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Dennis Jarvis / flickr / CC BY-SA 2.0

Správy a analýzy

Sieg im Schlussspurt

autori Dr. Radoslav Štefančík

Die Slowakei hat ein neues Parlament gewählt

Den Umfragen nach hatte sich ein Regierungswechsel in der Slowakei abgezeichnet. Trotz der eindeutigen Prognose waren die Wahlergebnisse dennoch sehr überraschend. Im Mittelpunkt der Protestwahl steht die Bewegung OLaNO (Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten) des 46-jährigen Unternehmers und Politikers Igor Matovic. Mit 25,02 Prozent der Stimmen und 53 Sitzen wird sie die mit Abstand stärkste Kraft im 150 Parlamentssitze umfassenden Nationalrat der Slowakischen Republik sein. Worin liegen die Gründe für diesen fulminanten Wahlsieg? Und was ist mit Blick auf die Regierungsbildung zu erwarten?

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Die erste Überraschung ist der eindeutige Sieg der Partei OĽaNO mit Igor Matovič an der Spitze (vgl. Graphik 1: Ergebnisse der Parlamentswahlen in der Slowakei 2020). Diese sehr lockere Gruppierung ohne Regionalstrukturen befand sich in den Wahlumfragen im November 2019 noch um die 5-6 Prozent der Stimmen. Niemand hat vorhergesagt, dass gerade diese Partei mit einem derart fulminanten Schlussspurt mit klarem Vorsprung vorne liegen wird. Der Grund dafür könnte der populistische Politikstil von Igor Matovič sein. Durch spektakuläre Auftritte (wie zum Beispiel der Ausflug zur Villa des ehemaligen sozialdemokratischen Finanzministers Ján Počiatek in einem Reichenviertel in der französischen Küstenstadt Cannes oder der Abstecher nach Zypern, wo offenbar Briefkastenfirmen von slowakischen Oligarchen ihren Sitz haben) konnte er die mediale Aufmerksamkeit an sich ziehen. Das Video aus Cannes war sehr populär und verbreitete sich schnell in den sozialen Medien. Mit Blick auf die Intensität der politischen Kommunikation hat Matovič sein Hauptanliegen, die Bekämpfung von Korruption, gegenüber den anderen Oppositionsparteien am professionellsten artikuliert. Darüber hinaus hat er sich im Wahlkampf mehrmals dafür ausgesprochen, dass er nicht die Absicht habe, populistische Maßnahmen der amtierenden Regierung (z.B. kostenloses Schulessen oder kostenlose Bahnfahrten für Schüler und Studierende) zu ändern oder sogar zu annullieren. Er sprach sich gegen die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) aus. US-Truppen möchte er auf slowakischen Territorium nicht akzeptieren. Weiterhin hat er angekündigt, politische Maßnahmen mit Hilfe von Instrumenten der direkten Demokratie durchzusetzen.

Die zweite Überraschung der Parlamentswahl 2020 ist die Niederlage der Wahlkoalition von zwei europafreundlichen Parteien, der Progresívne Slovensko (PS, Progressive Slowakei) und Spolu (Gemeinsam). Dieses Bündnis war sowohl bei der Präsidentschaftswahl 2019 (Staatspräsidentin Zuzana Čaputová war die Vize-Vorsitzende der PS) als auch bei der Europawahl 2019 erfolgreich. Trotz dieser Erfolge scheiterten sie bei der Parlamentswahl 2020 an der Sieben-Prozent-Hürde äußerst knapp. Sie erreichten 6,96 Prozent. Das slowakische Wahlgesetz legt fest, dass bei einer Wahlkoalition von zwei oder drei Parteien, mindestens sieben Prozent der Stimmen für den Einzug in das Parlament notwendig sind. Die Ursache der Niederlage von PS/Spolu lässt sich in mehreren Fehlern während des Wahlkampfes finden, aber auch in den schwachen Kommunikationsfähigkeiten des PS-Parteichefs Michal Truban.

Eine weitere und auch positive Überraschung ist, dass die Rechtsextremisten der ĽSNS (Volkspartei Unsere Slowakei) entgegen den ursprünglichen Prognosen keine neuen Wähler hinzugewonnen haben. Mit 7,97 Prozent schnitten sie ähnlich wie bei der Wahl 2016 ab. In der gesamten vergangenen Wahlperiode wurde intensiv diskutiert, wie der Rechtsextremismus, der in den Umfragen eine wachsende Tendenz zeigte, bekämpft werden könnte. Deswegen ist die Stagnation der rechtsextremistischen Partei eine gute Nachricht für die slowakische Demokratie.

Überraschend war letztendlich auch, dass die Partei Za ľudí (Für die Menschen) des ehemaligen slowakischen Staatsoberhauptes Andrej Kiska schwächer abschnitt als vorhergesagt. Kiska stilisierte sich anfangs mit seiner Parteigründung bereits in der Rolle des künftigen Premierministers. Nun steht er mit 5,77 Prozent der kleinsten Parlamentspartei vor und hat keine Chance mehr, der Chef der Exekutive zu werden. Der Wahlkampf von Za ľudí war im Vergleich zu anderen Parteien nicht so intensiv, selbst Kiska war in den ersten Wochen des Wahlkampes nicht oft zu sehen.

Nicht überraschend war die Abwahl der Regierungsparteien, vor allem die Wahlniederlage der sozialdemokratischen Partei Smer-SD unter Parteichef Robert Fico. Bereits in den letzten Wahlen (Kommunal-, Regional- sowie Präsidentschaftswahlen) erlitten sie starke Verluste. Nachdem sie noch im Jahre 2012 mit 44,4 Prozent bei den Nationalratswahlen alleine regieren konnte, kamen sie 2016 bereits nur auf 28,3 Prozent und stürzten jetzt auf 18,29 Prozent ab. Sie werden sicherlich auf der Oppositionsbank Platz nehmen. Wahlniederlagen erlitten auch die beiden Koalitionspartner Smer-SD, die SNS (Slowakische Nationalpartei) und die der ungarischen Minderheit zuzurechnende Most-Híd (Brücke). Beide scheiterten an der 5-Prozent-Hürde und werden nicht mehr im Parlament vertreten sein.

 

Graphik 1: Ergebnisse der Parlamentswahlen in der Slowakei 2020

Ergebnisse der Parlamentswahlen in der Slowakei 2020 Statistisches Amt der Slowakischen Republik, 2020
Bemerkung: Graue Farbe bedeutet, dass die Parteien die Fünf- oder Sieben-Prozent-Hürde nicht bewältigt haben.


Die Bildung der neuen Regierung – zwei Optionen

Laut der slowakischen Verfassung beauftragt das Staatsoberhaupt nach der Wahl eine Person (traditionell den Chef bzw. die Chefin der stärksten Partei) mit der Bildung der Regierung. Diese Person hat dann genügend Zeit, mit Vertretern von anderen Parteien Koalitionsverhandlungen zu führen. In den kommenden Tagen ist deshalb zu erwarten, dass OĽaNO-Chef Igor Matovič von Staatspräsidentin Zuzana Čaputová mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Um stabil zu regieren benötigt die neue Regierung mindestens die absolute Parlamentsmehrheit, also 76 Parlamentssitze (vgl. Tabelle 1: Mandate im Nationalrat nach der Wahl 2020).

OĽaNO 53
Smer-SD 38
Sme rodina 17
ĽSNS 17
SaS 13
Za ľudí 12

 

Quelle: Statistisches Amt der Slowakischen Republik, 2020

Igor Matovič, falls er von der Staatspräsidentin beauftragt wird, die neue Regierung zu bilden, müsste sich in erster Linie zwischen zwei Optionen entscheiden. Die erste Option wäre die liberal-konservative Regierung OĽaNO+Sme rodina+SaS+Za ľudí. Diese Koalition würde im Parlament nicht nur über eine absolute, sondern sogar über eine Verfassungsmehrheit, also über 95 Mandate (die Verfassungsmehrheit beträgt 90 Sitze von 150) verfügen. Die andere Option wäre OĽaNO+Sme rodina+SaS, also eine Koalition von drei Parteien ohne die Fraktion des ehemaligen Staatspräsidenten Andrej Kiska. Diese Koalition würde über 83 Parlamentssitze verfügen. Zwischen Matovič und Kiska gab es in der Vergangenheit persönliche Auseinandersetzungen, weswegen die zweite Variante nicht ganz ausgeschlossen werden kann.

Matovič hat sich bereits dafür ausgesprochen, dass es in seinem Interesse liegt, eine Regierung mit einer Verfassungsmehrheit im Parlament zu bilden. Diese Variante wäre aus zwei entscheidenden Gründen für seine Regierung effizienter. Der erste Grund ist, dass die Fraktion von OĽaNO nicht stabil sein könnte. OĽaNO ist eine lose Gruppierung von mehreren unabhängigen Persönlichkeiten, wie es bereits der Parteiname vermittelt. Mehrere neugewählte OĽaNO-Abgeordnete sind nicht Mitglieder der Partei. Es ist nicht auszuschließen, dass bei aufkommenden Streitigkeiten Mitglieder die Parlamentsfraktion verlassen und damit die Regierungsmehrheit verloren geht. Dies war in der Wahlperiode 2016-2020 bereits oft der Fall und es ist zu erwarten, dass sich diese Situation wiederholen wird. Je mehr Abgeordnete die neue Koalition im Parlament haben wird, desto länger kann sie sich auf eine stabile parlamentarische Mehrheit verlassen. Der zweite Grund, warum die erste Option für Matovič besser wäre, ist gerade die Verfassungsmehrheit. Mit Hilfe der Verfassungsmehrheit könnte die neue Koalition wirkungsvolle Maßnahmen beschließen, insbesondere bei der Korruptionsbekämpfung, sowie strukturelle Reformen schneller verabschieden.
 

Das christliche Element in der slowakischen Parteienlandschaft

Zu den Verlierern der slowakischen Parlamentswahl gehört auch die Christlich-demokratische Bewegung (KDH) mit Alojz Hlina an der Spitze. Die Christdemokraten erzielten ein ähnliches Wahlergebnis (4,65 Prozent) wie vor vier Jahren. Auch diesmal reichte es für den Einzug ins Parlament nicht. Das große Problem der KDH ist die Tatsache, dass mehrere Parteien um christlich-konservative Wähler kämpften. Die Konkurrenz war diesmal noch größer als bisher. Christliche Kandidaten, die in den christlichen Gemeinschaften bekannt sind, waren auf den Kandidatenlisten mehrerer politischer Parteien, einschließlich OĽaNO, zu finden. Darüber hinaus beziehen sich selbst extrem rechtsgerichtete Kräfte in der slowakischen politischen Landschaft, etwa wie die kleine Partei um den ehemaligen Chef des Obersten Gerichtes, Štefan Harabin, in ihrer Kommunikation auf Gott und biblische Figuren.

Keine der aktuell nun sechs Parlamentsparteien kann jedoch als christlich-demokratisch bezeichnet werden. Trotzdem werden in der neuen Regierung wahrscheinlich konservative Einstellungen überwiegen. Als konservativ bezeichnet sich sowohl die Siegerpartei OĽaNO, sowie Sme rodina (Wir sind Familie) und Za ľudí. Die vierte Partei SaS (Freiheit und Solidarität) um Richard Sulík gehört zwar in die Familie liberaler Parteien, aber die liberale Agenda bei gesellschaftspolitischen Themen (LGBTI, Beziehungen zwischen Staat und Kirche, Euthanasie) gehört nicht zu ihren programmatischen Prioritäten. Als liberal lässt sich diese Partei eher bei den ökonomischen Themen bezeichnen.
 

Fazit

Die Ergebnisse der slowakischen Parlamentswahl 2020 lassen sich mit folgenden abschließenden Bemerkungen zusammenfassen:

  • Die Wähler äußerten einen klaren Wunsch nach Wechsel bei Zusammensetzung und Stil der neuen Regierung.
  • Die Sozialdemokraten von der Partei Smer-SD um Robert Fico erfahren ein ähnliches Schicksal wie das der Partei HZDS des ehemaligen Ministerpräsidenten Vladimir Meciar in den neunziger Jahren. Zu Beginn absoluter Erfolg, zum Schluss Niedergang ohne die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
  • Umfragen spielten erneut eine wichtige Rolle beim Wahlverhalten. Viele Wähler haben sich offensichtlich erst in letzter Minute entschieden.
  • Positiv zu vermerken ist, dass das Wachstum der Rechtsextremisten gestoppt wurde.
  • Die Wahlbeteiligung liegt zwar höher (65,8 Prozent) als vor vier Jahren (59,8), aber angesichts der Ereignisse in den letzten zwei Jahren (Ermordung des Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten, Massendemonstrationen etc.) wurde eine noch stärkere Mobilisierung der Bürger erwartet.
  • Es sieht so aus, als könnten Wahlen in der Slowakei nicht ohne eine gute Portion Populismus gewonnen werden.
  • Es wird einfacher sein eine neue Regierung zu bilden, als mit einer stabilen regierenden Koalition die ganze Wahlperiode zu bestehen. Die OĽaNO-Fraktion könnte äußerst instabil sein, da es sich nicht um eine klassische Partei mit Regionalstrukturen handelt, sondern eher um eine amorphe Gruppe von Individuen mit verschieden programmatischen und ideologischen Präferenzen.
  • Die ungarische Minderheit wird zum ersten Mal seit den ersten freien Wahlen 1990 nicht mehr von einer eigenen ethnischen Partei vertreten sein. Es bleibt abzuwarten, ob dies zu einer Radikalisierung der ungarischen Minderheit führen könnte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Spannungen zwischen ungarischer Minderheit und slowakischer Mehrheit, die in den neunziger Jahren die slowakische Innenpolitik sehr intensiv prägten, in irgendeiner Form zurückkehren. Aus diesem Grund wird es wichtig sein, wie die neue Regierung das Thema der Rechte nationaler Minderheiten aufgreift.

* Der Autor ist Dekan und lehrt Politikwissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Bratislava.

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Matthias Barner

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Leiter des Auslandsbüros Vereinigtes Königreich und Irland

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