Michael Köhlmeier über das Schöne der Kunst, ganz ohne Pathos
Wogegen hilft kluges Schwärmen von schönen Dingen? Michael Köhlmeier weiß Rat. Er hörte Mozarts vorletzte Symphonie, war begeistert, konnte alle vier Sätze auswendig – und begriff sie doch nicht. Muss er aber auch nicht. Wir brauchen Kultur, sagt Köhlmeier, weil wir darin erkennen, wie groß, wie einmalig, wie frei das sein kann, was ein Künstler erschafft. Dazu muss man weder intellektuell sein noch pathetisch, nur barmherzig, auch mit sich selbst (wie „Priamos im Zelt des Achills“ in der Schlussgeschichte des Buches).
Es hilft, sich von einem Werk der Kunst, einem Buch, einem Musikstück, einem Gemälde verzaubern oder erschüttern zu lassen. Das kann einer Detektivgeschichte von Agatha Christie gelingen, an der auch beim Wiederlesen faszinierend bleibt, wie der Täter sich tarnt. Auf welch tragikomische Weise Shakespeare seinen König Lear mit zwei Narren in der Heide zusammenbringt, vergleicht Köhlmeier mit Chaplin, der in dem Film „The Gold Rush“ im tiefsten Alaska seinen Schuh kocht.
Das Schöne in der Kunst kann tragikomisch sein, es kann den Dingen ihre Würde zurückgeben. Auch von einem Bibelvers, einem Grimmschen Märchen, ja sogar von der Künstlichen Intelligenz lässt sich Köhlmeier in Erstaunen versetzen. 59 Betrachtungen, kurze, prägnante Essays über Wert und Wirkung des Schönen hat Michael Köhlmeier hier versammelt. Und eine Antwort darauf gefunden, was das eigentlich ist: das Schöne: „Schön ist, was überrascht. Schön ist, was wir vorher nicht für möglich gehalten haben.“
Daniel Kehlmann über gute Kunst in finsteren Zeiten
Wie kann ein Künstler sein Werk vor Gewaltherrschern und Diktatoren schützen? Daniel Kehlmann, Sohn eines Regisseurs, hat in der Stummfilmgeschichte einen neuen Helden gefunden. Georg Wilhelm Pabst ist der unbekannte Große unter den Regisseuren des frühen Kinos, über den Carl Zuckmayer in seinem 1943/44 geschriebenen „Geheimreport“ sagte, er habe zu Pabst „keinen Schlüssel“. Mit einem Film über den Ersten Weltkrieg und einem Sozialdrama über Prostitution (mit Greta Garbo in der Hauptrolle) galt er als der „Rote Pabst“ der Weimarer Republik.
Faszinierend an Pabst ist für Kehlmann sein Lebensweg. Pabst verließ 1933 Deutschland, hatte aber in Hollywood keine Fortune und kehrte 1938/39 nach Österreich zurück. Kehlmanns Roman konzentriert sich auf die Fragen, was mit der Filmkunst in dunklen Zeiten geschieht und ob es überhaupt gelingen konnte, in der Hitlerdiktatur einen guten Film zu machen. Pabst lässt sich vom Propagandaminister (den Kehlmann höchst eindringlich in namenlosem magischen Realismus auftreten lässt) erpressen. Er dreht Filme in Nazideutschland, aber er drehte keine Nazifilme. Einerseits. Andererseits versagte er moralisch bei der Erziehung seines Sohns (den Kehlmann in Jakob umbenennt), den er von der NS-Ideologie verzerren und erdrücken lässt. Kein historischer Kostümroman, sondern eine ebenso eindringliche wie spannend aktuelle Geschichte, ganz großes Kino im Roman: „Am besten“, lässt Kehlmann einen Cineasten zu Pabst sagen, „habe ihm ‚Metropolis‘ gefallen. Der sei nicht von ihm, sagte Pabst. Der Mann lobte ihn für seine Bescheidenheit.“
Patrick Roth über das Wahrhaftige, diesseits und jenseits der Krisen
Woher kommen die Lichtsignale in der dunkelsten Lebensstunde? Was ist mit Joe Travers auf der New Yorker Whitestone-Brücke in einer eiskalten Winternacht passiert? Und welche Erklärung ist Joe Travers der Hochzeitsgesellschaft schuldig, die mit ihm am Heiligen Abend 25 Jahre später, 2002, in Santa Monica auf die Braut wartet? Antworten gibt Patrick Roth am Montag, 18.12.2023 (18-18:45 Uhr), in einem Gespräch und in einer Lesung seiner Erzählung „Lichternacht“, die alle Interessierten live und im Streaming verfolgen können. Die Lesung findet in der Reihe studio online der Konrad_Adenauer-Stiftung statt (Anmeldung unter: Patrick Roth liest online - Begabtenförderung und Kultur - Konrad-Adenauer-Stiftung (kas.de).
Patrick Roth hat sich seit den 1990er Jahren einen Namen als Autor faszinierender Romane und Erzählungen gemacht, der „von alten Wundern der Menschen so zu erzählen“ weiß, „dass sie uns aufs neue bedrängen“ (so Ruprecht Wimmer in seiner Laudatio auf den Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2003). „Lichternacht“, 2006 erschienen, nimmt im weihnachtlichen Horizont „Bezug auf die Mysterien der Inkarnation und Geburt, auf Liebe, Wandel und Erneuerung“, wie Michaela Kopp-Marx in ihrem Nachwort zu der Erzählung ausführt.
Und was ist 2024?
Von Trost, Mut und Hoffnung handelt einer der schönsten Literaturkalender des neuen Jahres. Unter dem Motto „Augenblicke der Sehnsucht“ hat die Fotografin und Herausgeberin Elisabeth Raabe für den Zürich-Hamburger Verlag Raabe + Vitali Wunschmomente von Dichtern und Denkern festgehalten: Hannah Arendt wünscht sich in New York den Besuch des sperrigen Uwe Johnson, die schottische Erzählerin Nan Shepherd hat Verlangen nach den Cairngorm Mountains, die Romantiker fahnden nach der Blauen Blume, und aus der Moderne kommt der Wunsch nach Heimat, Jugend, Liebe. Eine Alternative zum Tisch- oder Abreißkalender, mit unbekannten Fotos, ausführlichen Bild- und Textinfos, Kurzbiografien ist dieser Band 2024 ein kalendarisches Kleinod.
Gentleman über Bord: ein Tipp, außerhalb des Literaturpreises:
Was macht jemand, wenn er auf einmal keinen Boden mehr unter seinen Füßen hat? Ein New Yorker Börsenmakler, unterwegs auf einem Frachter von Hawaii nach Panama, rutscht frühmorgens auf einem Ölfleck aus und fällt kopfüber in den Stillen Ozean, der seinem Namen alle Ehre macht. Niemand bemerkt es. Henry Preston Standish aber, der in seinem Namen einen der Pilgerväter der „Mayflower“ trägt, nimmt sein Schicksal gentlemanlike hin. Nach und nach entledigt er sich seiner Sporthose, der Jacke, der Weste, der dreißig Dollar teuren Schuhe, sortiert, was er aus seiner Brieftasche braucht, und nutzt eine Socke als Sonnenschutz.
Herbert Clyde Lewis hat eine in hohem Maße merkwürdige Story entwickelt, eine „Komödie ohne Happy End“, wie Jochen Schimmang schreibt, der den Roman aus dem Englischen übersetzt hat. Lewis‘ Kleinod aus dem Jahre 1937 war allzulange verschollen. Der Autor, der als Sportjournalist zwischen Ney York, Shanghai und Hollywood pendelte, war von seinen Zeitgenossen meist unterschätzt worden. Was den Roman so auszeichnet, ist die noble Haltung seines Helden. Während das Frachtschiff langsam am Horizont verschwindet, macht er sich Gedanken über Sein und Zeit, denkt an Schicksalsgöttinnen und Meerjungfrauen, trifft praktische Entscheidungen, schwankt zwischen Wut und Euphorie – und begreift zusehends, dass seine Rettung so gut wie unmöglich ist. Ein lakonischer, existentialistischer Roman über einen, der urplötzlich aus der Gesellschaft fällt.
Michael Braun
Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Hamburg: Rowohlt.
Michael Köhlmeier: Das Schöne. 59 Begeisterungen. München: Hanser.
Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord. Roman. Hamburg: Mare Verlag.
Patrick Roth: Lichternacht. Weihnachtsgeschichte. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag.
Augenblicke der Sehnsucht. Der Literaturkalender 2024. Texte und Bilder aus der Weltliteratur. Zürich, Hamburg: Raabe + Vitali.
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