Die Polen haben mehrheitlich und eindeutig für den Machtwechsel votiert. Sie haben sich damit gegen eine weitere Aushöhlung der polnischen Demokratie ausgesprochen, wie sie seit 2015 über zwei Legislaturperioden hinweg (manifestiert vor allem in der faktischen Unterwerfung der öffentlich-rechtlichen Medien und der vielfach international verurteilen Reform des polnischen Justizwesens) vorangetrieben wurde.
Die PiS kam laut amtlichem Endergebnis auf einen Stimmenanteil von 35,38 %. Sie wird damit die stärkste Fraktion im neuen Sejm bleiben, wobei politische Abspaltungen nicht auszuschließen sind. Daneben erreichte die rechtsextreme Antisystempartei Konfederacja Wolność i Niepodległość (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit, kurz: Konföderation) überraschend nur 7,16 %. Das heterogene Bündnis aus Ultakonservativen, Nationalisten, Euroskeptikern, Libertären und Russlandfreunden unter Führung des jungen Duos um Sławomir Mentzen und Krzysztof Bosak galt im Vorfeld der Wahl vielfach als Königsmacher, da die prognostizierten Zustimmungswerte lange im zweistelligen Bereich lagen.
Durchgesetzt haben sich am 15. Oktober 2023 die liberal und proeuropäisch orientierten Parteien der Opposition, die ein ideologisch und thematisch weites Spektrum umfassen. Donald Tusk – ehemaliger polnischer Ministerpräsident (2007–2014), früherer EU-Ratspräsident (2014–2019) und seit 2021 erneut Parteivorsitzender der Bürgerplattform – führte die liberal-konservative Bürgerkoalition als stärkste politische Kraft des demokratischen Spektrums zu 30,7 %. Der sogenannte Dritte Weg ein wahlstrategischer Zusammenschluss der konservativen Traditionspartei PSL unter Vorsitz von Władysław Kosiniak-Kamysz und der jungen konservativ-liberalen Partei Polska 2050 unter Leitung des ehemaligen Journalisten und Fernsehmoderators Szymon Hołownia, erreichte überraschend deutliche 14,4 %. Die sozialdemokratische Lewica, die ihre Liste für die noch linkere Razem-Partei geöffnet hatte, konnte 8,61 % der Stimmen auf sich vereinigen.
Im polnischen Sejm, dem nach der Verfassung 460 Abgeordnete angehören (Regierungsmehrheit bei 231 Stimmen), wird die bisherige demokratische Opposition in der kommenden Legislatur somit über die deutliche Mehrheit von insgesamt 248 Mandaten verfügen (KO 157; TD 65; Lewica 26). Auf die PiS entfallen 194 Sitze, auf die Konföderation 18 Mandate. Die deutsche Minderheit konnte keinen Sitz im Parlament errinngen und ist erstmals seit 1991 nicht im Parlament vertreten.
Und auch im Senat, der zweiten Kammer, die 100 Senatorensitze umfasst, wird die demokratische Opposition eine klare Mehrheit haben: Auf den sogenannten „Senats-Pakt“, zu dem neben der KO, dem Dritten Weg und der Lewica hier auch unabhängige Kandidaten zählen, entfallen 66 Sitze; Recht und Gerechtigkeit hingegen hält die übrigen 34 Mandate.
Deformation der Demokratie, schmutziger Wahlkampf und zivilgesellschaftliches Aufbegehren
Wesentliche Faktoren für die unerwartet hohe Wahlbeteiligung und den dadurch möglich gewordenen klaren Sieg der demokratischen Kräfte liegen in der Wahlkampfführung der PiS, der Anstand, Respekt und Niveau vermissen ließ und in der Frustration vieler Wähler mit Blick auf den spürbaren Machtmissbrauch durch die noch amtierende Regierung. Polen hat seit Jahren mit einer gesellschaftlichen Polarisierung zu kämpfen, die durch die PiS stetig weiterbefördert wurde. Die Unsicherheit des Wahlausgangs, vielfach beschrieben als „Schicksalswahl“ um den Fortbestand der Demokratie vs. die Sicherung letzter nationaler Souveränität in Europa, hat die Bürger wie nie zuvor emotionalisiert. Dies war gepaart mit einer stillosen Wahlkampagne der PiS, die geprägt war durch persönliche Angriffe auf Donald Tusk, das Ausmalen dramatischer gesellschaftlicher Zukunftsszenarien vor dem Hintergrund eines vermeintlich unkontrollierten Migrationszustroms aus Afrika bzw. Nahost sowie einer behaupteten Hegemonie Deutschlands und der EU über Polen. Doch die von PiS beabsichtigte Wirkung einer klassischen Negativkampagne hat sich mit Blick auf die in ihrem Ausmaß noch gesteigerte Resonanz zugunsten der demokratischen Opposition unter Jungwählern, Frauen und Unentschlossenen sowie in den liberalen Großstädten und westlichen Regionen Polens in ihr Gegenteil verkehrt. Die zugunsten der PiS ebenfalls beachtlich starke Mobilisierung älterer Wählergruppen in ländlichen Gebieten sowie unter Landwirten und so genannten Identitätswählern vermochte dies für die Regierungspartei nicht auszugleichen. Und bei genauem Blick auf alle unterschiedlichen Altersgruppen in der Wählerschaft vermag die PiS nur unter den Älteren ab 60 Jahren die Spitze zu behaupten. Beobachter kommentieren daher, dass die PiS ihre eigenen Wahlaussichten überschätzt, den Trend der letzten Tage vor der Wahl strategisch unterschätzt und ihre „Karten“ schlicht überreizt hat.
Die PiS sicherte sich im Kampf um Wählerstimmen Unterstützung von öffentlich-rechtlichen Medien, während der Energiekonzern Orlen (unter der Leitung des PiS-Aktivisten Daniel Obajtek) künstlich Treibstoffpreise senkte. Unternehmen wie PGE und PKO BP führten Werbekampagnen durch, die stark an die Wahlslogans der PiS erinnerten. Gleichzeitig senkte die Polnische Nationalbank NBP die Zinssätze, um zu zeigen, dass die Regierung die Inflation besiegt habe. Viele Bürger sahen darin offensichtlich, dass die Regierung ihren institutionellen und finanziellen Vorteil mit mindestens illegitimen Mitteln ausspielte. Als schlicht unfaires Mittel zur Wählerbeeinflussung wurde zudem das parallel zu den Wahlen durchgeführte Referendum der Regierung dechiffriert; als offenkundig intendiert, Ängste zu schüren vor der vermeintlich drohenden Wiederkehr einer KO-geführten Regierung Tusk, diese befördere den Ausverkauf polnischen Staatsvermögens, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Aufnahme tausender illegaler Einwanderer und die Beseitigung des Grenzzauns zu Belarus. Die klare Mehrheit der Bürger wies diese Form der Volksabstimmung zurück. Im Ergebnis nahmen nur 40,91 %, d. h. weit weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, am Referendum überhaupt teil, das damit das gesetzlich notwendige Quorum verfehlte und keine Wirksamkeit entfaltet. Schon in den Tagen vor der Wahl spielte das Referendum aufgrund der Visa-Affäre im Außenministerium eine untergeordnete Rolle und in der Wahlnacht war in Berichterstattung wie politischen Statements praktisch vergessen.
Wichtig weitere Thema wie eine vor den Wahlen sich andeutende Regierungsmüdigkeit, die breite Enttäuschung der Bürger gegenüber der Vereinigten Rechten angesichts des Missmanagements betreffend die Pandemie und die hohe Inflation, sowie die Häufung von Skandalen der Regierung sogar noch unmittelbar in der Woche vor dem Urnengang, haben ebenfalls zum Nachteil der PiS gewirkt. Dies ging einher mit der zuletzt stetig sinkenden Zustimmung für die Konföderation. Diese wusste finanziell wie personell nicht zu bestehen und büßte durch gezielte, inhaltliche Angriffe seitens der PiS, der Lewica und dem Dritten Weg die Hälfte ihres Wählerpotentials, wie es sich im Sommer in Umfragewerten von 13 % gezeigt hatte, ein. Das Image einer dritten Kraft gegenüber dem „Duopol“ PiS-KO sowie den traditionellen Parteien verlor sie dadurch an den Dritten Weg. Ganz anders die Opposition: Dieser gelang die Wählermobilisierung weit über die eigenen Anhängerschaft hinaus: etwa durch den öffentlichkeitswirksamen „Marsch der Millionen Herzen“ am 1. Oktober, die verstärkte Adressierung der Frauen als wichtiger Wählergruppe, sowie das Versprechen, die durch PiS zugesagten Sozialleistungen nach den Wahlen nicht zu kürzen, sondern im Gegenteil selbst fortzusetzen.
Die Folge all dieser Faktoren war eine ungeahnte Mobilisierung im Land und die für Polen nun historisch höchste Wahlbeteiligung von 74,38 %. Unterstrichen wird die Bedeutung dieser Zahl dadurch, dass sie höher liegt als Werte vorausgegangener Stichwahlen anlässlich von Präsidentschaftswahlkämpfen. Auch die Beteiligung der im Ausland lebenden Polen waren immens hoch. Es ist jedoch noch ein zusätzlicher, vielleicht sogar entscheidender Faktor zu nennen, der eine Mehrheit von KO, dem Dritten Weg und der Lewica ermöglicht hat: Anders als zuvor in Ungarn oder auch der Türkei trat die demokratische Opposition in Polen nicht als Einheitsliste zur Wahl an. Der Schlüssel zum Erfolg lag offensichtlich darin, dass die vier Parteien – KO, PSL, Polen 2050 und Linke – dem Wähler gegenüber den Verfechtern von autoritärer Macht und antidemokratischem System eine breite Wahlmöglichkeit boten. Diese reichte von einer ehemaligen Regierungspartei wie der Bürgerplattform bis zu einem relativ neuen parteipolitischen Player und „Außenseiter“ in Form von Polen 2050.
Neue Koalition nur mit Drittem Weg (TD)
Trotz allem ist die bisherige Regierungspartei PiS bemüht sich als Wahlsieger zu präsentieren und beruft sich auf das Faktum, die meisten Stimmen eingefahren zu haben. Da sie jedoch ihre absolute Mehrheit im Parlament deutlich verloren hat, wäre sie auf Koalitionspartner angewiesen. Noch am Wahlabend sprach Premierminister Morawiecki davon, seine Partei sei bereit, mit allen zu sprechen. Darunter ist jedoch weniger eine Bereitschaft zu Sondierungsgesprächen mit anderen Parteien zu verstehen. Vielmehr besteht die Hoffnung, Abgeordnete anderer Parteien auf die Seite der PiS zu ziehen, um dieser dann zu einer Mehrheit zu verhelfen. Zwar sind Fraktionswechsel im polnischen Parlamentsbetrieb in der Vergangenheit sehr viel häufiger vorgekommen als in Deutschland, jedoch erscheint es als utopisch, dass Recht und Gerechtigkeit zusätzliche 37 Abgeordnete überzeugen könnte. Eine befürchtete Koalition der PiS mit der Konfederacja bleibt ebenso aus. Beide Gruppierungen verfügen im Sejm über keine Mehrheit. Die Konfederacja betonte bereits vor der Wahl, kein Bündnis mit der PiS einzugehen, und hat diese Aussage nun nach der Wahl auch wiederholt.
Rechnerisch könnte der PiS nur die Partei Dritter Weg zur Macht verhelfen. Dementsprechend hat Recht und Gerechtigkeit in den ersten Stunden und Tagen nach der Wahl versucht, den Vertretern der PSL sowie von Polska2050 Avancen für eine Regierungsbildung zu machen. Insbesondere die PSL hatte in der Vergangenheit den Ruf der Beliebigkeit, denn sowohl mit den aus der Solidarność hervorgegangenen Kräften (1989-91, 1997-2001) als auch mit den Postkommunisten (1993-1997) regierte sie bereits. Die Verzweiflung dieses Vorhabens zeigt sich bereits darin, dass die PiS bereit wäre, der PSL den Posten des Regierungschefs zu überlassen, die Hälfte der Ministerien sowie wichtige Posten in staatlichen Unternehmen. Die PiS forciert damit den Machterhalt. In den Tagen unmittelbar nach der Wahl haben aber sowohl der Vorsitzende der PSL, Kosiniak-Kamysz, als auch der Vorsitzende von Polska2050, Szymon Hołownia, sowie weitere hochrangige Politiker des Dritten Weges eine Koalition mit der PiS entschieden abgelehnt. Der PiS bieten sich damit keine realistische Machtoption.
Somit bleibt als einzige Option und auch als wahrscheinlichstes Szenario die Bildung eines Dreier-Bündnisses aus den Fraktionen der KO, TD und der Linken. Zwar handelt es sich um eine Koalition, die insgesamt aus 10 Parteien bestehen würde, jedoch hat sich die Zusammenarbeit schon im sogenannten Senatspakt bewährt. Natürlich fordert eine Regierungszusammenarbeit die drei Wahllisten zu parteipolitischen Kompromissen, gleichzeitig sind wichtige Aufgaben offenkundig. Es gilt, als wichtigstes Element, den Rechtsstaat in Polen wiederherzustellen. Überdies muss das staatliche Fernsehen TVP, das der PiS als Propagandamittel diente, wieder in ein öffentliches Fernsehen mit journalistischem Ansatz umgewandelt werden. Während diese Themen konsensual sind, zeigten sich in den letzten Tagen erste weltanschauliche Unterschiede. So betonte der PSL-Vorsitzende Kosiniak-Kamysz, dass es mit seiner Partei keine allzu starke Liberalisierung des Abtreibungsrecht geben würde, wie sie die Linke, aber auch die KO fordern. Auch in sozialpolitischen Fragen, insbesondere der Rentenfrage, und in der Steuerpolitik zeichnen sich erste Unstimmigkeiten zwischen den drei Partnern ab.
Die PiS spekuliert, aus möglichen Bruchstellen, könnten alsbald inhaltliche Brüche werden, noch bevor die Koalition überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hat. Die möglicherweise in einigen Sachfragen schwierigen Koalitionsverhandlungen, insbesondere aber die späteren Regierungsgeschäfte bedürfen vor allem eines erfahrenen Regierungschefs. Dies spricht vor allem für Tusk als Premierminister. Nüchtern betrachtet wurde allein aufgrund seiner persönlichen Leistung dieser Wahlsieg erst möglich, was sämtliche Wettbewerber oder Kritiker hat verstummen lassen. Der beliebte Stadtpräsident von Warschau, Rafał Trzaskowski, wird im April 2024 erneut bei der Kommunalwahl antreten. Gleichzeitig werden Trzaskowski weiterhin Ambitionen für die Wahlen zum Staatspräsidenten im Jahre 2025 nachgesagt. Damit gilt eine dritte Amtszeit von Donald Tusk als Premierminister als wahrscheinlich. Die beiden Koalitionspartner Dritter Weg und die Linke werden neben verschiedenen Ministerposten insbesondere auf den Posten des Parlamentspräsidenten, des Sejm-Marschall schielen.
Regierungsbildung bis Weihnachten möglich
Wie kann nun eine neue Regierung in den nächsten Wochen formal zustande kommen? Eine zentrale Rolle fällt hierbei Staatspräsident Andrzej Duda zu. Spätestens 30 Tage nach dem Wahltermin muss das Staatsoberhaupt den Sejm zur konstituierenden Sitzungen einberufen. Dem Anschein nach wird Duda diese Frist vollends ausnutzen und den ersten Sitzungstag nach dem Nationalfeiertag am 11. November auf den 13. oder 14. legen. Die polnische Verfassung sieht vor, dass die derzeitige Regierung in der ersten Sitzung des neuen Sejms zurücktreten muss. Der Staatspräsident muss in unmittelbarer Folge einen neuen Premierminister ernennen. Da die bisherige Opposition ihm bereits signalisiert, dass sie über eine gemeinsame Mehrheit im Parlament verfügt, wäre es naheliegend, dass Duda einen von dieser neuen Mehrheit vorgeschlagenen Kandidaten zum Premierminister ernennt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er zunächst erneut Morawiecki mit der Regierungsbildung betrauen wird. Er wird dies öffentlich damit begründen, dass die PiS aus der Wahl als stärkste Kraft hervorgegangen ist. Faktisch hilft es der Partei dann den Machtverlust hinauszuzögern und so die Ministerien auf den Regierungswechsel vorzubereiten.
Der ernannte Regierungschef hat dann 14 Tage Zeit, eine Mehrheit im Parlament zu finden und sich einer Vertrauensfrage zu stellen. Im wahrscheinlichen Fall, dass Duda einen Premier aus den Reihen der PiS ernennt, wird der Sejm diesem nicht das Vertrauen aussprechen. Der späteste Zeitpunkt für diese Vertrauensfrage wäre der 28. November, wobei davon auszugehen ist, dass die PiS auch diese Frist vollends auszunutzen wird. Unmittelbar nach dem Scheitern dieser Vertrauensfrage wird die Initiative an das Parlament übergehen. Das Parlament hat 14 Tage Zeit, einen Kandidaten mit absoluter Mehrheit der anwesenden Abgeordneten zum Premierminister zu wählen. Wahrscheinlich ist, dass eine Koalition aus KO, TD und Linke in diesem Schritt einen Premierminister wählen werden. Polen hätte dann spätestens Mitte Dezember einen neuen Regierungschef.
Würde dieses Vorhaben unerwartend scheitern, ginge die Initiative erneut an den Staatspräsidenten über und er hat 14 Tage Zeit, um einen neuen Premierminister zu ernennen, der sich dann wieder der Vertrauensfrage im Sejm stellen muss. Bei diesem Schritt wählt der Sejm die Regierung bereits mit einfacher Mehrheit in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl. Gelingt es auch im dritten Anlauf nicht, wäre Duda dazu gezwungen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen einzuleiten.
Ein weiterer (wenn auch einstweilen theoretischer) Schritt, wie die PiS Neuwahlen einleiten könnte, ist die Haushaltsfrage. Zwar hat die PiS-Regierung im September einen Haushalt für 2024 verabschiedet, eine neue Regierung muss jedoch einen neuen Haushalt vorlegen. Danach hat das Parlament vier Monate Zeit, diesen neuen Haushalt zu verabschieden. Allerdings besteht eine Unklarheit in der Verfassung, da nicht festgelegt ist, ab welchem Zeitpunkt die vier Monate berechnet werden sollen: ab dem Tag, an dem die scheidende Regierung den Entwurf vorgelegt hat (also September), oder ab dem Tag, an dem der neue Entwurf nach den Parlamentswahlen eingereicht wird. Die Mehrheit der Verfassungsrechtler argumentiert, dass die Frist ab dem Datum des neuen Entwurfs beginnt. Daher könnte Präsident Andrzej Duda den Sejm nicht auflösen, wenn der Haushalt nicht bis Ende Januar vorgelegt wird. Duda hingegen könnte dieser Interpretation nicht folgen. Dann hätte eine neue Regierungskoalition über die Weihnachtspause hinweg nur wenige Wochen, um ein Budget für 2024 zu verabschieden.
Die nächsten Wochen und Monate werden demnach in Polen außerordentlich spannend. Die Regierungsbildung wird nicht leicht sein – insbesondere auch deshalb, weil Staatspräsident Duda und die PiS kein Interesse an einem reibungslosen Regierungswechsel haben. Unlängst zeigte Duda mit der wahrscheinlich verfassungswidrigen Nominierung von 72 neuen Richtern am Tag der Verkündung des amtlichen Endergebnisse, dass er trotz veränderter politischer Umstände scheinbar zu keiner Kurskorrektur bereit ist. Eventuell ist damit zu rechnen, dass die PiS alle Register ziehen wird, um den Machtverlust abzuwehren. Sowohl das Oberste Gericht (Wahrer über die Gültigkeit der Parlamentswahlen) als auch die Wahlleitung sind weiterhin in ihrer Hand. Es bleibt abzuwarten, ob sich die PiS mit ihrer Niederlage abfinden wird oder in trumpistischer Manier agiert. Sollte der Machterhalt nicht gelingen, wird die PiS zumindest versuchen, den Machtverlust hinauszuzögern. Theoretisch wäre es der PiS möglich, die Wahl vor dem von ihnen kontrollierten Obersten Gericht anzufechten und dann Neuwahlen einzuleiten. Es ist jedoch möglich, dass die PiS aus Neuwahlen nicht mehr als stärkste Kraft hervorgehen könnte. Schon jetzt machen sich erste Zerfallserscheinungen bemerkbar. So denkt der kleinere Partner der PiS, Souveränes Polen, derzeit über eine eigene Fraktion nach. Gleichzeitig gibt es in der PiS erste Stimmen, die einen Machtwechsel an der Spitze der Partei fordern.
Folgen für die Außenpolitik
Sollte die demokratische Opposition tatsächlich die kommende Regierung stellen, würde der Weg geebnet für einen Neustart der polnisch-europäischen wie polnisch-deutschen Beziehungen. Die Außenpolitik der PiS, die seit 2015 darauf abzielte, durch Formate wie der Visegrád-Gruppe (V4) oder der Drei-Meer-Initiative (3SI) die Rolle Polens als regionale Führungsmacht in Mittelosteuropa (MOE) zu etablieren, und die aufgrund divergierender Interessen der beteiligten Partner sichtbar gescheitert ist, wäre Geschichte.
Erster Anknüpfungspunkt einer neuen Regierung blieben freilich eine starke Bindung an die - traditionell als sicherheitspolitische Garantiemacht verstandenen - Vereinigten Staaten, unabhängig davon wer im November 2024 bei den US-Wahlen triumphieren wird. Auch die NATO wird ein Fixpunkt polnischer Außen- und Sicherheitspolitik bleiben. Ob sich Warschau von einem Zentrum der Aufmerksamkeit infolge des Ukraine-Krieges wirklich zu einem Gravitationszentrum europäischer Sicherheitspolitik entwickelt, bleibt einstweilen abzuwarten. Alle Bemühungen Warschaus die sicherheitspolitische Resilienz zu erhöhen, werden auch unter einer neuen Regierung erhalten bleiben.
Zutreffend ist, dass mit dem Krieg an der polnischen EU-Außengrenze enorme Herausforderungen, zugleich aber auch große Chancen für eine neue, europaorientierte Regierung in Warschau einhergehen. Diese wird bemüht sein, in enger Partnerschaft mit europäischen Verbündeten die eigene Position als Frontstaat deutlich zu machen und verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die rein wahlstrategisch motivierte, in den vergangenen Wochen überzogen zur Schau gestellte Entfremdung in den Beziehungen zu Kiew wird voraussichtlich vorübergehender Natur gewesen sein. Die Integration und Sicherheit der Ukraine als politischer und wirtschaftlich souveräner Nachbar und Partner liegt im polnischen wie deutschen Interesse. Die neue Regierung in Warschau wird mittelfristig allerdings mit der Herausforderung umgehen müssen, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine – nicht zuletzt mit Blick auf Agrarsubventionen aus Brüssel und die bisherige Stellung Polens als größtem Netto-Empfänger innerhalb der EU – Interessen des eigenen Landes tangiert.
Ferner besteht die Möglichkeit, das brachliegende Format des Weimarer Dreiecks zu institutionalisieren und mit konkreten trilateralen Projekten wiederzubeleben, da die vollzogene Neuausrichtung der französischen Außenpolitik unter Präsident Macron diese Option neu eröffnet. In diesem Zusammenhang wird eine neue polnische Regierung aus den Reihen der aktuellen Opposition innerhalb der EU zu Fragen der Erweiterung und zum Mehrheitsprinzip im Rat rasch strategisch Stellung beziehen müssen, gerade weil Polen schon turnusgemäß mehr Verantwortung in Brüssel tragen wird. Anfang 2025 wird Warschau die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Zu Polen direkt betreffenden Themen wie der polnische Justizreform, der Auszahlung der europäischen Gelder aus dem Wiederaufbaufond sowie der Migration-Frage wird sich die neue Regierung schnellstmöglich positionieren müssen. Auch wird es spannend sein zu sehen, ob in die Debatte betreffend Art. 7 EUV (Schutz der europäischen Grundwerte) neue Dynamik kommt, denn eine demokratische, europafreundliche Regierung in Polen wird nicht mehr die Position Ungarns zu sichern gewillt sein.
In den Beziehungen zum deutschen Nachbarn ist unterdessen zu erwarten, dass diese sich verbessern und normalisieren werden. Hier gilt es, gerade angesichts der historischen Jahrestage für das deutsch-polnische Verhältnis in 2024, ein Momentum zu nutzen. Angeraten ist, sich im Sinne eines Arbeitsprogramms wirklich für konkrete Schritte der Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen einzusetzen. Die deutsch-polnische Parlamentariergruppe ist der prädestinierte Ort, um politische Schritte vorzudenken. Gleichzeitig muss klar sein, dass die neue Koalition keinen Juniorpartner aus sich machen lässt. Polens Rolle in Ostmitteleuropa hat sich durch den russischen Angriff auf die Ukraine stark verändert. Außerdem wird sich Tusk dem innenpolitischen Druck ausgesetzt sehen, nicht zum vermeintlichen Handlanger Berlins zu werden.
Fazit
Polen steht in den kommenden Monaten in der Innen- wie Außenpolitik vor wichtigen Richtungsentscheidungen. In der Europa- und Deutschlandpolitik, bei gesellschaftspolitischen Fragen, im Stil und in der Rhetorik einer neuen Regierung sind 180-Grad-Wenden zu erwarten. Das ökonomische wie institutionelle Umfeld bleibt dabei herausfordernd, weil finanzielle Spielräume enger werden und mächtige Vetospieler zu berücksichtigen sind. Überdies stehen schon im kommenden Jahr wichtige Kommunal- und Europawahlen an, weshalb zu befürchten ist, dass der Wahlkampf schlicht fortgesetzt wird. Gerade die PiS wird es der neuen Regierung alles andere als leicht machen und jeden Versuch unternehmen, dem Dreierbündnis zu schaden. Daneben könnte der Staatspräsident, der im politischen System Polens über ein Veto in der Gesetzgebung verfügt, versucht sein die Arbeit der neuen Regierung auszubremsen. Nach den Jahren 2007 bis 2010 durchlebt Polen wohl erneut eine Phase der Kohabitation zwischen einem PiS-Präsidenten und einem KO-Premierminister. Trotz des Wahlsieges der bisherigen demokratischen Opposition in beiden Parlamentskammern könnte das Regieren auf Dauer schwierig bleiben.
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