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Syriens große Chance

autori Michael Bauer

Nach mehr als 50 Jahren endet die Herrschaft des Hauses Assad. Das ist ein Grund zum Feiern. Syrien steht jedoch vor großen Herausforderungen.

Der Sturz des Assad-Regimes erfolgte ebenso unvermittelt wie schnell. Die politische Neuordnung Syriens wird nach über 13 Jahren Bürgerkrieg und angesichts eines komplexen regionalen Umfelds jedoch nicht einfach. Eine heterogene Allianz teils dschihadistischer Rebellen muss den politischen Übergang gestalten und dabei die relevanten Stakeholder einbinden. Die Aufbruchsstimmung im Land ist groß, mischt sich jedoch mit Sorgen vor Racheakten und neuen Konflikten.

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Ein Regime bricht zusammen

 

Gerüchte über eine bevorstehende Rebellenoffensive in der Region um Aleppo, der zweitgrößten Stadt Syriens, gab es in den vergangenen Wochen immer wieder. Als der Angriff dann am 27. November startet, entwickelte sich eine Dynamik, die sowohl die Angreifer wie auch das Regime und seine Verbündeten überraschte. Binnen weniger Tage war der Norden Syriens unter Kontrolle der Aufständischen und diese führten ihren Vorstoß weiter in Richtung der strategisch wichtigen Städte Hama und Homs fort. Gleichzeitig griffen auch im Süden des Landes Aufständische zu den Waffen und aus dem Nordosten gingen kurdische Rebellen in die Offensive. Das Regime indes erwies sich als unfähig, eine effektive Verteidigung gegen die Angriffe aufzubauen. Auch die Verbündeten Assads, Russland, Iran und Hisbollah, waren nicht in der Lage, diesen zu retten.

Der Sturz des Assad-Regimes ist nach über 50 Jahren Herrschaft über Syrien eine enorme Chance für das Land und auch so etwas wie historische Gerechtigkeit: Von den über 500.000 Toten, die der Bürgerkrieg seit 2011 gefordert hat, gehen die meisten auf das Konto des Regimes, das auch nicht davor zurückschreckte, Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen und Städte, die unter Kontrolle von Oppositionellen standen, mit Fassbomben anzugreifen. Bereits Assads Vater und Vorgänger im Präsidentenamt, Hafez al Assad, hatte Massaker gegen Aufständische, wie etwa 1982 in der Stadt Hama, als Mittel zum eigenen Machterhalt genutzt. Die Sicherheitsdienste und Foltergefängnisse des Regimes waren berüchtigt. Hundertausende Menschen sind dort verschwunden.

Die Beispiele Muammar Gaddafi in Libyen 2011 und Saddam Hussein im Irak 2003 zeigen gleichwohl, dass der Sturz grausamer Tyrannen zwar ein Möglichkeitsfenster eröffnet, das aber oft nicht genutzt wird. Zu tief sind bisweilen die Wunden nach Jahren der Despotie und des Bürgerkriegs, zu heterogen die Interessen der lokalen Akteure und zu weitgehend die Involvierung ausländischer Mächte, die ihre Interessen gewahrt sehen wollen.

Diese Faktoren greifen auch für Syrien und so gilt es eine Bestandsaufnahme zu den neuen Entwicklungen im Land vorzunehmen. Wer sind die Akteure, die Assad gestürzt haben? Welche Ziele verfolgen die Nachbarn Syriens? Welche ersten Entwicklungen lassen sich sehen?

 

Milizen, Jihadisten und andere Rebellen – wer hat Assad gestürzt

In den Jahren des Bürgerkriegs bildete sich eine Vielzahl von Milizen und Rebellengruppen heraus, die zwar die Feindschaft zum Regime im Grundsatz eint, die sich jedoch ideologisch, organisatorisch und mit Blick auf ihre internationalen Verbindungen unterscheiden. Eine hervorgehobene Rolle bei den Angriffen aus dem Norden spielte die Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS), die international als Terrororganisation eingestuft ist und bislang die Provinz Idlib kontrollierte. HTS war aus der syrischen Al-Nusra-Front hervorgegangen, einem al-Qaida Ableger. HTS-Führer Abu Mohammad al-Dscholani ist seit langem darum bemüht, internationale Anerkennung zu erhalten und das Image der Organisation zu ändern. Dscholani distanzierte sich bereits vor einigen Jahren von al-Qaida und auch vom sog. Islamischen Staat. Die Syrian National Army (SNA), die ebenfalls Teile des Nordens Syriens kontrolliert und sich dem Marsch auf die Hauptstadt angeschlossen hat, ist eine lose Allianz aus jihadistischen Milizen und Warlords, die ebenfalls in Opposition zum syrischen Regime stehen, jedoch zumindest in Teilen auch mit der Türkei kooperieren bzw. von dieser unterstützt werden. Die Türkei hat diese Gruppen u.a. im Kontext ihres Vorgehens gegen die kurdischen Milizen genutzt, die in einer Reihe von türkischen Militäroperationen aus Gebieten entlang der türkisch-syrischen Grenze vertrieben wurden. Die SNA gilt als wesentlich weniger hierarchisch und kontrollierbar als die HTS. Die SNA führte zu Beginn der jüngsten militärischen Entwicklungen eine eigene Operation durch, die sich gegen kurdische Verbände im Norden richtete, die innerhalb der Syrian Democratic Forces (SDF) zusammengefasst sind und den Nordosten Syriens mit US-Unterstützung kontrollieren. Die SDF sind formal ein Zusammenschluss verschiedener Milizen, faktisch jedoch von kurdischen Kadern dominiert, die der in der Türkei und anderen Ländern als Terrororganisation eingestuften PKK nahestehen. Die Kurden haben als Verbündete des Westens eine wichtige Rolle in der Bekämpfung des IS gespielt und kontrollieren seitdem auch Gebiete, die vor allem von arabischen Stämmen bewohnt werden. Die Kurden kontrollieren zudem die syrischen Ölvorkommen. Als die Regimekräfte zusammenbrachen, weiteten die SDF ihre territoriale Kontrolle aus und nahmen u.a. die strategisch wichtige Stadt Deir ez-Zor sowie einen Grenzübergang zwischen Irak und Syrien ein.

Aus dem Süden griffen Aufständische erst Anfang Dezember ins militärische Geschehen ein: unter der Operation „Breaking die Shackles“ taten sich Rebellen in der Provinz Daraa zusammen, die eigentlich die Waffen gegen das Regime 2018 niedergelegt hatten. Aus dem Südosten griffen zudem mit den US verbündete Milizen aus der Region um al-Tanf an und weiteten ihren Einfluss aus. Bereits seit 2018 hatte sich zudem die von den Druzen dominierte Region Sweida immer weiter dem Regime entfernt, bis wirtschaftliche Probleme schließlich im August 2023 zu einem Aufstand gegen das Regime führten, das seitdem kaum mehr Kontrolle über die Region im Süden des Landes hatte.

 

Die externen Akteure – Gewinner und Verlierer

In Anbetracht der geostrategisch zentralen Position Syriens hatten auch zahlreiche externe Akteure Interessen, die sie im Kontext des Bürgerkriegs wahren wollten. Insbesondere Iran stand dem Regime in Damaskus von Beginn an militärisch, politisch und wirtschaftlich zur Seite. Zentral hierbei war die militärische Unterstützung durch die iranischen Revolutionsgarden sowie die libanesische Hisbollah. Syrien war ein zentraler Baustein des regionalen iranischen Einflusskorridors durch den Irak und Syrien bis in den Libanon. Ein weiterer Assad-Verbündeter war Russland, das in Tartus seinen einzigen Marinestützpunkt am Mittelmeer unterhält. Ende September 2015 intervenierte Russland militärisch auf der Seite Assads, der damals kurz vor einer Niederlage stand.

Die Unterstützung dieser Alliierten blieb jetzt aus. Zu sehr geschwächt waren Iran und insbesondere Hisbollah nach der kriegerischen Eskalation mit Israel ab September 2024. Hisbollah ist damit beschäftigt, sich selbst zu konsolidieren. Eine weitere Rettungsaktion für Assad kam daher nicht in Frage. Ähnliches galt für Russland, das bereits seit Beginn seines Angriffskriegs auf die Ukraine versucht hatte, die Kosten des russischen Syrienengagements zu senken und daher Soldaten und Material abgezogen hatte. Iran und Russland sind denn auch die großen Verlierer des Machtwechsels in Syrien. Das Ende des Assad-Regime schwächt die iranische „Achse des Widerstands“ erheblich und raubt auch der libanesischen Hisbollah die strategische Tiefe. Russland wiederum muss fürchten, nicht nur einen Verbündeten zu verlieren, sondern auch seinen Mittelmeerzugang sowie die weitere militärische Infrastruktur, die Moskau in Syrien aufgebaut hatte.

Der große Gewinner der Verschiebungen in Syrien dürfte die Türkei sein. Ankara hatte in mehreren Militäroperationen seit 2016 Gebiete im Norden Syriens besetzt, um den kurdischen Einfluss an der türkisch-syrischen Grenze zurückzudrängen. Zudem sollten syrische Flüchtlinge in die türkisch kontrollierten Gebiete zurückgeführt werden. Bei beiden Zielen setzte die Türkei auf die Zusammenarbeit mit den SNA, also einem der jetzt erfolgreichen Milizen-Verbände. Aber auch mit HTS, die auch die Türkei als Terrorgruppe einstuft, arrangierte sich Ankara und akzeptierte deren Herrschaft über die Provinz Idlib. HTS und SNA hatten dem Vernehmen nach im Vorfeld ihrer Operation Ankara informiert. Angesichts der Weigerung Assads, auf türkische Gesprächsofferten einzugehen bzw. Zugeständnisse zu machen, ließ die Türkei die Milizen gewähren. Die Türkei ist somit der externe Akteur, der den siegreichen Milizen-Verbänden am nächsten steht und sich entsprechend Einfluss in der Nachkriegsordnung erhoffen darf. Neben der Rückführung von möglichst vielen der 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge aus der Türkei in ihre Heimat, wird Ankara vor allem daran gelegen sein, den kurdischen Einfluss in Syrien zu begrenzen. Eine Eskalation des Konflikts mit den Kurden im Nordosten Syriens ist denn auch eine reale Gefahr für den friedlichen Übergang in die Nach-Assad Ära.

Die arabischen Nachbarstaaten hatten erst im Mai 2023 die Suspendierung der syrischen Mitgliedschaft in der Arabischen Liga aufgehoben. Grundlage war ein „Step-for-Step“ Plan, der von syrischer Seite jedoch nicht wirklich befolgt wurde. Dennoch gingen die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien diplomatisch auf das Regime zu. Zurückhaltender war Jordanien. Katar verweigerte sich der Annäherung. Die Produktion und der Schmuggel der Droge Captagon durch das Regime und die enge Verbindung des Regimes zum Iran gehöhrten zu den Hauptsorgen der Araber. Jordanien und der Libanon sind zudem Aufnahmeländer von bis zu einer bzw. bis zu 1,7 Millionen syrischer Flüchtlinge. Beide drängen auf deren Rückkehr. Eine erfolgreiche politische Neuordnung in Syrien böte hierfür eine Chance, ein Scheitern würde zu neuen Flüchtlingsströmen führen.  Jordanien und Libanon haben daher auch ihre Grenzen zu Syrien im Kontext der jüngsten Entwicklungen geschlossen. Israel schließlich beobachtet ebenfalls intensiv, was sich im Nach-Assad-Syrien entwickelt. Die Schwächung der iranisch-dominierten „Achse des Widerstands“ durch den Sturz Assads wird positiv zu verbuchen sein, das Szenario eines neuen Bürgerkriegs in Syrien oder eines jihadistischen Regimes wird Sorge verursachen. Israel hat in den letzten Tagen zahlreiche Waffenlager und ähnliche Einrichtungen der syrischen bombardiert, damit diese nicht den Aufständischen in die Hände fallen. Zudem drang die israelische Armee über die besetzen Golanhöhen hinaus in die Pufferzone vor, die die syrische und israelische Truppen trennte. Wie in anderen Teilen des Landes, waren die syrischen Soldaten auch dort verschwunden.

 

Wie geht es weiter?

Die Rebellen-Allianz, die letztlich den Sturz Assads vollbrachte, ist äußerst heterogen. Es ist nicht auszuschließen, dass es zwischen den Milizen zu Machtkämpfen und Konflikten kommt, was deren Rolle im zukünftigen Syrien betrifft. Mehrere Bruchlinien sind denkbar: (1) Konflikte zwischen den arabischen Milizen HTS und SNA bzw. ihren Verbündeten über Macht und Einfluss im neuen Syrien. (2) Eine Konfrontation zwischen arabischen Milizen und der Türkei einerseits und den syrischen Kurden andererseits, um den kurdischen Einfluss in Syrien zurückzudrängen. Dies würde nicht nur den Übergangsprozess destabilisieren, sondern auch dem sog. Islamischen Staat (IS) in die Karten spielen, der in den vergangenen Monaten immer aktiver geworden ist. Im kurdisch kontrollierten Gebiet befindet sich zudem das berüchtigte Al-Hol-Camp, in dem über 50.000 Menschen, darunter Frauen und Kinder untergebracht sind, die mit dem IS in Verbindung stehen bzw. standen. (3) Es kann ebenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass sich Assad-treue Teile der Armee bzw. Milizen zu einer Art Guerillatruppe zusammenschließen, etwa im Kernland des Regimes entlang der Küste und sich gegen die Neuordnung Syriens erheben.

Es besteht zudem das Risiko eines kompletten Zusammenbruchs des Staatsapparats und damit der öffentlichen Ordnung im bisherigen Regimegebiet. Es ist daher wichtig, dass – wie dies aktuell der Plan zu sein scheint – die staatlichen Strukturen aufrechterhalten werden. HTS hat angekündigt, mit dem Ministerpräsidenten des gefallenen Regimes, Mohammad Al Dschalali, zusammenarbeiten zu wollen und dieser hat sich hierfür auch bereit erklärt. Dies ist auch mit Blick auf die Einbindung von pro-Assad Kräften wichtig, die trotz allem im neuen Syrien eine Rolle haben müssen. Auch für die  Organisation der humanitären Hilfe, auf die Syrien weiterhin angewiesen ist, ist eine Fortbestand staatlicher Strukturen wichtig.

HTS und deren Führer Dscholani hatten bei der militärischen Operation, die zum Ende des Assad Regimes führte, eine Führungsrolle übernommen und sind auch in der öffentlichen Wahrnehmung in Syrien und international besonders herausgehoben. Ihnen kommt daher eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung des Übergangs und der Einbindung der relevanten Stakeholder im Land zu. In Idlib hatte die Organisation einen gewissen Pragmatismus in der Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Akteuren an den Tag gelegt, ohne jedoch die islamistischen Grundpositionen aufzugeben. Es muss sich nun zeigen, ob HTS und Dscholani gewillt sind, weitere Schritte in diese Richtung zu gehen. Es ist ohnehin keine leichte Aufgabe, das Zusammenleben einer so heterogenen Gesellschaft wie der syrischen mit verschiedenen Konfessionen und ethnischen Gruppen zu organisieren; das Aufoktroyieren einer islamistischen Ideologie wäre hier zum Scheitern verurteilt. 

Die meisten der mehr als 500.000 Toten des syrischen Bürgerkriegs waren Opfer des Regimes. Die Gefahr von Racheakten ist somit sehr real. Besonders gefährdet dürfte hier die Religionsgruppe der Alawiten sein, der Assad selbst angehörte und die als Machtbasis des Regimes galten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der HTS-Führer sich gegen Vergeltungsaktionen gegen Vertreter des alten Regimes ausgesprochen und auch den Schutz von religiösen Minderheiten angemahnt hat. Perspektivisch wird kaum ein Weg daran vorbeiführen, die Verbrechen des Bürgerkriegs und der Assad-Zeit aufzuarbeiten, Verantwortlichkeit herzustellen und einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess einzuleiten. Das Potenzial von traditionellen Strukturen, Stämmen, Vertretern religiöser und ethnischer Gruppen sollte dabei nicht unterschätzt werden.

 

Eine Rolle für die Internationale Gemeinschaft

Der Übergangsprozess in Syrien steht noch ganz am Anfang und es gibt zahlreiche Hürden. In der jetzigen Situation ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft die „Syrien-Müdigkeit“, die sich in den letzten Jahren entwickelte, überwindet. Dies bedeutet ein Aufrechterhalten des Engagements Europas in der humanitären Hilfe sowie der USA mit Blick auf ihre Rolle als sicherheitspolitischer Stabilisator im Nordosten des Landes. Europäer und Amerikaner müssen sich selbst, sowie die Akteure im neuen Syrien und die Nachbarn Syriens auf die Grundprinzipien der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 mit ihrer Forderung nach einem syrisch-geführten Prozess der Neuordnung verpflichten. Dann kann diese große Chance für Syrien – und die Region – genutzt werden.

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Leiter des Auslandsbüros Libanon

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