Die Situation vor der Wahl 2023
Seit Juli 2019 regiert die konservative Partei Nea Dimokratia (ND) alleine unter der Führung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis nach einem Wahlergebnis von 39,85% in Griechenland. Der Regierungschef rief nun endgültig Wahlen für das Parlament für den 21. Mai 2023 aus und bat die Staatspräsidentin entsprechend den Vouli aufzulösen. Dabei muss erwähnt werden, dass es durchaus ungewöhnlich ist, dass Mitsotakis eine volle vierjährige Amtsperiode absolviert hat – ein großer Unterschied zu einer ganzen Reihe von Vorgängerregierungen, die immer wieder ad-hoc Wahlen ausriefen. Mitsotakis kann hier als Stabilitätsgarant punkten. Auf Regierungsebene hat Mitsotakis seit Beginn seiner Amtszeit mehrere Technokraten und Politiker aus der Mitte auf wichtige Positionen gesetzt. Auf Parteiebene hat er eine neue Gruppe um den heutigen Generalsekretär Pavlos Marinakis, ehemaliger Vorsitzender der Jugendorganisation ONNED, mit der Führung und Organisation der Partei betraut. Nach der dreitägigen Feiertagspause des orthodoxen Osterfestes tritt die ND nun in die heiße Phase Wahlkampfes ein.
Themen im Wahlkampf
Die Themen der Regierungspartei ND vor den Wahlen konzentrieren sich auf die Wirtschaft, Außenpolitik, Verteidigung, Sicherheit und die Digitalisierung des Staates, während Premierminister Mitsotakis parallel bei seinen Besuchen in ganz Griechenland spezifischere Themen anspricht, die Rentner, Frauen in Politik, die junge Generation und Menschen mit Behinderungen betreffen. Neben inhaltlichen Themen wird der Wahlkampf auch auf die Person Mitsotakis zugespitzt.
Die positive Agenda der ND umfasst vor allem die griechisch-türkischen Beziehungen und die nationale Sicherheit. Die Haltung gegenüber den vielen Provokationen der Türkei und die gemäßigte, aber entschlossene Rhetorik des griechischen Ministerpräsidenten sowie die systematische Modernisierung der Streitkräfte haben einen positiven Eindruck bei der griechischen Bevölkerung hinterlassen. Auch die weitere Digitalisierung des Staates und die Umsetzung von Strukturreformen hat sich die Regierung auf die Agenda geschrieben. So wurden bspw. 2018 „nur“ 8,8 Millionen digitale Transaktionen über die digitale Plattform des Staates abgewickelt. Für das Jahr 2022 wird dagegen mit einer Milliarde digitaler Transaktionen gerechnet. Gleichzeitig wird sich die Beschleunigung der Rentenverfahren über die elektronische Plattform e-EFKA positiv auf Millionen von Rentnern auswirken, die auch einen großen Teil der Wählerschaft der ND ausmachen. Die letzte große Reform der Regierung Mitsotakis war die Erhöhung des Mindestlohns auf 780 EUR zum 1. April 2023. Im Wahlkampf hat Mitsotakis nun weitere Erhöhungen auf bis zu 950 EUR angekündigt, wenn er Regierungschef bleibt. Eine weitere Maßnahme, in die der Premierminister politisch investiert, ist das Wohnungsbauprogramm "Mein Haus" für junge Menschen bis 39 Jahre, welches die Möglichkeit bietet, eine erste eigene Immobilie zu einem niedrigen, vom Staat subventionierten Zinssatz zu erwerben. Die entsprechende Antragsplattform ist seit Anfang März 2023 online.
Andererseits konzentriert sich die „negative Agenda“ der ND zum einen auf die immer noch schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und zum anderen auf das politisch vergiftete Klima, welches durch falsche Personalentscheidungen, den Überwachungsskandal und das tragische Zugunglück von Tempi angeheizt wurde. Die Regierung konnte manche soziale Verwerfung – ausgelöst durch die Inflation besonders bei Lebensmitteln und Kraftstoffen - durch Subventionen bei den Stromrechnungen sowie den sogenannten „einheitlichen Warenkorb“ abmildern. Die Inflation konnte in Griechenland dadurch mittlerweile auf 5,5% gesenkt werden, was unterhalb des EU- und Euro-Gruppen-Durchschnitts liegt. Parallel dazu hat sie die Arbeitslosigkeit verringern können, deren Rate in Griechenland jetzt (nur noch) 11,4% beträgt, aber weiterhin eine der höchsten Arbeitslosenquoten in der EU ist. Die Arbeitslosigkeit unter Frauen ist im Vergleich zu 2019 um 5,6 Prozentpunkte gesunken.
Zugunglück von Tempi
Das Eisenbahnunglück von Tempi im März 2023 wirft auch einen schweren Schatten auf die griechische Gesellschaft. Obwohl die Ursachen des Unfalls hauptsächlich mit dem langjährigen Versagen des griechischen Staates zusammenhängen, seinen Bürgern ein sicheres und modernes Eisenbahnsystem zur Verfügung zu stellen und trotz der systematischen Maßnahmen der derzeitigen Regierung in diese Richtung, sind die politischen Kosten beträchtlich: Wenige Stunden nach der Tragödie trat der zuständige Verkehrsminister zurück, während die ersten Umfragen nach dem Unfall einen spürbaren Einfluss auf die Wahltrends zeigten. Mit sofortiger Wirkung kündigte die Regierung Mitsotakis Initiativen an, um das Vertrauen der Bürger in die Eisenbahn wiederherzustellen und das negative Klima zu drehen. Die politische Verantwortung für das Zugunglück von Tempi lastet die Bevölkerung dabei jedoch allen regierenden Parteien der letzten 20 Jahre an, welches in den Umfragen sichtbar wurde.
Opposition
Der Hauptgegner von Kyriakos Mitsotakis ist der ehemalige Ministerpräsident Alexis Tsipras (SYRIZA, 2014-2019), dem es an ernsthaften Vorschlägen zu fehlen scheint. In seinen politischen Reden und Auftritten konzentriert er sich auf Gegenüberstellungen zwischen der Regierung und seiner Art Politik zu machen: Ehrlichkeit oder Korruption, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, Demokratie oder Familienherrschaft, Wandel oder Weiter-So-Mitsotakis. Jedoch kann SYRIZA in keiner Umfrage deutliche Gewinne verzeichnen oder gar die ND überholen. Mittlerweile wächst der Vorsprung der ND vor Syriza wieder an. Die sozialdemokratische Partei PASOK-KINAL mit dem Vorsitzenden Nikos Androulakis scheint ein Königsmacher zu sein, aber verliert sich mit ihren Themen im Zwei-Kampf zwischen Tsipras und Mitsotakis.
Die Umfragen
Die neue Umfragerunde unmittelbar nach dem griechischen Osterfest zeigen, dass sowohl das Ziel der blauen Partei (ND), wieder allein zu reagieren, als auch die Aussicht auf eine "fortschrittliche Koalitions-Regierung", wie sie von der Opposition hochgehalten wird, große politische Anstrengungen erfordern und von den Wahlkampfstrategien aller Lager abhängen werden.
Vor diesem Hintergrund gibt es eine Reihe von Unwägbarkeiten für die Zeit nach dem 1. Wahlgang. Dabei spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Welche Parteien nicht für die die Wahl zugelassen werden und - noch wichtiger - wie viele von ihnen zwar teilnehmen, aber nicht ins Parlament einziehen werden (3%-Hürde) Die mögliche Sitzverteilung beruht auf den neuesten GPO-Umfragedaten[1]. In der April-Umfrage (für "Parapolitika") führt die ND mit 31,4% bei der Frage "Welche Partei werden Sie am Sonntag, den 21. Mai wählen?“ gefolgt von SYRIZA mit 26,8 %, PASOK - KINAL mit 9,5 %, KKE mit 6,3 %, Elliniki Lysi (Griechische Lösung) mit 3,3 %, MerA25 (Varoufakis) mit 3,2 % und den "Griechen" von Ilias Kasidiaris mit 2,7%, die damit knapp unter der Hürde liegen[2].
Wie das Wahlsystem in Griechenland funktioniert
Auch weiterhin wählen die Griechen 300 Abgeordnete in 60 Wahlkreisen[3]. Aus den Wahlkreisen werden zwischen 1 und 17 Abgeordnete gesandt. Weitere 15 werden durch nationale Listen bestimmt. Der wichtigste Aspekt des 1. Wahlgang am 21. Mai 2023 ist die Wiedereinführung des einfachen Verhältniswahlsystems mit 3%-Hürde ohne einen Bonuszuschlag an Mandaten für die erstplatzierte Partei. Dieses System wurde durch SYRIZA und ANEL 2016 eingeführt. Beim einfachen Verhältniswahlrecht werden die Sitze, die jede Partei erhält, auf der Grundlage ihres landesweiten Anteils berechnet. Wenn beispielsweise eine Partei in Griechenland 20% der Stimmen erhält, bekommt sie 60 Sitze (20% von 300 Sitzen). Kurz gesagt kann die stärkste Partei nur dann eine unabhängige Regierung bilden, wenn sie annähernd 50 % der Stimmen erhält, weshalb Analysten darauf hinweisen, dass es so schwieriger sein wird, eine Alleinregierung zu bilden.
Nachdem die Auszählung der Stimmen der ersten Wahl abgeschlossen ist, folgt das Verfahren der Sondierungsmandate. In Artikel 37 der griechischen Verfassung ist das Verfahren festgelegt: "Verfügt keine Partei über die absolute Mehrheit, erteilt der Präsident der Republik dem Vorsitzenden der Partei mit der entsprechenden Mehrheit ein Sondierungsmandat, um die Möglichkeit der Bildung einer Regierung, die das Vertrauen des Parlaments genießt, zu prüfen.
Wird diese Möglichkeit nicht innerhalb von 3 Tagen genutzt, erteilt der Präsident der Republik dem Vorsitzenden der zweitstärksten Fraktion ein Sondierungsmandat, und wenn auch dieser erfolglos bleibt, erteilt der Präsident der Republik dem Vorsitzenden der drittstärksten Fraktion ein Mandat zur Sondierung.
Bleiben die Sondierungsaufträge erfolglos, beruft der Präsident der Republik die Vorsitzenden der Parteien ein und bemüht sich um die Bildung einer Regierung, die das Vertrauen des Parlaments genießt; wenn sich aber bestätigt, dass die Bildung einer Regierung unmöglich ist, bemüht er sich um die Bildung einer Regierung durch alle im Parlament vertretenen Parteien mit dem Ziel, Wahlen abzuhalten und beauftragt im Falle des Scheiterns den Präsidenten des Staatsrates oder den Obersten Gerichtshof oder den Rechnungshof mit der Bildung einer Regierung, die das Vertrauen des Parlaments so weit wie möglich besitzt, um Wahlen abzuhalten, und löst das Parlament auf.“
Die ND-Fraktion hat mit Ihrer Mehrheit 2022 ein sog. „verstärktes Verhältniswahlrecht“ eingeführt. Dabei erhält die erste Partei, die mehr oder gleich 25% der gültigen Stimmen erhalten hat, einen Bonus von 20 Sitzen, während die restlichen 280 Sitze proportional auf die anderen eingezogenen Parteien verteilt werden. Wenn die erstplatzierte Partei dann noch mehr als 25% der Wählerstimmen erzielt, erhält sie neben den 20 Bonusmandaten pro weitere 0,5% ein zusätzlich Mandat. Dieser Zuschlag kann bis zu max. 50 Mandaten (Kappung bei 40%) betragen.
So kann eine Partei, die nahe bei 37% liegt unter gewissen Umständen - wie der Anzahl der ins Parlament einziehenden Parteien - eine Alleinregierung stellen. Die zusätzlichen Mandate für die erstplatzierte Partei gehen zu Lasten der anderen Parteien. Erreicht sie die 40%-Marke der Wählerstimmen, erhält sie 50 zusätzliche Sitze, die der Erstplatzierte bis 2019 unabhängig vom genauen Wahlergebniserhalten hat.
Wahrscheinliche Szenarien nach dem 1. Wahlgang
Szenario 1: Der ND gelingt es, ein Ergebnis nahe der Alleinregierung zu erreichen und im 2. Wahlgang zusammen mit KINAL-PASOK (Androulakis) eine Regierung zu bilden. Die Sondierungen nach dem 1. Wahlgang bleiben erfolglos, da ND auf den Mandatszuschlag im 2. Wahlgang setzt.).
Szenario 2: Der ND gelingt es, ein Ergebnis nahe der Alleinregierung zu erreichen, aber die Zusammenarbeit mit der KINAL-PASOK scheitert, was zu einer Regierung der ND und der Unterstützung einiger einzelner Abgeordneter anderer, kleinerer Parteien (logischerweise der KINAL-PASOK) nach dem 2. Wahlgang führt.
Entscheidend ist, wie viele Parteien einziehen und wie sich die Mandate dann verteilen. Im 2. Szenario nach dem „Zuschlagswahlrecht“, welches im 2. Wahlgang wieder gilt, könnte die ND mit 37-38% eine Alleinregierung stellen.
Erstmalig Wahlrecht für Auslandsgriechen
Mit der Änderung des Wahlrechts von 2022 wurde auch das Wahlrecht für Auslandsgriechen eingeführt. Bisher war nur die persönliche Stimmenabgabe am Geburts- bzw. letzten Wohnort möglich. Nun jedoch können für die Stimmabgabe durch Griechen im Ausland Wahllokale in griechischen Botschaften und Konsulaten, Auslandsorganisationen (griechische Vereine oder Kirchen) oder anderen geeigneten Orten eingerichtet werden. Die Mindestzahl der Wähler, die zur Öffnung eines Wahllokals erforderlich ist, beträgt 40 Wähler. Die Stimmen der Auslandswähler zählen zu gleichen Teilen für das Gesamtergebnis der Wahl und somit für die Gesamtzuteilung der Sitze im gesamten Staatsgebiet. Die Zahl der sog. „staatlichen Abgeordneten“ (Abgeordnete ohne Wahlkreis, da über eine nationale Liste gewählt) wurde von 12 auf 15 erhöht. Die Wähler in den Diaspora-Wahlkreisen stimmen nur für die nationale Liste der Partei ihrer Wahl. Es ist dabei den Parteien überlassen, einen oder mehrere Kandidaten aus der Diaspora auf ihre Listen zu setzen. Somit wird es möglich, dass es künftig auch Diaspora-Abgeordnete geben kann.
Ausblick
Die Parlamentswahl in Griechenland ist eine Richtungsentscheidung: Erhält Mitsotakis für seinen eingeschlagenen Reform- und Stabilitätskurs eine Bestätigung oder bricht eine erneue Phase von politischen Veränderungen mit unklarem Ausgang an? Die Anzeichen sind positiv für die Nea Dimokratia, auch wenn es Unwägbarkeiten in Bezug auf die Frage eines evtl. notwendigen Koalitionspartners oder eines Versuches der Regierungsbildung durch Tsipras gibt. Insgesamt wird der Mai und Juni 2023 für das gesamte östliche Mittelmeer eine Richtungsentscheidung, da auch in der Türkei ein neuer oder alter Präsident gewählt wird. Fakt ist, dass es ab Herbst 2023 in Griechenland, der Türkei und auf Zypern neulegitimierte Regierungen geben wird, die dann gemeinsam die bestehenden Herausforderungen der Region zusammen mit Deutschland und der EU angehen können. #yiasasadenauer
[1] Survey GPO, Between 3-5 April 2023, Sample of 1.000 Individuals, Newspaper Parapolitika
[2] Die Wahlergebnisse und damit auch die Zahl der Sitze werden weitgehend von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über das "Verbot" der so genannten "Griechen"-Partei von Kasidiaris (einem Mitglied der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte, der versucht, eine neue Nazi-Partei ins Parlament zu bringen) bestimmt werden.
[3] Abb1. Wahlkreiskarte
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Auslandsbüro Griechenland und Zypern
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