"Das Massaker des 7. Oktober sprengt jedes Vorstellungsvermögen" - damit eröffnete Prof. Dr. Norbert Lammert unsere Konferenz "TACHELES: Israel und Deutschland. Ein Jahr nach dem 7. Oktober". Die Stiftung habe seit dem Oktober 2023 über 100 Veranstaltungen durchgeführt zum Thema Antisemitismus – dies sei aber trotzdem noch nicht genug. Er untermauerte dies mit einem Zitat von Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger, Elie Wiesel: "Gleichgültigkeit ist nicht erlaubt." Lammert verdeutlichte in seiner Eröffnungsrede: "Wir haben es mit drei Tragödien gleichzeitig zu tun. Erstens, die Herausforderung des Existenzrechts Israels. Zweitens, die schwer erträgliche humanitäre Situation in Gaza und im Libanon und drittens der wiederaufflammende Antisemitismus."
Gemeinsam mit dem AJC Berlin, der Deutsch-Israelische Gesellschaft, ELNET, dem Tikvah Institut und der Alfred Landecker Stiftung begrüßten wir über 600 Gäste, Menschen aus Israel und Deutschland, eine Schulklasse vom jüdischen Gymnasium und zahlreiche Studierende, um ein Zeichen gegen Judenhass und Antisemitismus zu setzen.
Ron Prosor zu Gast
Beim Abschlusspanel begrüßte Prof. Dr. Norbert Lammert stellvertretend für den ehemaligen Staatspräsidenten von Israel, Reuven Rivlin, der krankheitsbedingt nicht nach Berlin kommen konnte, den Botschafter von Israel in Deutschland, Ron Prosor. Reuven Rivlin betonte in einer kurzen Videobotschaft, dass Antisemitismus nicht etwas sei, was sich nur gegen Jüdinnen und Juden richtet, sondern gegen die Menschlichkeit. Deshalb gelte: "Never again is now!" Im Anschluss gab Ron Prosor einen Impuls. Er verdeutlichte darin, Israel befinde sich seit dem 7. Oktober "in einem Post-Trauma". Er betonte, die Bekenntnisse zu Israels Sicherheit dürften keine leeren Worte bleiben. Der Botschafter und unser Vorsitzender debattierten anschließend in einem Gespräch, das von der Journalistin Anke Plättner moderiert wurde. Lammert sprach sich dafür aus, beim Wiederaufbau von Gaza zu unterstützen, jedoch nur dann, wenn es davor eine Friedensordnung gebe. Ron Prosor forderte: "Die einzige Seite, auf der Deutschland stehen kann, ist die Israels – das muss man noch mehr in die Tat umsetzen."
Panel "TACHELES: Worüber wir reden müssen"
Im ersten Panel des Tages betonte Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Politik bekämpfe Antisemitismus "relativ gut". Er könne aber nachvollziehen, dass es für die Ermittlungsbehörden "zunehmend schwierig wird, den Judenhass zu bekämpfen.". Der Begriff "Staatsräson" bedeutet aus Schusters Sicht, für Israel einzustehen. "Das, was ich zum Beispiel im Abstimmungsverhalten in der UN von Deutschland sehe, ist mit dem Begriff der Staatsräson nicht mehr kompatibel." In politischen Debatten höre er in letzter Zeit zu oft ein "Ja, aber" - und das mache ihm Sorgen. Für ihn spiele es keine Rolle, ob Antisemitismus islamistisch-, rechts-, links-motiviert ist oder aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Für Dr. Felor Badenberg, Senatorin für Justiz und Verbraucherschutz von Berlin, die auch im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung sitzt, ist es eine Schande, "dass jüdische Einrichtungen in der heutigen Zeit geschützt werden müssen". Mit Blick auf die Debatte um eine Antisemitismusklausel betonte sie: "Keine Finanzierung von Verfassungsfeinden mit staatlichen Mitteln." Moderiert wurde das Panel von Carsten Ovens von ELNET. Er stellte die Frage in den Raum: "Wie erreichen wir junge Menschen, die vor allem auf TikTok unterwegs sind?". Sich hiermit zu beschäftigen sei eine wichtige Aufgabe der politischen Bildung in der Arbeit gegen Judenhass. "Es reicht nicht, einmal im Jahr "Schindlers Liste" zu schauen", ergänzte Badenberg.
Panel "TACHELES: Antisemitismus in Kultur und Gesellschaft"
Wie stark ausgeprägt ist Antisemitismus im Kulturbetrieb und an deutschen Universitäten? Diese Frage stellten sich im zweiten Panel Joe Chialo, Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes Berlin, Hanna Esther Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe Instituts, und Deniz Yücel, Journalist und Publizist unter der Moderation von Remko Leemhuis, Direktor des AJC Berlin. "Eine Stadt wie Berlin, die ein Raum für Freiheit ist, ist eher zu einem Raum der Schmerzen geworden", stellte Joe Chialo fest. Seit vielen Wochen steht er selbst im Visier pro-palästinischer Aktivisten. Kürzlich wurde sein privates Wohnhaus mit Gewaltaufrufen beschmiert. Auch Hanna Esther Veiler berichtete: "Die Frage, ob ich als junger jüdischer Mensch hier eine Zukunft habe, wird seit dem 7. Oktober immer stärker gestellt." Sie rief gleichzeitig zu mehr Solidarität auf: "Jüdinnen und Juden können diesen Kampf nicht allein führen." Kontrovers diskutiert wurde die Antisemitismusklausel, die von Joe Chialo vorangetrieben wurde: "Steuergelder dürfen Antidemokraten nicht zur Verfügung gestellt werden", machte Chialo deutlich. Welt-Journalist Deniz Yücel, der zugleich Co-Sprecher von Pen Berlin ist, betonte, es brauche "eine präzise Bestandsaufnahme, wo es Probleme gibt, beispielsweise an den Unis". Die Einschätzung vom "Schweigen des Kulturbetriebs" teile er allerdings nicht, es habe frühzeitig viele klare Stellungnahmen gegeben. Die globale Perspektive brachte Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, in die Diskussion ein. Für ihn ist eine wesentliche Aufgabe des Instituts, den Dialog weiterzuführen. Es müsse erklärt werden, welche Position Deutschland in dieser Situation einnimmt. Außerdem müsse mit Menschen gesprochen werden, die Israel und Deutschland anders sehen als wir. Ebert sprach sich auch gegen eine Antisemitismusklausel aus, die nur zu einer Verunsicherung von Institutionen vor Ort und im Ausland führen würde.
Panel "TACHELES: Wie der 7. Oktober Israel verändert hat"
Welche Folgen hatte der Angriff der Hamas für die israelische Gesellschaft? Darüber diskutierte das dritte Panel. Ricarda Louk, deren Tochter Shani am 7. Oktober 2023 beim Nova-Festival von Terroristen ermordet wurde, machte deutlich: "Das ganze Jahr war ein Gedenktag. Wir sind immer noch mittendrin. Nichts ist vorbei." Für Volker Beck, Geschäftsführer des Tikvah Instituts und Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, ist die Frage nach der Sicherheit Israels zentral: "Wenn man sich zu Israel bekennt und dazu steht, muss man auch danach handeln." Er stellte klar: "Man kann Israels Sicherheit nicht vertreten, ohne jemandem auf die Füße zu treten". Dr. Melody Sucharewicz, Beraterin für politische Kommunikation und Strategie, stimmte ihm zu: "Der Kampf geht weiter. Es sind immer noch 101 Geiseln in der Hand der Hamas. Wir wissen, dass Israel nicht nur für Israel kämpft, sondern für die gesamte freie Welt." Israel stecke in einem unlösbaren Interessenskonflikt: Einerseits habe die Regierung die Pflicht, die Geiseln zu befreien, andererseits müsse man die Zivilbevölkerung schützen.
Kunst und interaktive Workshops
Neben den Panel-Diskussionen fanden verschiedene thematische und interaktive Workshops statt. Zudem gab es verschiedene kulturelle Aktivitäten. In einem Graffiti-Workshop gestalteten Schülerinnen und Schüler des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn zusammen mit Mark Marquardt ("Akte One") eine Leinwand mit Hoffnungen und Zukunftswünschen zum Thema Antisemitismus und präsentierten diese anschließend in der Akademie.
Dass der 7. Oktober 2023 eine Zäsur war, zeigten auch die Bilder der Fotografin Halina Hildebrand, die im Foyer unserer Akademie zu sehen waren. Darauf zu sehen: Zerstörte Wohnhäuser, aufgetürmte Autowracks, Menschen mit leeren, ohnmächtigen Gesichtern – Momentaufnahmen aus einem verwundeten Land. In ihrem berührenden Vortrag sprach sie über die Hintergründe ihrer Ausstellung und ihre Begegnungen vor Ort.
Welche antisemitischen Mythen gibt es? Und was ist die Geschichte dahinter? Darüber sprachen der Historiker Prof. Dr. Thomas Brechenmacher von der Universität Potsdam und Deidre Berger vom Tikvah Institut in einem Workshop. Brechenbacher verdeutlichte den Zusammenhang zwischen Zionismus und Antisemitismus, ging auf die Gründung Israels ein, die Zweistaatenlösung, auf Aspekte des Holocausts sowie auf die Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus. Deidre Berger äußerte sich zu sozioökonomischen Antisemitismusstereotypen, zu Juden im US-Wahlkampf und Kolonialismus-Vorwürfen.
Die Landecker Foundation präsentierte in ihrem Workshop, moderiert durch Lena Altmann (Co-CEO), eine Bilanz über die Erfassung von antisemitischen Vorfällen und die Beratung von Opfern seit dem 7. Oktober. Beides sei auf einem Rekordhoch (5.000 antisemitische Fälle in 2023; ein Anstieg um 50 Prozent zum Vorjahr laut RIAS). Benjamin Steinitz, Geschäftsführer Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, und Marina Chernivsky, Leiterin Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung sowie Geschäftsführerin von OFEK, informierten über aktuelle Herausforderungen und die Bedarfe der Meldestellen und Opferberatung. Der hohe Anstieg von antisemitischen Vorfällen sei u. a. auf den 7. Oktober zurückzuführen, da im Nachgang von bestimmten Gruppen "konkret zu Gewalt gegen Juden in Deutschland aufgerufen wurde", so Steinitz.
Einblicke in ihr Alltagleben gaben jüdische Studierende im Worskshop "Kein Safe Space?". Dabei berichteten sie von konkreten antisemitischen Angriffen, die sie selbst erlebt haben. Diese beinhalten verbale Attacken, aber auch körperliche Angriffe. Sichtbar wurde, dass es an vielen Universitäten in Deutschland keinen "sicheren Raum" gibt und jüdische Studierende aktuell teilweise sogar mit Personenschutz Vorlesungen besuchen müssen.
Prof. Dr. Norbert Lammert bedankte sich zum Abschluss für die große Resonanz vor Ort. Mit der Veranstaltung habe man den Nachweis geführt, "in schwierigen Situationen und Zeiten friedlich Tacheles zu reden", denn: "Gleichgültigkeit ist nicht erlaubt."
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