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Bismarck-Museum Friedrichsruh, gemeinfrei

Interviews

„Der deutsche Sonderweg ist eine Plattitüde. Vielleicht waren die Deutschen nur zu erfolgreich.“

Reflexionen zur Reichsgründung vor 150 Jahren.

Interview mit dem Historiker Prof. Dr. Michael Stürmer

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Prof. Dr. Michael Stürmer KAS Sachsen 2018
Prof. Dr. Michael Stürmer, Historiker

Es gibt eine Reihe von großen Geschichtswerken, die das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 beschreiben und analysieren. Hans-Ulrich Wehler in seiner Gesellschaftsgeschichte, Sie selbst 1983 in Ihrem Werk „Das ruhelose Reich" und Thomas Nipperdey 1990 und 1992 in seinen Studien über Bürgertum, Kultur und Politik des Kaiserreichs. Warum ist das Kaiserreich so interessant, dass es immer wieder in großen Überblicksdarstellungen beschrieben wird?

Die Reichsgründung ist ein Riesenereignis der europäischen Geschichte aus dem einfachen Grunde, weil hier ein deutsches Großereignis zu einem Umsturz und Umbruch des europäischen Systems wird. Das bezeichnete Benjamin Disraeli, einer der großen Politiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als „German Revolution“. Nicht eine Revolution wie die französische, die sei verhältnismäßig sekundär. Nein, bedeutsamer noch als die Französische Revolution. Das ist ein ernstes Wort, vielleicht eine Übertreibung; es musste ja nicht so kommen, das darf man nicht vergessen. Aber wenn der Premierminister des britischen Empire dies im House of Commons sagt, war das eine sehr ernste Sache. Man kann die Frage stellen, ob die Reichsgründung eigentlich zu vermeiden war?

Da komme ich auf die Rolle Bismarcks und die der Kriege im Reichsgründungsprozess. Die Historiker sagen gern, es gebe die drei „Einigungskriege“ [1864 den Deutsch-Dänischen, 1866 den Preußisch-Österreichischen, 1870/71 den Deutsch-Französischen], sie waren jedoch in jeder Kategorie, in der man Krieg betrachten und bewerten kann, verschieden, vom Anlass, von der Bedeutung, in Verlauf und Ergebnis. Immer gab es andere außenpolitische Begleitumstände und Ursachen. Das einzige, was wahrscheinlich durchlaufend gilt, ist der Amerikanische Bürgerkrieg [1861-1865], der im Hintergrund eine gewaltige Rolle spielte mit immerhin 500.000 Toten auf beiden Seiten und einer tiefen Verformung des Weltstaatensystems. Das alles gibt Bismarck, den deutschen Nationalliberalen, der nationalen Stimmung einen ganz anderen Abstoßpunkt, als wenn die Reichsgründung in tiefster Ruhe und Frieden geschehen wäre. Auch 1848 wirkt tief hinein in die Reichsgründungszeit, etwa ausgehend vom allgemeinen Wahlrecht oder den nationalen Stimmungen.

Das Kaiserreich war der Zentralstaat in Europa. Sollte das Kaiserreich seine Rolle nicht finden oder erst im Gegensatz zum übrigen Europa definieren, war das für alle anderen Mitspieler im europäischen Staatensystem eine ernste Verunsicherung und Herausforderung, Warum ist dies so interessant? Wegen der zwei Weltkriege, deren Entfesselung bis heute oft zu einhundert Prozent dem Kaiserreich zugeschrieben wird, jedenfalls in der Politik und von vielen Historikern. Das vereinfacht zweifellos die Dinge zu sehr und ist in der politischen Historie längst überwunden. Wir sind nicht mehr bei Fritz Fischer [1908-1999, deutscher Historiker] und seinen Thesen, sondern erheblich darüber hinaus. Das Merkwürdige ist, dass trotzdem ganz entscheidende Bücher gerade der englischen Welt nicht zur Kenntnis genommen werden. Etwa Gordon A. Craig [1913-2005, amerikanischer Historiker], meinem akademischen Lehrer, der zwar Deutschland im Zentrum des Konfliktes sah, aber keineswegs die Ansicht vertrat, dass Berlin den Ersten Weltkrieg allein vom Zaun gebrochen hätte. Oder nennen wir George F. Kennan [1904-2005], einen der besten Kenner Russlands und Deutschlands in Amerika. Er war einer der großen Diplomaten und Historiker Amerikas, der lernte, Russland/die Sowjetunion zu begreifen. Seine Thesen waren auffallend anders als die in Deutschland, wo es eine Haltung gab, als sei Außenpolitik die Verwirklichung des Bösen in der Welt. Das war die Folge einer abnehmenden Befassung mit Außenpolitik. Wenn man sich für Gesellschaftsgeschichte entscheidet, kommt die Außenpolitik methodisch eben nur schwer zu Wort. Versucht man dann, die komplexen Themen einzubeziehen, die gegenwärtige Maßstäbe der Beurteilung weitgehend ignorieren, kommen widersprüchliche und schwache Deutungen heraus. Das erlebten wir in den letzten Monaten und Jahren erneut bei der Beurteilung des Kaiserreichs. Denn die Thesen von Christopher Clark [australischer Historiker] sind weder aufregend noch neu, sie erschienen nur der deutschen Öffentlichkeit als phantastische Eröffnung.

Offenbar ist die deutsche Haltung gegenüber der Reichsgründung noch immer bestimmt von einer Art Trauma und protestantischer „Sündenlust“: Wenn wir schon alles Böse getan haben sollen, dann wollen wir es auch gründlich getan haben. Die Differenzierung, die in solchen Fragen essentiell ist, spielt keine Rolle mehr. Das hat mit Geschichtswissenschaft und der Vieldeutigkeit des Historischen nur noch wenig zu tun. Wir befinden uns auf einem Gebiet, das immer noch schwierig ist. Auch bei sinnstiftenden Ansprachen deutscher Politiker, ob Außenminister oder Bundespräsident, macht man es sich oft einfach; in diesem Fall die Redenschreiber. Da ich selber mal einer war, habe ich Erbarmen mit den Schwierigkeiten, jeden Tag etwas Kluges und Neues, nicht Anstößiges zu produzieren. Aber es ist schon vereinfacht, wenn ein Außenminister, nicht der aktuelle, in einem Aufwasch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die man genau unterscheiden muss, allein Deutschland gut- bzw. schlechtschreibt. Das ist ärgerlich, denn es gibt der Geschichte eine moralische Drehung, die in manchem sicher zutreffend ist und zu Erkenntnissen führt, in anderem aber nicht.

Da Sie Fritz Fischer ansprechen. Es gab mit ihm und befeuert auch durch DDR-Historiker lange Debatten über einen deutschen Sonderweg, der über ein angeblich besonders militaristisches Kaiserreich in den Ersten Weltkrieg und später in den Nationalsozialismus mündete. War das Kaiserreich der Beginn eines Sonderwegs?

Der Sonderweg ist eine Plattitüde. Jedes Land beansprucht einen Sonderweg. Man gebe mir in Europa ein einziges Beispiel, wo ein „Sonderweg“ einmalig, unwiederholbar und gänzlich einzigartig war. Das gibt es nicht. Jedes Land, von Polen bis Lichtenstein, hat seinen Sonderweg. Manche sehen sich schöner an als andere. Aber betrachten wir die Debatten um die Revision der Kolonialzeit in den USA oder England, die sind schmerzhaft, und ihnen muss man sich stellen. Und nicht dem, was seit sechzig Jahren erörtert und abgehakt ist. Geschichte von solchem Gewicht, solcher Querschnittswirkung, wie die der Reichsgründung, ist niemals ganz abgehakt. Wer sagt, das ist nur noch Kulisse, der ist dazu verdammt, noch einige Dinge zu lernen, die nicht einfach sind. Geschichte ist in ihrer billigsten Form eine permanente Rechtfertigung oder auch Prüfung. Anders ist es kaum denkbar. Es geht nicht nur darum, „wie es eigentlich gewesen“ ist, wie der preußische Historiker Leopold von Ranke [1795-1886] meinte, sondern auch darum, wie es sein soll. Wer aber ist der moralische Gewinner?

Ich sehe auch in Ihren Fragen eine sehr eng gefasste Konzentration auf Deutschland, auf Politik und auf Macher wie Bismarck, der weiß Gott ein großer Macher war. Das ist aber hochgefährlich, weil es viel zu eng ist und die Zwänge, die Doppeldeutigkeiten, die offenen Fragen sehr verkürzt. Und dann stört mich von vornherein der Determinismus: weil es so kam, musste es so kommen. Das ist eine fatale Falle für Historiker, die das glauben. Nein, Geschichte ist, Golo Mann [1909-1994, deutscher Historiker] formulierte das drastisch: „Chaos, das ins Chaos schwankt“. Bismarck selber schrieb in einem Brief an seine Frau zur Außenpolitik: „Das lernt sich in diesem Gewerbe wohl, dass man so klug sein mag wie die Klugen dieser Welt, und doch von einer Minute in die andere geht wie ein Kind ins Dunkle.“ Die Vorstellung, Geschichte sei wie in einem Märklin-Baukasten gebaut und da gäbe es einen Bismarck oder einen Cavour [1810-1861 Ministerpräsident des Königreichs Italien] oder einen Disraeli [1804-81 britischer Ministerpräsident] und die machten die Geschichte: auch da gilt das Wort von Bismarck in der Zeit der Reichsgründung: „Die Geschichte können wir nicht machen, wir können nur warten, dass sie sich vollzieht.“

Das ist sicher untertrieben. Bismarck war schon ein großer „Täter“, aber es zeigt doch geradezu provozierend, dass viele Faktoren im Spiel sind. Man sollte nicht Bismarcks Wort vergessen, „Blut und Eisen“ seien die Faktoren der Geschichte, natürlich zum Schaudern der Liberalen, die aber selber bei „Blut und Eisen“ durchaus mitzuwirken wussten. John Maynard Keynes [1883-1946], der große Ökonom des 20. Jahrhunderts, sagte einmal, es sei nicht „Blut und Eisen“, sondern „Kohle und Stahl“. Auch das will gut bedacht sein. Kohle und Stahl. Vielleicht gab es davon zu viel? Vielleicht waren die Deutschen nur zu erfolgreich?

Finden Sie ihre Forschung nicht heute durch die neusten Studien bestätigt? Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die kritische Studie des Marburger Historikers Eckart Conze [Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020]?

Er schickte mir sein Buch und ist ein Schüler von mir. Ich bin mit seiner Sichtweise nicht sehr einverstanden. Darüber ist man eigentlich hinaus. Der Bismarck-Staat ist moderner als behauptet, auch die Politik. Es gibt starke Elemente des Cäsarismus, er ist eine Art autoritäre Demokratie. Das muss einbezogen werden, dann merkt man, wie viele Kräfte sich hier gegeneinander ausarbeiten, die selbst den herrschenden Politikern, ob Wilhelm II., dem russischen Zaren oder dem österreichischen Außenminister, nicht als gestaltbar zugänglich waren. In dem Sinne: Wir können nur warten, dass sich die Geschichte vollzieht. Ganz hilflos sind wir zwar nicht, wir Politiker oder Diplomaten und Militärs, aber wir sind auch nicht Herren des Geschehens. Meine These zur Lage 1914, die nicht breit rezipiert worden ist, lautet etwas vereinfacht: Jede Großmacht hatte gute und rationale Gründe, den Krieg, der ohnehin für unausweichlich gehalten wurde, besser jetzt als später zu wünschen. Alle waren rational gebunden, Österreich-Ungarn sowieso und hatten keine Ahnung von dem Verhängnis, von dem sie ein Teil waren.

Nehmen wir die Bewertung, die bei Christopher Clark ganz stark ist, aber in der deutschen Geschichtswissenschaft zumeist übergangen wird: Am Anfang des Ersten Weltkrieges stand ein Terrorist. Gegenwärtig dreht sich die Welt stark wegen 9/11, dem Angriff auf das World Trade Center in den USA am 11. September 2001. Dieses Ereignis ist ein „defining moment“ aus Sicht der USA. Amerika, die größte Demokratie aller Zeiten und inzwischen sehr labil, reagierte auf den Terrorismus 9/11 und legte sich eine vollkommen neue Sicherheitsarchitektur zu. Die Orientierung wurde völlig neu durchdacht. Folgen eines Terroranschlages, der kaum der letzte gewesen sein wird. Insofern ist das doppelt interessant für Historiker, was geschehen ist und was hätte geschehen können.

Dass der Anschlag 1914 auf Erzherzog Ferdinand in Sarajewo für die angeschlagene Doppelmonarchie eine tödliche Herausforderung war, wird heute nur in einem Halbsatz noch zur Kenntnis genommen. Ein Staat, der sich eine solche Herausforderung reaktionslos gefallen lässt, ist für sich selbst und alle Nachbarn verloren. Und da frage ich mich: Wie weltfern darf eigentlich politische Geschichtswissenschaft sein? Hätte Österreich-Ungarn auf den Mord am Thronfolger nicht mit einem Gegenschlag reagiert, wäre es verloren gewesen. Das Deutsche Kaiserreich hatte damals noch einen einzigen ernsthaften Verbündeten, die Doppelmonarchie an der Donau. Frankreich sei, so der französische Botschafter in St. Petersburg, „victime de son alliance“, Opfer seiner Allianz mit Großbritannien und Russland gewesen. Wenn Frankreich diesmal wie bei den Marokkokrisen [1904-1906 und 1911] nachgegeben hätte, wäre es sozusagen ein zweites Österreich-Ungarn geworden - schwach, unzuverlässig, nicht bündnisfähig. Und wo steht in den neueren Studien, dass Russland in den zwei Jahren vor Kriegsausbruch von Massenstreiks in Moskau und St. Petersburg getrieben wurde und der russische Geheimdienst, der bis heute einen gewissen Ruf der Skrupellosigkeit genießt, die Außenpolitik des Zarenreiches in die Hand genommen hatte? Wo ist die Rezeption der Thesen von George F. Kennan zur russisch-französischen Allianz? Russland hat seit Peter dem Großen eine Tendenz, die sich welthistorisch bis heute und wohl auch in Zukunft stark auswirkt, eine Verbindung zum warmen Meer zu suchen und zu kontrollieren. Das spielte in Stalins Allianz mit Hitler von 1939 bis 1941 eine große Rolle, das spielte in der Gegenallianz beim Aufbau der NATO ab 1948 eine große Rolle und bereits zur Zeit Katharinas der Großen. Wie kann man, wenn man sich mit den Geschehnissen 1914 befasst, eine solche Dichte historischer Bezüge, Zwänge und Widersprüche übersehen?

Heinrich August Winklers [Historiker] Vorstellung etwa, man dürfe an den deutschen Schuldkomplex nicht rühren, denn das sei eine Entlastung für falsche Politik, halte ich für eine politische Darstellung und Reflexion, die der Geschichtswissenschaft und dem berühmten Satz von Ranke, „wie es eigentlich gewesen“ ist, widerspricht. Man könnte spekulieren, was wäre gewesen, hätten die Entente und die Mittelmächte im Sommer 1914 gesagt: das Attentat von Sarajewo ist furchtbar, und wir sind solidarisch mit unseren gekrönten Cousins in Wien? In Russland wäre der Zar wahrscheinlich gestürzt worden; im Kaiserreich hätte man gesagt, was man 1914 tatsächlich sagte, das Österreich-Ungarn unter allen Umständen gestützt werden müsse; Frankreich hätte, vermutlich etwas süffisant und spöttisch, kommentiert, Habsburg habe so viele Erzherzöge, da komme es auf einen mehr oder weniger nicht an usw. Hätte ich die Feierlichkeiten zur Reichsgründung vor 150 Jahren zu dirigieren gehabt, hätte ich ein Fernsehstück mit kundigen Spielern, die das Gegenteil der Orthodoxie zu denken wissen, angestellt. Dann relativiert sich das Bild.

Bismarck schuf das Deutsche Reich 1871, was in der Sicht mancher Historiker den Keim eines europäischen Krieges in sich getragen hätte. Dies war die kleindeutsche nationale Lösung. Angenommen, diese Einschätzungen wären zutreffend. Hätte die großdeutsche Lösung unter Einbeziehung Österreich-Ungarns dann vielleicht den Frieden erhalten? Weil das Deutsche Reich zu stark gewesen wäre? Oder hätte das erst recht Hass und Neid anderer Nationen auf sich gezogen? Was Bismarck erkannte? Gab es dafür überhaupt die Gelegenheit, angesichts des Unwillens der Monarchen?

Das hätte keine zehn Jahre gehalten. Dann hätte es einen großen europäischen Krieg gegeben. Man muss sich die Situation von 1848 vor Augen halten. Das war die großdeutsche Lösung. Bismarck lehnte eine kleindeutsche Lösung und die Führung eines Krieges zu ihrer Bildung damals ab und sagte in seiner berühmten Rede 1849: „Wehe dem Staatsmann“. Damals drohten Frankreich und Russland mit Krieg, Großbritannien entsandte eine Flotte, Russland schickt 300.000 Kosaken in die Grenzregionen – das war nicht freundlich gemeint. Nehmen wir den berühmten Historiker Friederich Dahlmann [1785-1860], der in der Nationalversammlung 1848 von einem Deutschen Reich zwischen den vier Meeren schwärmte - die massivste Provokation der europäischen Mächte, die man sich vorstellen kann. Entscheidend ist, dass hier eine Maßlosigkeit bereits im Parlament gedacht wurde. Das Zentrum bestand nicht aus maßvollen Politikern. Das Zentrum ist praktisch durch den Krieg Österreich-Preußen 1866 gegründet worden und sollte die katholische Sache im Reich weiterführen. Auch hochgeschätzte Kollegen übersehen, dass Frankreich bis zur Niederlage 1870/71 eine Garnison unterhielt, um den Papst zu beschützen, ein Stück katholische Gesamtheit. Daher nahm Bismarck die Argumente und erlaubte sich auch, misstrauisch gegenüber dem politischen Verstand zu sein, den die Zentrumspartei in der Reichsgründungsphase einbrachte. Das waren ja nicht Pazifisten um jeden Preis, sondern hier wurde eine bewaffnete Intervention für den Schutz des Papstes wegen der Vatikanfrage und der Vertretung des katholischen Elements im deutschen und europäischen Gefüge gefordert. Wenn man sich die Mühe machte, die Protokolle der Nationalversammlung zu lesen, wird diese Grundlage des inneren politischen Konzerts in Deutschland sichtbar. Bismarck hatte vermutlich mit seiner Ansicht, sich keinen Konflikt mit Frankreich, dem Katholizismus und der Zentrumspartei einzuhandeln, mehr Recht als viele kritische Historiker.

Man könnte weitere große Konflikte anführen. Die Demokratie war 1870 in den meisten europäischen Staaten ziemlich unterentwickelt. Es war nicht die Zeit für Demokratie, es war die Zeit für Liberalismus, vielleicht für Freihandel. Wer waren denn eigentlich die Demokraten, die da gemeint sind? Dann kommt man wieder auf das fatale Problem des Krieges. Marx und Engels taten 1848/49 mit Worten und Werken, was sie konnten, um Krieg zu entfachen. Was war ihr Argument? 1792 gab es in Frankreich schon einmal den Umschlag von Revolution in Krieg. Auch Politiker wie Bismarck waren besessen von dem Bild der großen Französischen Revolution mit Napoleon und der kleinen Revolution 1848/49, als der europäische Krieg gerade noch vermieden werden konnte. Bismarcks Aufstieg zu staatsmännischer Größe geschieht ebenfalls durch Krieg. Krieg ist für diesen Prozess - ein langer über zwei Generationen - nicht wegzudenken und nicht erst am Ende - im 20. Jahrhundert - wichtig. Er war ein Leitmotiv. Die Politiker waren nicht scheu, was die Inkaufnahme des Krieges anbetrifft. 1864 [Deutsch-Dänischer Krieg] war ein Freiheitskrieg, wie sie damals überall in Europa vorkamen, 1866 [Preußisch-Österreichischer Krieg] ein Scheidungskrieg, sozusagen der größte Rosenkrieg der europäischen Geschichte. Völlig klar war, ein Europa mit Österreich-Ungarn und Deutschland und vielleicht noch Schleswig-Holstein, war für Frankreich, Großbritannien und Russland inakzeptabel. Das wusste Bismarck besser als jeder andere, deshalb mussten diese Scheidungen vollzogen werden. Das ging einerseits noch verhältnismäßig gut, man könnte sagen ein chirurgischer Schnitt. Andererseits ging es gewaltig schief und legte mit dem Deutschen Reich Europa ein Kriegskind in die Wiege, mit dem das übrige Europa nicht verstand, umzugehen.

Es gibt eine interessante Parallele aus den letzten Jahrzehnten. In Amerika und der internationalen Welt der politischen Community sagte man, wir dürfen nicht noch einmal den Fehler begehen, den das europäische Staatensystem 1870 beging, dass nämlich das Deutsche Kaiserreich außen vor gehalten wurde in einer Stellung, die auf Dauer nicht haltbar war. Das betrifft heute China. Kann man daraus also etwas lernen? Geschichte wiederholt sich nicht. Aber manchmal gibt sie Hinweise, was man besser tut oder unterlässt. Es gibt also viele Gründe, warum man sich mit dem Kaiserreich beschäftigen sollte. Nicht aber nach der Melodie von Fritz Fischer.

Der Bundespräsident bezeichnete in seiner Rede am 13. Januar 2021 den „Gedenktag als ungelegen", nach einer „nationalen Feier" verlange es niemanden. Für ihn scheinen die Denkmale in Berlin und anderswo „stumm gewordene Kulisse" zu sein. Lehrreich scheint ihm der Blick zurück vor allem mit Bezug auf den später folgenden Nationalsozialismus oder heutige Weltpolitik. Das Jubiläum der Reichsgründung ist in der Hauptstadt Berlin im Gegensatz zu früheren Jubiläen dieses Tages 2021 offiziell eigentlich kaum vorgekommen. Woran liegt das?

Das ist eine interessante Frage. Warum wird das so beiseitegeschoben als gegebene Tatsache, gegebener Verlauf? Als stehe die Sache fest, die Wissenschaft hat gesprochen. Die Wissenschaft in Gestalt von Fritz Fischer, mit seinen Thesen vom deutschen Sonderweg ins 20. Jahrhundert und der deutschen Hauptschuld am Ersten Weltkrieg, sprach natürlich vorläufig. Sie irrte. Fritz Fischer war Vertreter eines Zeitgeistes, der nach einer schmerzlichen Wahrheit suchte und sie in Thesen fand, die zu eng und auf die Dauer nicht stabil waren. Er war auch nicht gerade ausgewiesen als jemand, der sich mit Außenpolitik intensiv befasst hatte. Er kam aus dem „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland“, einer Einrichtung der NSDAP, keineswegs die Pflanzschule der Demokratie. Aus Sicht der sozialdemokratischen Schule der Geschichtswissenschaft könnte man die Haltung mit Blick auf 1914 so beschreiben: Warum sollte man sich Mühe geben, die Geschichte nochmal zu durchdenken, von Christopher Clark rückwärts bis zu George F. Kennan oder Gordon Craig? Warum sollte man die schönen „Kulissen“ einreißen oder umstellen, wo es doch so einfach ist, in einem Satz zu sagen, Deutschland sei an allem schuld? So eine Haltung hängt mit der These von der Demokratie als Allheilmittel zusammen, die so nicht stimmt. Wäre die Demokratie das Allheilmittel der Politik, wie hätte dann jemals Donald Trump in Amerika diese Rolle spielen können? Und wer weiß, welche er noch spielen wird? Wir wissen es schlicht nicht.

Gegen Trump und die Trumpisten gibt es weder in Amerika noch im kaiserlichen Deutschland ein Allheilmittel, zumal die Demokratie den Widerspruch enthält, dass sie Werte braucht, die sie selbst nicht schaffen kann. Das ist das Grundproblem. Eine Beschäftigung mit der Bismarckzeit bringt dafür wahrscheinlich hilfreiches Material, Nachdenklichkeit, Zweifel, die immer wieder aktuell sind. Für die Politik insgesamt zeigt dies, wo sie vorsichtig sein muss und Misstrauen gegenüber der Macht haben muss. Macht als Zentralphänomen menschlicher Existenz sollte heute sozusagen auf Wiedervorlage stehen. Jacob Burckhardt [1818-1897 Schweizer Kulturhistoriker), ein Zeitgenosse Bismarcks fast auf den Tag, sagte: Die Macht ist böse von Anfang an. Power corrupts. Außerdem gibt es die Gefahr einer totalitären Demokratie, das zeigte der israelische deutsch-jüdische Historiker Jacob Talmon [1916-1980] in seinen Vorlesungen an der Hebräischen Universität Jerusalem. Das kann man zwischen 1848 und 1914 mit geradezu schmerzhafter Klarheit in Deutschland und Europa sehen.

Die konfessionelle Frage mit der großen Minderheit der Katholiken im neuen Deutschen Reich spielte damals eine bedeutende Rolle und führte nach der Reichsgründung zu einem heftigen Kulturkampf. Heute, in einem fast schon nachkonfessionellen Zeitalter, tritt die Religionsfrage in anderer Weise durch eine wachsende muslimische Minderheit zu Tage. Gibt es Parallelen, wenn es um die Integration und ein gutes Miteinander geht?

Religionsfragen waren damals mehr als heute einzelstaatlich geregelt, nicht durch das Kaiserreich als übergeordnete Instanz. Wenn man genauer hinschaut war das Kaiserreich ja vor allem Preußen. Cuius regio, eius religio [wessen Herrschaft, dessen Religion] spielte eine Rolle, spielt bis heute eine Rolle und wird das auch in Zukunft noch tun. Das wird einer der Gründe sein, warum muslimische Religionsorganisationen noch über Generationen anders verortet sein werden. Ein Beispiel: Konrad Adenauer war ein prominenter liberaler Katholik. Er verkörperte den westdeutschen politischen Katholizismus in einer liberalen Form, aber er hat den Grundsatz „wessen Herrschaft, dessen Religion“ nicht vergessen. Insofern war er Preuße. Preußen war wesentlich geprägt durch den Protestantismus östlich der Elbe und den rheinischen liberalen Katholizismus links des Rheins. Das alles wurde in verschiedenen Formen weitergeführt, und heute kommen mehrere Herausforderungen. Die eine ist der Verlust der Religion, die Säkularisierung. Die Religion ist als Organisation und sonntägliche Mahnung zwar noch vorhanden, aber nicht mehr als Daseins- oder Lebensform wie in den Zeiten Bismarcks. Diese Lücke könnte gefüllt werden durch quasireligiöse Ersatzorganisationen und wird wahrscheinlich durch die muslimische Herausforderung gefüllt, da steht uns einiges bevor. Es wäre gut, sich zu vergewissern, wie das zu anderen Zeiten war, als „cuis regio, eius religio“ seine Grenzen erreicht hatte. Wer glaubt, das alles hätte nicht mehr mit der Gegenwart zu tun, sei sozusagen papierne Kulisse, irrt sich. So ist das keineswegs - bei allem Respekt vor hochgestellten Staatsdienern. Das sind sehr lebendige Kräfte, und von Zeit zu Zeit merkt man das. Wer einen Blick auf Religion als politische Formierungskraft werfen möchte, sollte die Wählerschaft Donald Trump betrachten. Das ist in Amerika und viele tausend Meilen weg, aber in den Köpfen ist das nicht so weit.

Die Religion ist nicht tot, ist nicht abseitig. Sie ist eine starke Kraft, nicht nur in den Zeiten der Reformation oder im 19. Jahrhundert, sondern auch im 20. Jahrhundert und wahrscheinlich auch künftig. Man muss das nur denken können. Hakt man das von vornherein parteipolitisch organisiert ab, sozusagen als ein Stück Museum, dann besitzt sie in der Tat nicht Sinn und Aufgabe. Sieht man Religion aber als Teil unserer demokratischen Lebensform, dann sollte man sich in jeder Generation immer wieder vergewissern: Was tun wir diesbezüglich eigentlich? Womit füllen wir die geistigen Räume, die früher einmal, vielleicht noch heute, die Religion in ihren verschiedenen Prägungen ausgefüllt hat? Dann ist 1870/71 keineswegs verloren hinter allen Horizonten der Vergangenheit und Zukunft, sondern dann ist das ein prägendes Ereignis der deutschen Geschichte, das auch Gegenwart und Zukunft noch prägt. Denn Geschichte handelt nicht von vergangenen Dingen, die sauber aufgereiht im Regal stehen, sondern ist ein komplexes, strittiges, immer wieder an unerwarteten Stellen aufbrechendes Element.

Kehrt durch die Europäische Union nicht etwas von der Vielvölkerstaats-Lösung eines Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn und dem Balkan zurück?

Ob dieses neue Gebilde wirklich entsteht oder wir den Höhepunkt nicht schon erreicht haben, ist offen. Die Sicherheitspolitik der Europäischen Union entwickelt sich langsam. Sie kann und muss sich aber entwickeln, weil die Welt ein gefährlicher Ort geblieben ist. Wie weit können wir gehen, wie weit wollen wir gehen? Was ist geboten und was passiert, wenn wir weiterhin so nachlässig sind in dieser Beziehung? Das sind sehr komplexe Fragen. Da wird Frau von der Leyen viel aufgebürdet, was sie schwerlich erfüllen kann. Ganz aktuell etwa am Beispiel der Debatten um die Impfstoffe. Was an Gegensätzen in einer vitalen Frage aufbricht: Wer kriegt wann welche Impfung, um der Todesangst zu entgehen? Da sind wir keineswegs das „einig Volk von Brüdern“, auch nicht von Schwestern, sondern da ist jedem das Hemd näher als der Rock. Das zerreißt manche Illusion. Die Erfahrung mit den Impfstoffen und der Verteilung der Chancen sind nicht nur schön, sie sind innenpolitisch - es kochen auch parteipolitische Süppchen - wie außenpolitisch zwischen den europäischen Staaten umstritten. Und zwar mit sehr bitteren und nationalistischen Tönen. Daran können wir erkennen: Wenn man das nationale Ego gerade zugunsten einer höheren, besseren, weniger konfliktgeladenen Ordnung glaubt besiegt zu haben und sagt, das sind nur noch Kulissen, dann kommen trotzdem völlig unvermutet Menschen heraus, kaufen kein Ticket, lassen sich nicht prüfen, benehmen sich wie Lümmel ohne Respekt für Sitten und Gebräuche. Man soll offen sein für die Vieldeutigkeit, die uns bleibt. Wir sind wie wir sind. Das ist nicht immer schön und nicht immer vermeidlich. Man sollte deshalb mit dem hohen moralischen Ton, den wir gerne anschlagen, auch mit Blick auf 1914 oder 1870/71, vorsichtig sein.

Herr Professor Stürmer, vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Prof. Dr. Michael Stürmer, geb. 1938, Historiker und Autor, von 1973 bis 2003 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 1980 bis 1986 Berater des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl, 1988 bis 1998 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Autor zahlreicher Werke zur deutschen Geschichte.

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