Artikel 4 des Grundgesetzes ist eindeutig: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ In der Realität jedoch halten sich nicht alle an diesen grundlegenden Bestandteil der deutschen Gesellschaftsordnung. Das zeigte nicht zuletzt der rechtsextremistische und antisemitisch motivierte Anschlag am 9. Oktober 2019. Rabbiner Walter Homolka bewertet „die Vorkommnisse in Halle als eine Zäsur“ für das jüdische Leben in Deutschland. Zwar hätte sich in den letzten zwanzig Jahren „in Deutschland eine beeindruckende Renaissance jüdischen Lebens“ ereignet, doch der zunehmende Antisemitismus bereite ihm und den Juden im Land größte Sorgen: „Die jüdische Gemeinschaft erwartet vom Staat, dass er mit aller Härte gegen die Feinde des Staates vorgeht.“
„Ein großes Problem für alle Religionsgemeinschaften“
Nicht nur Juden leiden unter Angriffen. Über tausend als islamfeindlich eingestufte Straftaten hat das Bundesinnenministerium für 2017 erfasst, 239 Moscheen seien angegriffen worden. Gonca Türkeli-Dehnert beklagt einen Mangel an Religionsfreiheit, wenn sich Menschen überlegen müssten, ob sie ihre Religionszugehörigkeit verstecken müssten. „Angriffe auf offen religiöse Menschen, die zum Beispiel ein Kopftuch tragen“, sind aus ihrer Sicht „ein großes Problem für alle Religionsgemeinschaften“.
„So darf es nicht weitergehen“
In diesem Sinn dürfen auch die knapp 100 christenfeindlichen Straftaten nicht marginalisiert werden. Den Erzbischof von Bamberg, Ludwig Schick, schmerzt es, wenn Kreuze geschändet werden: „Wir alle, die wir zu einer Religion gehören, müssen darauf aufmerksam machen. Es kommt zu einer Verrohung. Die Gewalttaten nehmen zu in allen Bereichen. Wir brauchen eine Neubesinnung auf Respekt und gegenseitige Anerkennung. So darf es nicht weitergehen.“Das 12. Hohenschönhausen-Forum der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und der Konrad-Adenauer-Stiftung widmete sich dem Spannungsverhältnis von Religionen in Diktaturen und liberalem Rechtsstaat. Michael Borchard von der Stiftung will „neben historischen Implikationen auch dem Vergessen entgegenwirken und die Erinnerung an Verbrechen wachhalten“, weshalb das Forum „im Gedenken an die Opfer von Unterdrückung“ sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart beleuchtet. Denn nicht nur habe es früher „massive Einschränkungen“ der Religionsfreiheit gegeben, beklagt Helge Heidemeyer von der Gedenkstätte. Mit dem Erstarken fundamentalistischer Strömungen und mit der „mangelnden Bindekraft der etablierten Religionen“ sei das Verhältnis von Religion und Politik auch zu einer noch greifbareren Herausforderung für liberale Demokratien geworden.
Christliche Kirche zwischen Kommunisten und Faschisten bis 1945
Die Grundlage für die massive Marginalisierung und Zerstörung christlicher Kultur durch kommunistische und sozialistische Regime im 20. Jahrhundert sieht die Kirchenhistorikerin Katharina Kunter bereits bei Karl Marx, denn für ihn „arbeiteten Kirchen aktiv an der Unterdrückung der Arbeiterklasse“. Sein geistiges Erbe bedeutete in der Sowjetunion für viele Millionen Gläubige entweder Haft oder gar das Todesurteil. Kunter zufolge kam es nach der kommunistischen Revolution in Russland zum „systematischen Konflikt zwischen Sowjetregime und Kirche“, „es durfte offen Gewalt angewandt werden“, denn Lenin wollte einen „entscheidenden und gnadenlosen Kampf“ gegen den Klerus: „Je mehr wir erschießen können, desto besser“.
Kommunisten, Sozialisten, aber auch Sozialdemokraten, lehnten Religion als das „Opium des Volkes“ offen ab – was nicht folgenlos blieb.
Unter dem NS-Regime gab es „keine christliche Fundamentalopposition“…
In Deutschland beispielsweise habe nach der Machtergreifung das Vorgehen des Hitler-Regimes gegen Kommunisten katholische Unterstützung für die Nationalsozialisten hervorgerufen, was auch durch ein Zitat von Papst Pius XII. deutlich wird: „Der Hitler ist der erste und einzige Staatsmann, der öffentlich gegen die Bolschewisten spricht.“ Erst als sich die antikirchlichen Maßnahmen des NS-Regimes verstärkten, begann ein „erbitterter Kampf der episkopalen Seite“, so Thomas Brechenmacher.
Der Historiker gab zu bedenken, dass die Reaktionen von Protestanten und Katholiken auf Hitler und den Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 äußerst differenziert betrachtet werden müssten. Er sieht ein „breites Spektrum an Verhaltensweisen“. Eine systematische Opposition sieht der Historiker nicht, weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite: „Aktiver Widerstand blieb Einzelnen vorbehalten, es gab keine christliche Fundamentalopposition.“ Ermutigend findet er trotz allem „Einzelbeispiele und widerständige Haltungen“, ja eine „gewisse Resistenz, die vom Glauben motiviert ist.“
…in Spanien hingegen war die Kirche „Akteur und Profiteur der Diktatur“…
Ein ganz anderes Bild von Kirche in einer Diktatur zeichnete Birgit Aschmann. Im Spanien der Franco-Diktatur habe sich die Katholische Kirche auch aufgrund von „pogromartigen, antiklerikalen Gräueln gegen den Klerus im Sommer 1936“ vollständig in die Hände Francos begeben. Die Kirchenhierarchie sei in den folgenden Jahren „zum Akteur und Profiteur der Diktatur“ und „Garanten der Langlebigkeit des Franquismus“ geworden. Mehr noch, für Aschmann wurde „das Sakrale Identitätsmerkmal des Franco-Faschismus“. Erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe die Katholische Kirche dem Franco-Regime die Unterstützung entzogen – und wurde zur Heimstätte oppositioneller Strömungen. Heute seien Spaniens Gesellschaft „weitgehend säkular“ und der „traditionelle Katholizismus weitgehend leblos“.
… das DDR-Regime reagierte mit „permanenten Übergriffen“ und Vorenthaltungen
Von den ersten Übergriffen auf Pfarrer und Pastoren in der DDR berichtete Christian Halbrock. Den SED-Machthabern waren Kirchenvertreter ein Dorn im Auge, denn sie „wiesen auf gesellschaftliche Missstände hin“, kirchliche Ausbildungsstätten wurden „Sammelorte für kritisches Denken“. Partei- und Staatsmitglieder des Regimes hätte „permanente Übergriffe“ durchgeführt, so Halbrock. Der Staat habe die Kirche durch „Vorenthaltungen von Bauleistungen, Zugängen zu Bildung und Reisemöglichkeiten“ unterdrückt.
Religion und Politik im Spannungsverhältnis in China, Indien, Iran und Lateinamerika
Der Blick auf andere Kontinente zeichnet ein ebenso differenziertes Bild, wie es die historische Perspektive abbildet. In vielen Ländern der Welt wie zum Beispiel in China, Indien, Iran und Lateinamerika scheinen zwar Religionsgemeinschaften an Einfluss gewonnen zu haben, doch in ganz unterschiedlicher Ausprägung. Zudem sahen die Fachleute beim Hohenschönhausen-Forum verschiedene Entwicklungen zwischen Säkularisierungsprozessen einerseits und einer wachsenden Verzahnung von Politik und Religion auf der anderen Seite. In den vier besprochenen Ländern und Regionen scheint Religion schon länger die Politik zu beeinflussen oder es gibt Versuche, den Einfluss entweder zu erweitern, allerdings mit verschiedenen Erfolgsaussichten oder ihn gar, wie im Falle Chinas, staatlich einzuhegen.
„Resakralisierung des öffentlichen Raumes“ in Lateinamerika
In Lateinamerika werden Evangelikale immer politischer und haben beispielsweise Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro zum Wahlsieg verholfen, obwohl sie „stark politisch unterrepräsentiert sind“ und es kein „evangelikales Wahlverhalten“ in Lateinamerikagibt. Was sie aber laut Sebastian Grundberger, Südamerika-Experte und Leiter des Peru-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, eint, sei ihre Haltung in gesellschaftlichen Konflikten wie Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe und Gender-Fragen. Er sieht durch die Aktivitäten der Evangelikalen eine „Resakralisierung des öffentlichen Raumes“.
Homogenisierungsversuche in Indien „unter dem Slogan des Hindutums“
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in Indien ausmachen, wo Hindu-Nationalisten den Hinduismus zur Staatsreligion erhöhen wollen. Clemens Jürgenmeyer zufolge versuchen sie, die „multireligiöse Gesellschaft zu homogenisieren, unter dem Slogan des Hindutums“ – Christen und Muslime sollen an den Rand gedrängt werden. Allerdings sieht der Politologe keine großen Erfolgschancen, denn es gebe – neben anderen Gründen – „keine grundlegende Schrift, keine Pilgerziele, die für alle verbindlich wären, keinen Korpus von Schriften mit zentralen Glaubenslehren, keine Form von Amtskirche.“
China in kaiserlicher Tradition: „Der Staat führt, die Religionen folgen“
Auch der große Nachbar China „war immer multireligiös“, resümiert Katharina Wenzel-Teuber. Die kommunistische Volksrepublik versuchte zwar immer „Religion einzudämmen und zu kontrollieren“, habe aber über Jahrzehnte hinweg eine „relativ lockere Religionspolitik betrieben“ und Grauzonen zugelassen, so die Sinologin. In den letzten Jahren allerdings sei die „Atmosphäre repressiver geworden“. Die Kommunistische Partei fühle sich als „Patronin der Religionen“, wolle sie sich einverleiben und diese sollten dem Staat dienen: „Der Staat führt, die Religionen folgen.“ Diese Doktrin gehe nach Wenzel-Teuber auf das historische Prinzip zurück, demzufolge der Kaiser entschied, „welche Religion dem Staat gut tut und welche Religion erlaubt ist.“ Jetzt sollen die Religionen „sich der chinesischen Kultur und dem heute existierenden China anpassen“, sich „sinisieren“. Das bedeutet für Wenzel-Teuber: „Die Freiräume werden enger.“
„Der Iran hat die prowestlichste Gesellschaft des Nahen Ostens“
Eine Analyse mit eher überraschenden Erkenntnissen kam vom Brookings-Experten Ali Fathollah-Nejad. Im Iran hatte sich nach der Revolution 1979 der Islamismus als „alleinige vom Staat sanktionierte Strömung“ durchgesetzt. Doch der Politologe erkennt in den letzten Jahren einen „Prozess der Säkularisierung der Gesellschaft“ – wohlgemerkt nicht des Staates: Von Formen des zivilen Ungehorsams, Frauen, die kein Kopftuch tragen, und Angriffen auf den islamischen Klerus berichtet er: „Klerikal gekleidete Menschen werden immer öfter angegangen.“ Zudem sei „flächendeckend“ zu beobachten, dass weniger Menschen in die Moscheen gingen. Sein Fazit: „Der Iran hat die prowestlichste Gesellschaft des Nahen Ostens“. Seine Prognose: „Das hat Konsequenzen.“
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