บทความเดี่ยว
Herr Ministerpräsident, Herr Staatsminister Pfeifer, Herr OB Gneveckow, liebe Familie Kiesinger, liebe ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Kurt Georg Kiesinger, vor allem: sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger von Albstadt, meine Damen und Herren,
Wir schreiben Anfang September 1949: Der erste Deutsche Bundestag ist gerade gewählt, die Abgeordneten begeben sich an den Sitz der zukünftigen westdeutschen Regierung. Unter denen, die da den Rhein hinunter fahren, um ihren Platz in der eilig hergerichteten Pädagogischen Akademie am Bonner Rheinufer einzunehmen, ist ein junger Abgeordneter, der soeben für den oberschwäbischen Wahlkreis Ravensburg-Tettnang-Wangen mit beeindruckenden 75,2% der Stimmen, dem bundesweit drittbesten Ergebnis, in den Bundestag gewählt worden ist: Es ist Kurt Georg Kiesinger.
Ein wenig bang ist Kiesinger schon. Er stellt sich Fragen: Wird der zweite Versuch gelingen, in Deutschland eine Demokratie zu gründen? Ist die Weimarer Republik nicht daran zugrunde gegangen, dass sich ein großer Teil des Bürgertums nicht mit der Demokratie abfand?
Da sind die Unwägbarkeiten des Anfangs: In den Wochen vor der konstituierenden Sitzung des 1. Deutschen Bundestages ist Kiesinger und seinem Tübinger Mentor, dem damaligen Staatspräsidenten von (Süd)württemberg-Hohenzollern, Gebhard Müller, aufgegangen, dass der erfahrende Vorsitzende der CDU in der Britischen Zone, Konrad Adenauer, die personalpolitischen Weichen für eine zukünftige Regierungskoalition gestellt hat, bevor sich die etwas langsameren Schwaben überhaupt nach Bonn begeben. Sich selbst hat Adenauer das Kanzleramt zugedacht und – in einem charakteristischen Kuhhandel – dem Vorsitzenden des zukünftigen Koalitionspartners FDP, Theodor Heuss, das Amt des ersten Bundespräsidenten.
Genau das aber wollen die südwestdeutschen CDU-Landesverbände nicht, eine kleine Koalition. Hier unten in Südwürttemberg regiert die CDU recht einträchtig mit der SPD, warum soll das in Bonn plötzlich nicht mehr gelten. Erfordern denn die immensen Herausforderungen, vor denen das neue Staatswesen steht, nicht eine möglichst breite parlamentarische Regierungsbasis? Zu den Kritikern der kleinen Koalition von Union und FDP gehörte daher auch Kurt Georg Kiesinger.
Es wolle ihm nicht in den Kopf, so der frisch gebackene Abgeordnete in seiner ersten Wortmeldung überhaupt vor der neu konstituierten CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass das höchste, repräsentative Amt der Republik nicht in einer gemeinsamen Entscheidung mit der SPD würde gefunden werden können. Man dürfe die SPD nicht ausgrenzen, so Kiesinger, die großen Parteien müßten zusammenarbeiten, Weimarer Verhältnisse drohten, wenn Union und SPD nicht zusammenfänden. Die Wahl des Bundespräsidenten biete die Gelegenheit, demokratische Gemeinsamkeit zu demonstrieren.
Adenauer, der diese Frage, wie gesagt, im kleinen Kreis längst entschieden hat, reagiert unwirsch und sucht Kiesinger das Wort abzuschneiden. Der Jungparlamentarier lässt jedoch nicht locker: Man müsse alles tun, so Kiesinger, „damit die Demokratie, die unser aller Anliegen ist, in Deutschland wirklich volkstümlich wird, daß das deutsche Volk dem neuen Staat seine Zustimmung gibt.“
„Was hat denn dieser Staat an integrierender Kraft schon?“ wirft der junge Mann aus Schwaben dem Patriarchen vom Rhein entgegen: „Wir haben keine Fahne, die die Sympathie des Volkes hat, wir haben keine Nationalhymne, wir haben keine Bundeshauptstadt, die dem Volke zusagt. … Täuschen wir uns nicht darüber,“ fährt Kiesinger fort, „welch ungeheuere Wirkung es im deutschen Volk gehabt hätte, wenn es gelungen wäre, wenigstens in der Frage des Bundespräsidenten einen gemeinsamen ... „ ---
An dieser Stelle wird Kiesinger erneut von Adenauer unterbrochen, der ungeduldig die Glocke des Vorsitzenden schwingt: „Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, die Sache ist längst erledigt.“
Nein, nein, entgegnet Kiesinger, mit wachsendem Groll. Zwei Tage lang habe er zugehört, nun wolle er sprechen und zwar zur Sache. Er suche keineswegs nach einem sozialdemokratischen Bundespräsidenten; er suche vielmehr das Gespräch mit der Sozialdemokratie, es gehe darum, einen gemeinsamen Kandidaten zu küren. Der Bundespräsident „repräsentiere das neue Deutschland“ in seiner Gesamtheit. Er dürfe nicht nur der Vertreter einer Schicht, einer Klasse oder einer Partei sein. Theodor Heuss, sei ein durchaus ehrenwerter Mann, jedoch ein, wenn auch „liebenswerter, Überrest des 19. Jahrhunderts.“
Geistesgegenwärtig bezieht der alte Fuchs Adenauer diese Bemerkung auf sich selbst: „Ich hoffe doch, daß sich noch mehr Überreste des 19. Jahrhunderts …“
„Sie habe ich doch nicht gemeint“ wirft Kiesinger eilends dazwischen.
Blitzschnell kommt es von Adenauer zurück: „Sie meinen, ich wäre nicht liebenswert.“ ---
Eine kleine, aber bezeichnende Anekdote, die zu Kiesingers Lieblingsgeschichten gehört – und mancher von Ihnen hat sie vielleicht noch aus seinem eigenen Munde vernommen. Sie ist charakteristisch für beide, Adenauer und Kiesinger. Von dieser ersten protokollierten Äußerung Kiesingers in Bonn lassen sich unschwer Kontinuitätslinien in seine weitere politische Biographie hinein ziehen, deren wichtigstes Leitmotiv hiermit angeklungen ist: Der Aufbau einer Demokratie in Deutschland.
Zugleich wird Kiesingers Hang zum Grundsätzlichen sichtbar; das Bedürfnis, gelegentlich von den pragmatischen Erfordernissen der Tagespolitik zu abstrahieren; aber auch der Wunsch, die Gegensätze über die parteipolitischen Lager hinweg zu überbrücken; die „Ideen vom Ganzen“, wie er eine 1964 erschienene Sammlung seiner Reden und Aufsätze überschrieb, auch das Aufblitzen der Lebenserfahrung seiner Generation, nämlich das Scheitern von Rechtstaatlichkeit und Demokratie mit Hitlers sog. „Machtergreifung“ im Januar 1933 und der daraus fast unabwendbar hervorgehenden „deutschen Katastrophe“ im Zweiten Weltkrieg, die eine Katastrophe Europas und der Menschheit geworden ist.
Erging sich Kiesinger in allgemeinen Überlegungen zur Solidarität der Demokraten, dann bewegte sich Adenauer schon im Rahmen des vom Grundgesetz vorgezeichneten politischen Systems, schmiedete nüchtern die parlamentarische Basis für seine Regierungskoalition und schreckte dabei – selbstverständlich – vor einem personalpolitischen quid pro quo nicht zurück. Adenauer hatte verstanden, worauf es unter dem Grundgesetz ankam – und zwar nicht auf das Amt des Bundespräsidenten. Die Macht zu gewinnen, ist nun einmal das Entscheidende auch in der Demokratie. Dass dies in einem geregelten Verfahren, in Wahlen und mit dem Konsens der Wähler geschieht, das unterscheidet sie von einer Diktatur.
Natürlich wurde hier Politik auf unterschiedlicher Ebene gemacht: Kiesinger, ohne Macht und Amt, ein parlamentarischer Hinterbänkler, schnitt eben Grundsatzfragen an, Adenauer bildete eine Koalition. Das unterschiedliche Politikverständnis war also auch der Perspektive des jeweiligen Amtes geschuldet. Nichtdestotrotz galt es schon bald als „echt Kiesinger“, den Dingen, selbst scheinbar pragmatischen Fragen der Tagespolitik, eine philosophische Wendung ins Grundsätzliche zu geben und an die Versöhnung der Gegensätze im Interesse des größeren Ganzen zu appellieren.
Dieser, für den damaligen Bundestag noch recht junge Abgeordnete Kurt Georg Kiesinger, er war immerhin 45 Jahre alt, wäre also am 6. April 2004 einhundert Jahre alt geworden. Und dies ist der Anlass, warum wir uns hier zusammenfinden.
Nun: Wer ist dieser Kurt Georg Kiesinger, den wir mit unserer Anwesenheit ehren? Wer ist dieser Mann, der vor einhundert Jahren innerhalb der Tore dieser Stadt geboren wurde und der 1949 Abgeordneter des Deutschen Bundestages, 1954 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, 1958 Ministerpräsident von Baden-Württemberg und 1966, die Krönung seiner politischen Laufbahn, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde – einer von nur sieben Männern, die unter Hunderten, ja Tausenden, sehr ehrgeiziger Menschen, in der über fünfzigjährigen Geschichte dieser Republik, dieses wichtigste politische Amt errungen haben?
Wer ist Kiesinger? Worin besteht seine Lebensleistung? Was hat er für dieses Gemeinwesen, für diese Stadt, für dieses Land, für diesen Staat Bundesrepublik Deutschland getan? Aber auch: Was hat uns sein Leben heute zu sagen? Was können wir, die Jüngeren, die Nachgeborenen, aus seiner Lebensgeschichte lernen? Wofür steht Kiesinger? Oder, ein wenig bescheidener: Welche Fragen wirft seine Lebensgeschichte auf?
Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen, die viele von Ihnen hier in Albstadt seit einigen Wochen bedrängen, fällt nicht leicht und sie fällt, je nach politischem oder weltanschaulichem Standpunkt, recht unterschiedlich aus.
Die einen sagen: Kiesinger ist einer der Unsrigen, er wurde hier geboren, er ging von hier fort, doch er kehrte als verlorener Sohn schließlich auch wieder hierher zurück, er ist der große Sohn unserer Stadt. Wir haben ihn vor 35 Jahren, damals war er Bundeskanzler, zum Ehrenbürger gemacht und wir werden morgen, wie es sich für einen Ehrenbürger geziemt, einen Platz in unserer Stadt nach ihm benennen. Kiesinger selbst hat sich niemals gescheut, sich geradezu emphatisch zu seiner „Schwäbischen Heimat“ und zu seiner Vaterstadt Ebingen zu bekennen, selbst wenn man sich jenseits dieser Region vielleicht ein wenig lächerlich darüber machte. Er war stolz auf Ebingen und seine „schwäbische Heimat“ und er hat es aller Welt kund getan.
Die anderen sagen: Halt, halt, so einfach ist das nicht: Kiesinger hat es als Politiker weit gebracht, er ist ein bedeutender Staatsmann und hat in seinen hohen Ämtern auch eine ganze Menge geleistet: Aber war Kiesinger nicht als junger Mann in einer Partei, deren Vorsitzender Adolf Hitler hieß? Und: Wie ist das mit seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt im Zweiten Weltkrieg, wo er schließlich stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung wurde? Verhöhnen wir, so fragen sich die Kritiker, wir nicht mit dieser Ehrung die Opfer der Gewaltherrschaft, wenn wir einen Platz nach Kiesinger benennen? Welches Vorbild geben wir der Jugend, wie es in einem der Leserbriefe der letzten Wochen heißt?
Schwierige Fragen, die wir alle ernst nehmen müssen – aber gerade deshalb können wir uns die Antworten so einfach nicht machen. Ein Menschenleben auf ein paar schlichte Formeln reduzieren – das geht eigentlich nicht. Wir alle wissen das aus eigener Erfahrung . Aber es wird erst recht schwierig, wenn wir mit einem Menschenleben zu tun haben, das von zwei Weltkriegen und einer mörderischen Diktatur überschattet worden ist.
Nun, ich bin Historiker und Wissenschaftler und wir Historiker versuchen, die Dinge zu „historisieren“, d.h. wir betten menschliches Handeln und Erleiden in seinen zeitgenössischen Kontext ein, wir versuchen es in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu verstehen und zu erklären. Wir fragen, was konnten die Menschen damals wissen, welche Vorstellungen besaßen sie von ihrer Zeit, wie war ihr Möglichkeitshorizont beschaffen? Die Frage lautet also nicht: Was könnten wir mit unserem heutigen Wissen, mit unserem Verständnis, in Kenntnis der Folgen und des Endergebnisses, besser oder anders tun, als wäre es möglich, die Geschichte nachträglich zu korrigieren.
Ich bitte Sie also, sich auf dieses Abenteuer Geschichte für einen Augenblick einzulassen, zu versuchen, Kiesingers Leben aus seiner Zeit und seinen eigenen Bedingungen zu verstehen. Ich kann und will Sie nicht zu einer bestimmten Sicht der Dinge überreden. Ich möchte Sie zum Nachdenken anregen. Wenn dieses Jubiläum uns nachdenklich macht, dann haben wir eine Menge erreicht. Das sind wir übrigens uns selbst schuldig, unserer eigenen intellektuellen Redlichkeit – aber wir schulden diese Art von vorsichtig wägender, aber durchaus nicht unkritischer Aufmerksamkeit dem Manne, dessen 100. Geburtstages wir in dieser Woche gedenken.
Denn Kiesinger selbst war einer, der sich die Dinge nicht leicht gemacht hat, der als Politiker versuchte – und darin liegt eine seiner bedeutenden Qualitäten – von billigem Schwarz-Weiß-Denken wegzukommen. Er war ein Politiker ungewöhnlichen Zuschnitts, jawohl, er war fast ein wenig zu grüblerisch und zu nachdenklich veranlagt für einen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler. Er hat sich gegen „schreckliche Vereinfachung“, wie er sagte, zeitlebens gewehrt – und es ist ihn teuer zu stehen gekommen.
Insofern liegt eine bittere Ironie über seiner Lebensgeschichte, denn er, der wie kein zweiter Bundeskanzler als ein Vermittler zwischen den Parteien und Standpunkten auftrat, ausgerechnet er polarisiert in der Erinnerung. An Adenauer und Brandt schieden sich zu ihrer Zeit die Geister. Man war für oder wider die Westintegration, für oder wider die Ostpolitik. Heute ist beides als Teil des historischen Erbes weitgehend akzeptiert. Heute stehen Adenauer und Brandt fast über den Parteien. Für Kiesinger gilt das nicht. Ihm gegenüber, wenn er nicht ganz vergessen ist, will niemand neutral bleiben.
Dabei hat sich Kiesinger in seiner Zeit als Vermittler den Respekt nicht nur der eigenen Parteifreunde erworben, sondern gerade auch seiner politischen Gegner, darunter Fritz Erler, Herbert Wehner, Carlo Schmid und auch Willy Brandt. Als Kiesinger 75 Jahre alt wurde, da war unter Gratulanten auch Wehner. Darauf angesprochen, wie es komme, dass er – über die Parteigrenze hinweg – Kiesinger gratuliere, da sagte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende: „Das ist für mich eine selbstverständliche Ehrenpflicht“.
Warum aber ist Kiesinger heute nicht mehr so geachtet wie seine Vorgänger und Nachfolger? Müssen wir uns das nicht vielleicht selber fragen? Erinnert uns Kiesinger zu sehr an unsere eigene menschliche Schwäche? Weil er sich nicht als Überheld darstellen läßt wie Graf Stauffenberg oder Willy Brandt, der natürlich auch kein Heiliger gewesen ist? Herbert Wehner wusste es besser. Er versagte Kiesinger nicht den Respekt, weil er mit ihm ein wichtiges Stück Lebenserfahrung teilte. Von Wehner ist der Satz überliefert, er habe in seinem Leben zwei Kardinalfehler begangen: erstens, als junger Mensch Kommunist geworden zu sein und zweitens darauf vertraut zu haben, dieser Irrtum würde, sofern eingestanden, in einer Demokratie nachgesehen werden können. Mit umgekehrtem politischen Vorzeichen konnte Kiesinger das auf sich selbst beziehen.
Wie also sah Kiesinger sein eigenes Leben? Befragen wir ihn selbst: 1984, an seinem 80. Geburtstag, hat er sich dazu geäußert:
Er sagte, sein Leben sei in zwei Hälften zerfallen: „Jeweils 40 zu 40 Jahre etwa. Die erste Hälfte war verdüstert u nd überschattet, ja wie mit Mehltau bedeckt von den furchtbaren geschichtlichen Ereignissen. Ich habe noch – jetzt muss ich rechnen – 14 Jahre im alten Kaiserreich gelebt. Ich habe 14 Jahre in der Weimarer Republik gelebt, 12 Jahre im berühmten 1000-jährigen Reich. Zwei furchtbare Weltkriege, mit allem, was danach folgte, zwei Totalinflationen, den Zusammenbruch dreier Reiche, des Kaiserreiches, der Weimarer Republik, des 1000-jährigen Reiches, habe ich erlebt. ... Danach, die zweite Hälfte meines Lebens, der Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg, der Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, die Anbahnung, so mühselig sie auch war und ist, der Einigung Europas, sozialer Fortschritt in nie gekanntem Ausmaß, das meine Damen und Herren möchte ich immer wieder den Jungen sagen, ist das Nichts? Das ist eine gewaltige Sache und nie vorher in der deutschen Geschichte hat es eine so großartige Aufbauphase gegeben, wie nach dem 2. Weltkrieg.“ Soweit der Altkanzler an seinem 80. Geburstag.
Zwei Hälften eines Lebens, vierzig zu vierzig Jahre, dunkle und helle Jahre, wie es in den Erinnerungen heißt. Das umspannt fast das ganze zwielichtige zwanzigste Jahrhundert, ein Zeitalter der Extreme und Totalitarismen. Das Leben des dritten Bundeskanzlers ist wie das keines zweiten Spitzenpolitikers der alten Bundesrepublik ein Spiegel der Zeiten.
Blicken wir auf die erste Hälfte: Die Jahre vor 1945 – hier von der Schwäbischen Alb kommen wichtige Prägungen. Zentral ist die doppelte konfessionelle und landsmannschaftliche Herkunft. Das altwürttembergische Protestantisch-Schwäbische vom Vater, der aus Hossingen an der Leiter stammte, von der Mutter das Katholische, Vorderösterreichische. Sie kam aus Bubsheim, wo sich, wie Kiesinger es darstellt, die dialektale Färbung schon ins Alemannische neigt. Er durchlief die Institutionen des katholischen Bildungswesens, aber dennoch wuchs er in einer nüchternen, pietistisch durchdrängten Atmosphäre auf. Er bewunderte „den Reichtum und die Schönheit der katholischen Liturgie“ ebenso wie er das klassische Deutsch aus der abendlichen Lesung der Lutherbibel in seinem Elternhaus mitbekam. Er nannte sich einen „evangelischen Katholiken“.
Die „Idee der Synthese“, das Zusammendenken der Teile, der Versuch, im zerborstenen Kollektiv der modernen Existenz wieder die Einheit und das Ganze zu finden, ist ein für Kiesinger höchst charakteristischer Gedanke. Immer wieder findet er sich in Situationen, in denen Feuer und Wasser zusammenkommen, ob er nun 1933 seine katholische Studentenverbindung ins Dritte Reich hineinretten möchte, ob er im Zweiten Weltkrieg zwischen Auswärtigem Amt und Propagandaministerium vermittelt, ob er, wie wir gehört haben, 1949 einen gemeinsamen Bundespräsidenten ausloben möchte, ob er als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses in den späten 1950er Jahren für eine „Gemeinsame Außenpolitik“ mit der SPD streitet, ob er als Ministerpräsident Baden und Württemberg zusammenführt, ob er eben als Kanzler 1966 die bisher einzige Große Koalition riskiert.
In Ebingen fängt Kiesinger auch an, sich mit der sozialen Frage zu beschäftigen. Und dann gehen im August 1914 „in Europa die Lichter aus“, die „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ nimmt ihren Lauf. Von dieser geschichtlichen Entwicklung wird sich sein Lebenslauf nicht mehr lösen. Von nun an dominieren Schilderungen bitterer Not, der unglaublichen Härte des Lebens in den Kriegsjahren und der „verkehrten Welt“ der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges, der Hyperinflation der Weimarer Jahre bis zur Stabilisierung 1923/24.
Zitat: „Hunger, Bedrücktheit, hohles Pathos und geistige Öde: Das grausame Erlebnis der Kriegskindheit und der Inflations-Jugendjahre: Das hießt: Chaos, Umsturz aller Werte, ungeheuerliche Katastrophe in der Welt der Erzieher. Helden von gestern wurden die Narren von heute, das Heilige wurde verächtlich, das Erhabene gering“, so hat der 24jährige Kiesinger die Grunderfahrung seiner Generation 1928 zusammengefasst.
Damit ist neben Konfession, Landsmannschaft, sozialer Herkunft eine vierte Dimension angesprochen und zwar die der Generation. Viele von Kiesingers Altersgenossen haben auf diese verkehrte Welt der frühen 1920er Jahre, auf die Umwertung aller Werte, den Umsturz aller Gewissheiten, mit härtestem nationalem Radikalismus reagiert und im Dritten Reich eine große Karriere gemacht.
Genau das tat Kiesinger nicht. Er, der es später zu hohen Staatsämtern brachte, er, den wir schon als jungen Mann immer wieder als Anführer finden, einer Horde von Schülern hier auf den Gassen von Ebingen, einer Pfadfindergruppe am Lehrerseminar in Rottweil, als Senior seiner studentischen Verbindung in Berlin, er machte im Dritten Reich keine Karriere. Er hat die Chancen nicht ergriffen, die ihm die nationalsozialistische „Machtergreifung“ bot.
Der 28jährige Kiesinger ist nicht „ohne Not“ in die NSDAP eingetreten und auch nicht, um schnell nach oben zu kommen. Wir haben heute nachmittag erfahren, warum er und seine Freunde glaubten, die Nazi-Partei von innen heraus in einem katholisch-konservativen Sinne beeinflussen zu können. Kiesinger war zweifellos von dem Ziel der „Volksgemeinschaft“ beeindruckt, was nach den Krisen und Zusammenbrüchen der Weimarer Zeit nur zu verständlich ist, zumal dieser Begriff 1933 auch von Sozialdemokraten und Kommunisten verwendet wurde und überhaupt kein Eigentum der Nazis war.
Es war eine Zeit, in der man sich noch Illusionen machte, in der selbst erfahrenere Politiker glaubten, Hitler „einrahmen“ und mäßigen zu können, wo ein Theodor Heuss von den Liberalen, oder ein Jakob Kaiser von der Zentrumspartei für das Ermächtigungsgesetz stimmten und damit Hitler den Weg bereiteten – obwohl beide dann später gegen Hitler Widerstand leisteten. Auch er habe an die Möglichkeit einer Beeinflussung und den schließlichen Sieg der gemäßigten und rechtsstaatlichen Kräfte geglaubt, so schreibt Kiesinger im Rückblick 1947. Er war nicht als einziger einer gewaltigen Illusion aufgesessen.
Doch dann tat Kiesinger etwas, was ihn in unseren Augen auszeichnen sollte. Er zog Konsequenzen aus diesem Irrtum und schlug nach dem sog. „Röhm-Putsch“ vom Juni 1934 Angebote aus, Richter oder Universitäts-Lehrer zu werden. Er verzichtete auf eine Laufbahn als Beamter – das wollte damals etwas heißen. Er baute sich eine private Nischenexistenz auf, fern vom Staat. Er versuchte auszuwandern, doch das misslang. Er verweigerte sich dem Regime, ohne nun öffentlich dagegen zu protestieren oder aktiven Widerstand zu leisten. Die Zeugnisse seiner Schüler sind überwältigend, dass sich Kiesinger als Rechtslehrer zur Rechtsstaatlichkeit bekannte. Einige dieser Zeugnisse sind in dem von Professor Oberndörfer herausgegebenen Band „Begegnungen mit Kurt Georg Kiesinger“ abgedruckt. Besonders eindrucksvoll das von Martin Hirsch, dem SPD-Rechtspolitiker der 196oer Jahre und späteren Richter am Bundesverfassungsgericht oder Ernst Wolf, den Kiesinger aus der Gestapo-Haft befreite.
Das ist die eine Seite. Es liegt aber in der Natur einer diktatorischen Herrschaft, dass selbst Nonkonformität und Verweigerung oft mit partieller Loyalität und Unterstützung des Regimes einhergehen. Dies gilt eigentlich für fast alle Männer der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944, dessen Mitglieder größtenteils Offiziere von Hitlers Wehrmacht gewesen sind oder, wie Carl Goerdeler, hohe Regierungsfunktionen eingenommen haben. Kiesinger fand für dieses Dilemma ein Bild: „Man schwimmt mit dem Strom, auch wenn man gegen ihn schwimmt“.
Das trifft auch für den Eintritt ins Auswärtige Amt 1940 zu. Auch hier ein Versuch, größeren Schaden zu begrenzen. Nach heutiger Diktion leistete Kiesinger dort „Zivildienst“. Er wollte Soldat nicht werden. Er fand ein Schlupfloch, wobei ihm ein Schüler half, der, notabene, Mitglied einer Kommunistischen Widerstandsorganisation war. Der Dienst an der Waffe bot dem völlig unmilitärischen Zivilisten Kiesinger keinerlei Attraktion. Das unterschied ihn von jüngeren Männern wie Heinrich Böll, der es 1943 „ganz bewusst nicht vermied“, an die Ostfront zu gelangen. Dass es Jahrzehnte später als weniger ehrenrührig angesehen würde, im Eide Hitlers den Dienst mit der Waffe geleistet zu haben als den „Zivildienst“ im Auswärtigen Amt, das kam Kiesinger 1940 nicht in den Sinn.
Fragen wir uns ehrlich: Sind wir in der Lage zu entscheiden, wer Hitler mehr geholfen hat, Heinrich Böll als einfacher Soldat an der Ostfront, Helmut Schmidt, der als Artillerieoffizier mit seiner Batterie vor Leningrad lag und Benutzungs- und Schussvorschriften für die leichte Flak ausarbeitete, oder Kiesinger, der zuletzt als stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung sich mit Propagandasendungen ins Ausland beschäftigte? Von Charles de Gaulle stammt die Bemerkung, Hitlers Reich sei ein totalitärer Staat gewesen, in dem von einem gewissen Lebensalter an alle Deutschen in der einen anderen Form mit dem Nationalsozialismus verhaftet gewesen sind. Es war so gut wie unmöglich damals keine Schuld auf sich zu laden, selbst wenn man sich, wie Kiesinger, partiell verweigerte.
Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich – und nun komme ich zu den zweiten vierzig Jahre – warum Kiesinger so viel Herzblut in den Aufbau eines rechtstaatlichen und demokratischen Staatswesens nach 1945 investierte, warum er, wie wir es eingangs gesehen haben, in einer Gemeinsamkeit der Demokraten eine so wesentliche Voraussetzungen eines funktionierenden Gemeinwesens sah. Noch im Internierungslager, in das er 1945 geriet, begann er sich als Umerzieher zur Demokratie zu betätigen, baute eine Art Lagerhochschule auf und setzte diese Tätigkeit dann als Landesgeschäftsführer der CDU in Südwürttemberg-Hohenzollern und im frühen Bundestag in den 1950er Jahren fort.
Im März 1968, als die Unruhe der Jugend, die Außerparlamentarische Opposition und die Studentenbewegung auf ihren Höhepunkt zustrebte, hielt Kiesinger vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU eine große Rede, in der er seine Sorge zum Ausdruck brachte für die Demokratie als ein, wie er sagte, „uns anvertrautes hohes Gut“ bezeichnete. Für Kiesingers Generation war nichts selbstverständlich. Daher hielt er den Utopismus der Studentenbewegung und ihrer moralischen Ausschließlichkeit für bedrohlich.
Als Rechtspolitiker im frühen Bundestag hob er wichtige demokratische Institutionen mit aus der Taufe wie den Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag, dessen ursprüngliche Geschäftsordnung in wesentlichen Teilen auf Kiesinger zurückgeht und den er als langjähriger Vorsitzender mit seiner Amtsführung nachhaltig prägte.
Ein zweite bedeutende Leistung des frühen Kiesinger im Bundestag ist seine Mitwirkung am Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Vor allem die Art und Weise, wie die Verfassungsrichter noch heute gewählt werden, ist wesentlich Kiesingers Verdienst. Hier setzte Kiesinger durch, dass die Richter unseres obersten Gerichts, das sich von allen Institutionen unseres Landes nach wie vor des höchsten Ansehens in der Bevölkerung erfreut, in einer Art Konsenssystem von Opposition und Regierung gemeinsam bestimmt werden.
1950 kam Kiesinger in die Parlamentarische Versammlung des Europarates: Man muss es sich vergegenwärtigen: Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, weniger als vier Jahre nachdem er aus dem Internierungslager entlassen worden ist, nahm Kiesinger mit der ersten deutschen Parlamentarierdelegation an den Sitzungen des Europarates in Straßburg teil. Er beschreibt das als „ein sehr starkes, um nicht zu sagen glückliches Erlebnis“. Für Kiesinger war Europa eben die Antwort auf das Versagen seiner Generation in den dreißiger Jahren. Kiesinger wusste, wie es Helmut Kohl einmal gesagt hat, dass in Deutschland die Demokratie nur dann eine Chance haben würde, „wenn man den Nationalstaat hinter sich lässt und aufbricht zu Europa“.
Einem überregionalen Publikum bekannt wurde Kiesinger als der gefeierte Rednerstar der CDU und „Parlamentsdegen“ Adenauers. Im wesentlichen verfocht er die Argumentation Adenauers, dass nur eine „Politik der Stärke“, mit sicherer Integration in die „westliche Schutzgemeinschaft“, die sowjetische Bedrohung zurückweisen und den Weg zur Wiedervereinigung ebnen würde. Ein neutralisiertes Gesamtdeutschland hielt der für ebenso riskant wie unrealistisch. Riskant, weil ohne die Amerikaner, Westeuropa der militärischen Übermacht der Sowjetunion schutzlos ausgeliefert sein würde, unrealistisch, weil auch auf westlicher Seite, insbesondere in Frankreich, ein remilitarisiertes, wiedervereinigtes Deutschland als potentielle Bedrohung empfunden wurde. Früh begann Kiesinger zu verinnerlichen, was kluge Historiker später als „zweierlei Eindämmung“ bezeichnet haben: Die Integration der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft bedeutete Sicherheit für und vor Deutschland.
Seine Glanzzeit erlebte er als Ministerpräsident unseres Bundeslandes. Das ist völlig unstrittig. Er selbst sah es so. Die Jahre in Stuttgart von 1958 bis 1966 waren seine erfolgreichste Phase, hier fühlte er sich am wohlsten, hier war er in seinem Element, hier erwarb er sich großes Ansehen und große bleibende Verdienste. Er war ein bedeutender Ministerpräsident, er war die herausragende Gestalt unter den Länderregierungschefs seiner Zeit.
In drei Bereichen hat Kiesinger einen wichtigen Beitrag zur Geschichte dieses Bundeslandes geleistet: Er hat erstens das Problem der inneren Integration des Landes im wesentlichen bewältig. Er trug nachhaltig zur Vollendung dessen bei, was seine Vorgänger Reinhold Maier und Gebhard Müller, ein wenig auch mit Kiesingers Hilfe, durchgesetzt hatten.
Kiesinger wählte einen für ihn sehr charakteristischen Weg. Er konzentriert sich darauf, ein Staatsbewusstsein für Baden-Württemberg zu schaffen, dem Land eine gesamtstaatliche Identität zu geben. Er tat dies mit dem Mittel, das ihm glänzend zur Verfügung standen, indem er Woche um Woche in die badischen Bezirke der Ungläubigen reiste und eine umfangreiche Reise- und Redetätigkeit entfaltete. In Kiesingers Zeit begann sich die Bevölkerung auch von Baden mehrheitlich dem größeren Land zuzuwenden. Umfragen belegen das Stück für Stück, wenn auch die rechtliche Regulierung erst unter Kiesingers Nachfolger Hans Filbinger erfolgte.
Neben der Integrationspolitik sind zweitens erste Ansätze der Berücksichtigung von Kultur-, Landschafts- und Umweltschutz in der Landesplanung zu nennen. Als Wertkonservativer war Kiesinger so ein wenig ein Ahnherr der Grünen. 1964 widmete Kiesinger mehrere Seiten seiner Regierungserklärung dem Natur- und Landschaftsschutz. Mit der Ankündigung eines entschlossenen Kampfes gegen Luft- und Wasserverschmutzung setzt er frühzeitig umweltpolitische Signale. Dass sein umweltpolitisches Engagement mehr als ein Lippenbekenntnis war, zeigt die langwierige Auseinandersetzung um den Bau einer Erdölleitung entlang dem östlichen Ufer des Bodensees, in welcher Kiesinger seinen damaligen Innenminister Filbinger mit immer neuen umweltpolitischen Bedenken fast zur Verzweiflung brachte. Der Herr Altministerpräsident wird uns morgen dazu vielleicht noch etwas berichten.
Das dritte und große Thema des Ministerpräsidenten Kiesinger ist natürlich die Bildungspolitik. Es wurden zwei Universitäten gegründet (Konstanz und Ulm), eine dritte, die in Mannheim, zu einer vollgültigen Universität ausgebaut, auch sonst hektisch das höhere Bildungswesen expandiert. Mehrere pädagogische Hochschulen entstanden, bedeutende Forschungsinstitute wurden gegründet, wie das Deutsche Krebsforschungszentrum und das Südasien-Institut in Heidelberg. Alles Denkmäler Kiesingers in der europäischen Wissenschaftslandschaft.
In Kiesingers Zeit wurden die Grundlagen dafür gelegt, das dieses Bundesland heute weit an der Spitze liegt und die Universitäten unseres Landes in allen Hochschul-Rankings auf den vordersten Plätzen liegen. Unter den zehn besten deutschen Universitäten sind, je nachdem wie man es rechnet, immer vier oder fünf aus Baden-Württemberg. Kiesinger hat die Grundlagen dafür gelegt, dass die südwestdeutsche Hochschullandschaft in Deutschland nach wie vor unübertroffen ist. Hier hat er seinen drei Nachfolgern ein bedeutendes Vermächtnis hinterlassen. Das sage ich in Dankbarkeit bewusst als Angehöriger einer unserer Landesuniversitäten. Ich denke wir können uns glücklich preisen, dass seine drei Nachfolger im Amte des Ministerpräsidenten, aber natürlich auch der Landtag von Baden-Württemberg, dieses Vermächtnis Kiesingers als Aufgabe und Verpflichtung angenommen, bewahrt und weitergeführt haben.
In diesem Zusammenhang ist ein Viertes erwähnenswert, das manchem vielleicht ein wenig zu sehr nach Parteipolitik schmeckt. Doch man wird den Verdiensten eines Spitzenpolitikers wie Kiesinger nie ganz gerecht werden, wenn man sein Leben völlig außerhalb des Kontextes seiner Partei stellt, in Kiesingers Falle der CDU. Kiesinger war ja kein ausgesprochener Parteipolitiker, aber er hat gerade als Ministerpräsident – wie wenige Jahre später der sehr viel jüngere Helmut Kohl als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz – einen reformerischen Konservatismus in Deutschland neu begründet und hoffähig gemacht. Das ist etwas sehr Wichtiges, bedenkt man die ambivalente, zum Teil sogar destruktive Rolle, die ein fehlgeleiteter Konservatismus in der deutschen Geschichte vor 1945 gespielt hat.
Kiesinger war durch und durch ein Konservativer, daran besteht für mich kein Zweifel, auch wenn es nach außen hin nicht so erscheint. Er wollte bewahren und entwickeln, nicht bloß machen und gestalten.
Aber – und das ist zentral – er war ein moderner Konservativer ohne Scheuklappen, ohne Berührungsängste mit Intellektuellen, seine Zusammenarbeit mit linksliberalen Reformern wie Ralf Dahrendorf bei der Hochschul- und Bildungsplanung steht fast schon sprichwörtlich für den Versuch, Geist und Politik, wenn auch nicht zu versöhnen, so doch in ein produktives Spannungsverhältnis zu bringen. Insofern hat Kiesinger eine Tradition des reformorientierten Konservativen oder konservativen Reformers in Baden-Württemberg mit neu begründet und damit einen wesentlichen Anteil am Erfolg seiner Partei in diesem Bundesland gehabt.
Im November 1966 wurde Kiesinger von seiner Partei nach Bonn gerufen, nachdem Ludwig Erhard als Kanzler gescheitert war und mit ihm die christlichliberale Koalition. Kiesinger setzte sich in einer Kampfabstimmung gegen drei andere Kandidaten durch, den damaligen Bundesaußenminister Schröder, gegen den Vorsitzenden der Unionsfraktion Rainer Barzel und gegen Eugen Gerstenmaier, den Bundestagspräsidenten. Kiesinger, der seit Jahren als möglicher Außenminister oder Bundskanzler auch als Bundespräsident im Gespräch war, war derjenige unter den führenden Politiker der CDU, den die jahrelangen Querelen um Adenauers Nachfolge am wenigsten beschädigt haben. Während sich seine Bonner Konkurrenten in den Kämpfen um die Macht gegenseitig zerfleischten, machte Kiesinger in Stuttgart eine außerordentlich erfolgreiche Landespolitik und – das ist ja wohl für einen Politiker sehr entscheidendend – er verstand es, Wahlen zu gewinnen.
Um Kiesingers Verdienst als Kanzler der Großen Koalition richtig einzuschätzen, muss man sich vor Augen halten, dass nach dem Grundgesetz die sehr starke Stellung des Bundeskanzlers in einer Großen Koalition von vorneherein eingeschränkt ist. Überdies war Kiesinger in ein Kabinett eingebunden, dem praktisch die gesamte Garde der damaligen Spitzenpolitiker der Bundesrepublik angehörte, neben Schröder, Strauß, Bruno Heck, Hermann Höcherl, Hans Katzer und Kai-Uwe von Hassell, um nur einige auf der Unionsseite zu nennen von der SPD neben Brandt und Wehner auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, Georg Leber, Wischnewski sowie Karl Schiller, ihnen an die Seite gestellt die beiden „mächtigen Nebenregierer“, die Fraktionsvorsitzenden Barzel und Schmidt. In diesem „ministry of all talents”, wie es Klaus Hildebrand nennt, würde es der dritte Kanzler bedeutend schwerer haben als alle seine Vorgänger und Nachfolger.
Dennoch hat sich die Große Koalition als eine erfolgreiche Regierung erwiesen. Das war nicht Kiesingers alleiniger Verdienst, aber es war eben auch seiner. Bemessen an der Zahl der verwirklichten Vorsätze und Versprechen ist die Große Koalition die mit Abstand erfolgreichste, obwohl sie die kürzeste Regierung der Bundesrepublik gewesen ist. Die Konjunktur wurde schnell wieder angekurbelt, zum letzten Mal in der Geschichte dieses Landes haben Kiesinger, Strauß und Schiller 1968/69 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorgelegt.
Trotz seiner Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen ist Kiesinger kein Freund allzu großzügiger Verteilung sozialer Wohltaten gewesen und er trat als Kanzler, wie sein Vorgänger, für „Maßhalten“ ein. Dennoch gehen viele sozialpolitische Errungenschaften, von denen einige schon längst wieder rückgängig gemacht worden sind, auf das Konto dieses „Elefantenbündnisses“, darunter, ich kann nur wenige Beispiele nennen, die von beiden Seiten als „gesellschaftspolitischer Durchbruch“ gewertete Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Arbeitsförderungsgesetz, das Bundesausbildungsförderungsgesetzt (BAFÖG), das Stabilitätsgesetz, die Reform der Finanzverfassung, die mit der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben die vertikale Gewaltenverschränkung zwischen Bund und Ländern doch bedenklich verschärft hat – eine Ironie wenn man bedenkt, welch eingefleischter Föderalist Kiesinger gewesen ist.
Mehr als 400 Gesetzesvorhaben wurden in nicht einmal drei Jahren auf den Weg gebracht. Von keiner Regierung wurden so viele Änderungen des Grundgesetzes durchgesetzt wie von der Großen Koalition, darunter auch die Einfügung der damals höchst umstrittenen Notstandsgesetze, die den bis dahin noch immer in die Kompetenz der ehemaligen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges fallenden Ausnahmezustand der demokratischen Kontrolle der gewählten parlamentarischen Gremien der Bundesrepublik unterwarfen und damit ein Stück Nachkriegszeit beendeten. Dass die Notstandsgesetzte unter ihren außerparlamentarischen Kritikern geradezu hysterische Vergleiche mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 provozierten, sagt weniger über die Natur dieser Gesetze als über den inneren Zustand einer tief traumatisierten Gesellschaft vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Kiesingers Hauptinteresse galt der Außenpolitik. Hier bewegte er sich in einem denkbar schwierigen außen- und innenpolitischen Umfeld. Chancen für schnelle Fortschritte gab es Ende der 1960er Jahre nicht. Doch Kiesinger machte ostpolitisches Terrain für die Bundesrepublik gut: Zu Rumänien wurden diplomatische Beziehungen aufgenommen, eine Handelsvertretung in Prag errichtet, Botschafter mit Jugoslawien ausgetauscht. Damit war die „Hallstein-Doktrin“ durchbrochen. Es war ein CDU-Kanzler, der diesen Schritt gewagt hat und die Grundlagen für die Neue Ostpolitik legte – das wird manchmal vergessen.
Schwierig gestaltete sich das Verhältnis zum zweiten deutschen Staat, der DDR. Die Union tat sich schwer mit offiziellen Kontakten zur DDR und opponierte gegen Kiesingers vorsichtigen Öffnungskurs. Als Kiesinger im Juni 1967 einen Brief des ostdeutschen Ministerpräsidenten Willi Stoph annahm und diesen dann auch noch beantwortete, führte dies zu tagelangen, erregten Diskussionen innerhalb der Unionsfraktion. Ähnlich erging es ihm bei der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien, die er gegen erheblichen Widerstand in den eigenen Reihen durchboxen musste. So wurde der ostpolitische Graben, der die Union einerseits und SPD/FDP andererseits trennte, bereits im Herbst 1967 erkennbar.
Man wird aber auch sagen müssen, dass es der Sowjetunion an dem guten Willen fehlte, weil sie sich just in dieser Phase in ihrer hegemonialen Position in Osteuropa durch den „Prager Frühling“ vehement herausgeforderte fühlte. Erst nachdem diese schwere Krise des internationalen Systems beigelegt war, zeichnete sich ein größeres Entgegenkommen Moskaus gegenüber Bonner Gesprächsavancen ab.
So liegen die wichtigsten außenpolitischen Erfolge des dritten Kanzlers im Verhältnis zu den westlichen Verbündenten, wo sich die Große Koalition als zuverlässige „Reparaturwerkstatt“ erwies. Allerdings brachten auch hier die weltpolitischen Erschütterungen des „annus mirabilis“ 1968, angefangen von der Tet-Offensive im Vietnam-Krieg, über die Gold-Krise, die weltweite Studentenrevolte und Prag 1968 das deutsch-französische Verhältnis erneut fast an einen Abgrund. Die Zeiten waren schlecht, Kiesinger fehlten Zeit und Gelegenheit, in der internationalen Politik etwas zu bewegen.
Überschattet wurde Kiesingers Regierungszeit nicht nur von gefährlichen weltpolitischen Krisen sondern auch von der Außerparlamentarischen Opposition, die mit den Osterunruhen 1968 ihren Höhepunkt erreichten. Unter den emotional aufgepeitschten Verhältnissen der späten 1960er Jahre gerieten Wahlkämpfe für viele Politiker zu einer Tortur.
Doch Kiesinger war nicht leicht zu beeindrucken, suchte unverdrossen den Gesprächsfaden immer wieder neu anzuknüpfen, wenn das auch von der Gegenseite nicht honoriert worden ist. Als am Gründonnerstag 1968 ein Anschlag auf Rudi Dutschke verübt wurde, tat er mit einem mitfühlenden Telegramm an die Frau des Opfers genau das Richtige. Aber selbst dieser Schritt wurde ihm von allen Seiten verübelt. Schließlich: Musste es Kiesinger nicht als Ironie erscheinen, dass ausgerechnet er, der als Ministerpräsident die Gründung dreier Universitäten durchgesetzt hatte, sich nun Vorwürfe anhören musste, er habe nicht genügend für die Bildung getan?
Kiesingers Amtszeit als Bundeskanzler liegt im Windschatten der Geschichte, weil ihm die Wiederwahl zum Bundeskanzler nicht vergönnt gewesen ist. Durch den von langer Hand vorbereiteten Koalitionswechsel der SPD wurde Kiesinger zum Verlierer gestempelt, obwohl er als Bundeskanzler Popularitätswerte erzielte, die selbst Adenauer oder Brandt hätten erblassen lassen. Zudem hat ereines der historisch besten Wahlergebnisse der Union eingefahren (46,1%). Es war mit ein Verdienst des Kanzlers, dass die NPD 1969 nicht in den Bundestag einrückte, was verheerende Auswirkungen auf das Ansehen der Bundesrepublik gehabt hätte. Die von Kiesinger kompromisslos bekämpften Rechtsradikalen scheiterten knapp an der 5%-Hürde während die von ihrem Vorsitzenden Walter Scheel auf ein Bündnis mit Brandts SPD festgelegte FDP ebenso knapp darüber lag. So reichte es zu einer sozialliberalen Koalition. Der Kanzler hatte gesiegt, so schreibt sein Freund und Weggefährte Günter Diehl, aber die Mehrheit verloren.
Dem Kanzler der Großen Koalition fehlte, wie de Gaulle in anderem Zusammenhang einmal sagte, jene grande querelle, die einen Staatsmann über sich hinauswachsen lässt und die er im kleineren Rahmen in Stuttgart als Bildungspolitiker und Integrator des Landes gefunden hatte. Partiell ist das eine Frage der Optik, denn in einem innenpolitischen Bündnis – und ein solches war die Große Koalition – ist der Kanzler sehr viel weniger sichtbar als in Phasen großer außenpolitischer Richtungsentscheidungen.
Auch die geschichtspolitischen Interessen der beiden großen Parteien haben sich ein wenig gegen Kiesinger verschworen. Nur ungern erinnert man sich an das augenscheinliche Übergangsphänomen Große Koalition. Während es für die CDU der Auftakt zu einer 13jährigen Oppositionszeit wurde, war es für die SPD nur der Aufbruch zu noch größeren Taten. Da hat man die gemeinsame Arbeit in der Großen Koalition schnell vergessen.
Kiesingers historischer Verdienste als Kanzler liegt darin, dass er das „schwierige Gespann“ der Großen Koalition recht erfolgreich über die Klippen der späten 1960er Jahre brachte. Manchmal liegt ja der Erfolg in der Politik darin, größere Fehler vermieden zu haben.
Die Große Koalition hat keinen gravierenden Fehler gemacht, sie konsolidierte die Staatsfinanzen. Die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialverfassung wurde nachhaltig reformiert. Sie stand, das wird oft übersehen, in gewisser Hinsicht sogar weiter „links“ als die nachfolgende sozialliberale Koalition. Die effektive Zusammenarbeit der Sozialpolitiker von Union und SPD schuf eine wichtige Voraussetzungen der Neuen Ostpolitik in der sozialliberalen Koalition, weil sie viel sozial- und wirtschaftspolitischen Ballast aus dem Weg geräumt hat, der die Regierung Brandt-Scheel unerträglich belastete hätte.
Was bleibt also von diesem langen, an Höhen und Tiefen reichen Leben, das vor einhundert Jahren hier in Albstadt-Ebingen begann?
Es ist kein reines Heldenepos, aber Helden brauchen wir in der Demokratie nicht, sondern Menschen, die im Bewusstsein ihrer eigenen Unvollkommenheiten und Fehler sich um das Beste für die große Zahl in gemeinschaftlicher Anstrengung bemühen. Diesen Versuch hat Kiesinger gemacht und das ist ihm über weite Strecken auch gelungen.
Kiesinger war, wie Richard von Weizsäcker sagte, ein „Staatsmann, der mit Leidenschaft und Autorität am Aufbau unseres demokratischen Staates mitgewirkt, der mehr als zwei Jahrzehnte die deutsche Nachkriegsgeschichte mitgestaltet und in einer ihrer wichtigsten Phasen die politischen Geschicke der Bundesrepublik Deutschland gelenkt hat.“
Kiesinger strebte nach einer Symbiose von „Politik und Geist“, doch er wurde von vielen Intellektuellen heftigst befehdet. Er suchte nach einem ganzheitlichen Ansatz und er musste sich mit den Detailproblemen der Tagespolitik mühen und plagen. Er war ein Politiker, der intensiv über die Grundlagen der Demokratie nachgedacht hat und doch glaubten ihm viele seine demokratische Konversion nicht. Er hat seinen politischen Irrtum als junger Mensch bereut und er hat als einer der jüngeren Gründerväter der Bundesrepublik ein „Beispiel für Humanität“ in der Politik gegeben, um noch einmal Richard von Weizsäcker zu zitieren.
Kiesinger steht für das „Wunder der Bundesrepublik“, er steht für den historischen Erfolg eines Gemeinwesens, das aus der Asche eines totalitären Systems aufgestiegen ist und das der in der deutschen Geschichte viel zu langen Liste gescheiterter Revolutionen und demokratischer Experimente als ein bisher nicht übertroffener Erfolg entgegenzustellen ist.
Man wird der historischen Wende der deutschen Geschichte, dem erstaunlichen Erfolg der alten Bundesrepublik wohl nur in Anerkenntnis der Tatsache wirklich gerecht werden, dass ein von einem totalitären System gezeichnetes und notwendig politisch mitschuldig gewordenes Personal nach 1945 eine stabile, demokratische Ordnung schuf.
Das ist auch Kiesingers Verdienst. Dafür steht sein Lebenswerk. Auch daran sollten wir denken, wenn wir in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag begehen.