EU-Abgeordneten in ihrem Bericht nach ihrem Aufenthalt Anfang des Monats in der Slowakei. In diesem „Klima der Straflosigkeit“, wie es der ehemalige Premierminister Mikuláš Dzurinda in einem Essay für das Magazin „Politico“ beschrieb, und dem Wissen um die korrupten Seilschaften zwischen Politik und Geschäftswelt, litt das Vertrauen vieler Menschen in die Institutionen, vor allem gegenüber der Polizei und Justiz. Den Daten des Eurobarometer zufolge (Herbst 2017) vertrauen 52 Prozent der Slowaken nicht der Polizei und sogar 67 Prozent nicht der Justiz. Das sind deutlich schlechtere Werte im Vergleich zu den Nachbarn Polen, Tschechien und Ungarn.
Wie geht es weiter?
Die Neuaufstellung des Kabinetts hat viele Kommentatoren und auch viele Menschen nicht überzeugt. Es handelte es sich vor allem um Politiker aus den Reihen der angeschlagenen Regierungspartei Smer-SD. Auch der Rückzug der vom kleineren Koalitionspartner und EVP-Mitglied Most-Híd gestellten Justizministerin Lucia Žitňanská wurde in den Medien kritisiert. Sie galt in den Augen vieler als glaubwürdig und integer.
Es ist schwer vorherzusagen, wie die nächsten Tage verlaufen werden. Staatspräsident Kiska hat nun angekündigt, mit den neuen Ministern Gespräche zu führen. Falls er die neue Zusammensetzung akzeptiert und die Regierung ernennt, wird sie voraussichtlich auch das Vertrauen im Parlament erhalten, da es dort mit einer parlamentarischen Mehrheit ausgestattet ist (79 von 150 Sitzen). Neben der Smer-SD gehören der Regierungskoalition die rechtsnationale SNS sowie die konservativ-liberale Partei Most-Híd an, die sich insbesondere für die ungarische Minderheit im Land einsetzt. Letztere hatte sich anfangs auch für Neuwahlen stark gemacht, doch Parteichef Béla Bugár verhandelte mit Robert Fico und SNS-Chef Andrej Danko die Fortsetzung der Koalition aus und erläuterte, dass dies besser sei und zur Beruhigung der Situation beitragen werden. Diese Entscheidung ist aber innerhalb Most-Híd umstritten, und führte nicht nur zum Rückzug der angesehenen Justizministerin, sondern auch des renommierten Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, František Šebej, der gar sein Abgeordnetenmandat niederlegte.
Fragmentierte Opposition und die Rolle des Staatspräsidenten
Es wäre nun die Stunde der Oppositionsparteien, doch im laufenden Jahrzehnt hat sich ein sehr unübersichtliches und volatiles Parteiengefüge in der Slowakei entwickelt: die Opposition im Parlament ist fragmentiert, insbesondere das politische Mitte-Rechts-Lager ist stark zersplittert. Deswegen warnen Kommentatoren und auch Experten vor möglichen Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt, da derzeit noch keine überzeugende politische Kraft glaubwürdig Paroli bieten könnte. Und im Ergebnis würden nach Neuwahlen die bereits im Parlament vertretenen Rechtsextremisten der „Volkspartei Unsere Slowakei“ (ĽSNS) von Marian Kotleba wohl noch stärker werden. Die Augen richten sich daher neben der Protestbewegung, die im Kern die Aufklärung des Mordes und vorgezogene Wahlen fordert, auf den Staatspräsidenten Andrej Kiska. Zwar ausgestattet mit einem repräsentativen Amt, galt der unabhängige politische Newcomer von Beginn an als Gegenspieler von Robert Fico. Durch seinen proeuropäischen und auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgerichteten Kurs hat er innerhalb kurzer Zeit ein hohes Ansehen im Land erlangt. Viele hoffen, dass er sich entgegen anders lautender Gerüchte doch dazu bereit erklärt, im nächsten Jahr wieder für eine zweite Amtsperiode zu kandidieren.
Entscheidend für die weitere politische Entwicklung der Slowakei wird sein, ob der Mordfall lückenlos aufgeklärt und insgesamt der Kampf gegen die Korruption beherzt angegangen wird. Darüber hinaus wird es darauf ankommen, ob es einer politischen Kraft im Land gelingt, die Anliegen und Sorgen der Protestbewegung aufzunehmen und wieder neues Vertrauen in die Institutionen und den Rechtsstaat herzustellen. Staatspräsident Kiska alleine kann das nicht, auch die bisher stark fragmentierte Opposition ist dazu nicht in der Lage.
Verlangen nach Gerechtigkeit und politischer Erneuerung
Dennoch liegt auch in dieser politischen Krise eine Chance. Die Slowakei hat eine stark ausgeprägte Zivilgesellschaft und eine lebendige, unabhängige Medienlandschaft. In vielen Dingen hat das Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine gute Entwicklung hinter sich. Gerade weil dieser abscheuliche Mord und die Verstrickungen in die politische Klasse nicht irgendwo an der Peripherie Europas passierten, sondern in einem Land im Herzen Europas, hat es die Menschen derart schockiert. Das Verlangen nach Gerechtigkeit und politischer Erneuerung ist groß. An diesem Sonntag, dem 25. März, jährt sich der 30. Jahrestag der Kerzenmanifestation in Bratislava, der ersten großen antikommunistischen Demonstration in der damaligen Tschechoslowakei. Es war ein Eintreten für Religionsfreiheit und Bürgerrechte. Anlässlich dieses Jubiläums wird es zahlreiche Veranstaltungen in der Hauptstadt geben. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse und Proteste bekommen sie ein ganz neues Gewicht. Viele von denen, die damals Ende der achtziger Jahre auf die Straße gingen, sind auch heute dabei.