In der Ukraine gilt ein gemischtes Wahlrecht, das heißt die Hälfte der Abgeordneten (225) werden über geschlossene Parteilisten, und 199 als direkte Wahlkreiskandidaten in das Parlament einziehen. Da 26 Mandate für die Gebiete der von Russland besetzten Krim und Teile der Ostukraine vakant bleiben, werden nur 424 Abgeordnete gewählt. Eine Regierungskoalition benötigt nichtsdestotrotz 226 Sitze um eine Mehrheit zu bilden. Zur Auswahl stehen 22 Parteien mit Parteilisten und über 3.000 Kandidaten in den 199 Wahlkreisen. Die Wahlkommission hat bereits ca. 400 Kandidaten abgelehnt und prüft bei allen Parteilisten, ob die Frauenquote von 30 Prozent eingehalten wurde.[i] Die Wahlbeteiligung wird deutlich geringer ausfallen als bei den Präsidentschaftswahlen (im zweiten Wahlgang 63 Prozent) - Prognosen rechnen an diesem Sonntag mit nur mit 40-50 Prozent. Nach den Wahlen stehen schwierige Personalentscheidungen und gegebenenfalls Koalitionsverhandlungen bevor. Experten rechnen mit der Arbeitsfähigkeit der neuen Regierung Ende August.
Taktischer Hintergrund der vorgezogenen Wahlen
Bei seiner Antrittsrede am 20. Mai 2019 hatte der neue Präsident Wolodymyr Selenskyj die Auflösung des Parlaments und die Vorverlegung der Parlamentswahlen von dem ursprünglichen Termin im Oktober 2019 auf Juli angekündigt. Anschließend hatten 62 Abgeordnete beim Verfassungsgericht gegen diesen Erlass des Präsidenten geklagt. Nach einem Monat Prüfung hatte das Gericht am 20. Juni mit 11 von 18 Stimmen entschieden, dass die Auflösung des Parlaments verfassungskonform gewesen sei. Selenkskyjs Begründung, dass die Regierung seit Anfang 2016 nicht mehr mehrheitsfähig gewesen sei, da drei Parteien die Regierungskoalition verlassen hatten wurde akzeptiert. Die Vorverlegung der Wahlen hatte Selenskyj vor allem im Eigeninteresse verfolgt, da er bisher über keine eigene Fraktion im Parlament verfügt. Durch die frühen Wahlen umging er einen offenen Konflikt mit dem Parlament und könnte nun möglicherweise sogar die absolute Mehrheit für seine eigene Partei Sluha Narodu erhalten, bevor eine Entzauberung des Präsidenten in der Tagespolitik bei seinen Wählern eintritt. Im April hatten 73 Prozent der Ukrainer im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen für Selenskyj gestimmt. Viele der Wähler haben laut Meinungsumfragen sehr unterschiedliche Erwartungen an die Politik des Präsidenten, die er praktisch nicht alle gleichzeitig erfüllen kann und daher mit der Zeit an Unterstützung verlieren könnte.
Die letzten Umfragen variierten stark
Nach den Prognosen verschiedener soziologischer Institute, die sich nicht in der Platzierung der Parteien, aber in den Prozentsätzen teilweise signifikant voneinander unterscheiden, führt die Partei Sluha Narodu – „Diener des Volkes“ von Präsident Selenskyj mit großem Vorsprung (40 bis 48 Prozent) vor der zweitplatzierten pro-russischen Oppositionsplattform Sa Shittja – „Für das Leben“ des Putin-Vertrauten Wiktor Medwedtschuk und von Jurij Boiko, der als Präsidentschaftskandidat antrat (9 bis 12 Prozent). Drei weitere Parteien, die den Einzug ins Parlament schaffen können, sind die umbenannte Partei des ehemaligen Präsidenten Poroschenko Jewropeijska Solidarnist - „Europäische Solidarität“ (6 bis 9 Prozent), ehemals Block Petro Poroschenko – Solidarnist, sowie die Partei Batkiwschtschyna – „Vaterland“ von Julia Timoschenko (6 bis 9 Prozent) und die Bewegung Holos – „Stimme“ des bekannten ukrainischen Rocksängers Wakartschuk (6 bis 10 Prozent). Bei kleineren liberalen und pro-westlichen Parteien wie Hromadjanska Posyzija – „Bürgerliche Position“ und der neugegründeten Partei Syla i tschest – „Stärke und Ehre“ bleibt es unklar, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde überwinden. Sie könnten aber einige Direktmandate gewinnen. Ebenso unwahrscheinlich erscheint ein Einzug über die Parteiliste für den Oppositionsblock (2 bis 5 Prozent), von dem sich die nun erfolgreichere Oppositionsplattform abgespalten hatte. Alle Parteien, die zwischen zwei und fünf Prozent erreichen, werden außerdem staatliche Parteienfinanzierung erhalten. Davon könnten auch die Radikale Partei Ljaschkos oder die neu-gegründete Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Wolodymyr Hrojsman „Ukrainische Strategie“ profitieren.
Selenskyj’s Partei Sluha Narodu – „Diener des Volkes“
Sluha Narodu führte die Umfragen während des gesamten Wahlkampfs an, und zwar mit dreimal mehr Stimmen als der zweitplatzierte Oppositionsblock – Sa Shittja. Von 50 Prozent Unterstützung, die sie direkt nach der Inauguration des Präsidenten erreichte, sank ihre Bewertung in den meisten Umfragen zwischenzeitlich um einige Prozentpunkte, bevor sie kurz vor den Wahlen wieder anstieg. Obwohl sich die Umfrageergebnisse für Sluha Narodu von verschiedenen Instituten bis zuletzt um zehn Prozentpunkte unterschieden (beispielsweise KIIS 52,3 Prozent, Razumkow Center 41,5, und IAP 42,2% Prozent, siehe Graphik 3), ist der große Vorsprung für die anderen Parteien definitiv nicht mehr einzuholen. Und das obwohl die ersten 60 Tage des Präsidenten verstrichen sind und nicht alle seiner bisherigen Entscheidungen Jubel bei den Wählern ausgelöst hatten. Unter den ersten Personalbenennungen im Präsidialamt fanden sich neben den erhofften Reformern auch altbekannte Gesichter aus Janukowytsch-Zeiten und Selenskyjs Freunde aus der Fernsehbranche, die das politische Geschäft neu erlernen müssen. Dass er die Präsidialverwaltung umbenannt hatte und nun in ein anderes Gebäude umziehen möchte, bewerten manche Experten, bei den vielen Reformaufgaben, die die neue Regierung noch vor sich hat, als unnütze Mühen. Außerdem machte er sich bei vielen Mitgliedern des Sicherheits- und Verteidigungssektors mit der Abschaffung der Militärparade am Unabhängigkeitstag im August unbeliebt. Außenpolitisch zeigte Selensky nach ersten Besuchen in Brüssel, Paris, Berlin und Toronto eine fast identische Position wie sein Vorgänger Poroschenko und gab wenig Anzeichen für den im Wahlkampf versprochenen Wandel. Bei den Friedensverhandlungen zur Ostukraine in Minsk und dem Normandie-Format hat es seit dem Führungswechsel in Kiew aber durchaus neue Impulse gegeben. Es gibt seit langem wieder einen Waffenstillstand und eine Entflechtung an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte an der Kontaktlinie bei Stanyzja Luhanska in der Ostukraine.[i] Und nach einem ersten Telefonat zwischen Selenskyj und dem russischen Präsident Putin am 11. Juli, wurde auch in Minsk ein Gefangenenaustausch besprochen.
Die Partei Sluha Narodu führt eine ebenso schwammige Wahlkampagne wie bei den Präsidentschaftswahlen. Sie will Monopole abschaffen und die Wirtschaft liberalisieren. Die Partei tritt stark pro-westlich und pro-europäisch auf, möchte die Immunität von Parlamentariern und Richtern abschaffen und nennt als ihr Hauptanliegen Korruptionsbekämpfung und Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Ferner möchte Sluha Narodu eine direkte Demokratie mit Referenden wie in der Schweiz einführen. Auf Nachfragen, wie genau diese Punkte realisiert werden sollen, hüllt sich der Präsident und seine Partei weiter in Schweigen. Insbesondere zu konkreten Schritten der Korruptionsbekämpfung hat man im letzten Monat des Wahlkampfes von der Partei wenig Substantielles gehört. Der Präsident schlug am 11. Juli vor, das Lustrationsgesetz um hohe politische Beamte zu erweitern, die von 2014 bis 2019 Mitglied in der Regierung und anderen staatlichen Behörden waren. Dieser Vorschlag wurde von internationalen Partnern scharf kritisiert und Experten hielten ihn eher für ein Wahlkampfmanöver.
Die Koalitionsmöglichkeiten der Partei sind bis dato unklar. Ausgeschlossen habe man Poroschenkos Partei „Europäische Solidarität“. Angeboten hatten sich bereits die pro-russische Oppositionsplattform und Timoschenkos Batkiwschtschyna. Die stabilsten Umfragewerte zeigte dabei die zweitplatzierte Oppositionsplattform – „Für das Leben“, die während des gesamten Wahlkampfes im niedrigen zweistelligen Bereich lag. Sie überschneidet sich in ihren Aussagen mit Sluha Narodu für den Einsatz von direkter Demokratie und für den Gebrauch der russischen Sprache auch im öffentlichen Bereich. Außerdem ist der engste Berater Selenskyj’s, Dmytro Rasumkov, ehemaliger Jungpolitiker der „Partei der Regionen“ – der Vorgängerpartei des Oppositionsblocks. Eine Zusammenarbeit wäre für Selenskyj’s Image aber schädlich. Julia Timoschenko hofft auf eine dritte Chance als Premierministerin. Nach Aussagen der Parteiführung hatte sie dem Präsidenten die Expertise ihrer Partei sowie ihr Parteiprogramm „Neuer Kurs“ als Grundlage für Koalitionsverhandlungen angeboten. Am 9. Juli feierte Batkiwschtschyna ihr 20-jähriges Bestehen, womit sie die älteste Partei in der Rada ist. Trotz allem scheint die Partei Holos – „Stimme“ des Rocksängers Wakartschuk die wahrscheinlichste Option für eine Koalition mit Sluha Narodu. Ob die Partei des Präsidenten am Wahltag doch noch die absolute Mehrheit der Wählerstimmen erreichen kann, oder sogar deutlich weniger Unterstützung als erwartet erhält ist nun die große Frage. Experten des Razumkow-Zentrums vermuten letzteres und prognostizieren der Partei für den Wahlausgang nur ca. 30 Prozent, sodass Selenskyj sogar mehrere Koalitionspartner benötigten würde.
Neue Parteien als Zeichen der Anti-Establishment-Stimmung der Ukrainer
Auch die Partei Holos wurde vor den Wahlen neu gegründet und ist die Bewegung des bekannten ukrainischen Musikers Swjatoslaw Wakartschuk. Neben einem Komiker ist folglich auch ein Rocksänger in die Politik gegangen und weckt nun Hoffnungen bei den Ukrainern, die von den seit der Unabhängigkeit etablierten Politikern enttäuscht wurden – aber auch mit den Ergebnissen des Maidan unzufrieden sind. Auch wenn Wakartschuk schon einmal nach der Orangen Revolution Abgeordneter in der Rada war und das Amt frühzeitig aufgegeben hatte, ist er weiterhin sehr beliebt. Viele Ukrainer hatten sich ihn bereits als Präsidentschaftskandidaten gewünscht. Dank der während des Wahlkampfs andauernden Tour mit seiner Band Okean Elzy hat seine Partei insgesamt während des Wahlkampfes an Unterstützung gewonnen. Das Ziel von Holos ist nach eigenen Aussagen, neue Menschen ins Parlament zu bringen und eine Partei zu etablieren, die nicht auf eine Person gemünzt sei, sondern auf ideologischen Prinzipien aufbaut. Außerdem hat Holos die ersten zehn Listenplätze gleichermaßen auf Frauen und Männer verteilt und tritt für eine „Deoligarchisierung“ der Ukraine ein. Eine Gemeinsamkeit mit Sluha Narodu ist daher, dass beide Parteien keine ehemaligen Abgeordneten auf ihren Listen haben und dass sie den Wahlkampf sehr modern und unkonventionell gestalten; zum Beispiel mit kostenfreien Show-Auftritten als Wahlkampftour durch das Land – Selenskyj als Komiker und Wakartschuk als Sänger – und mit Videos in den sozialen Medien, wo sie sich auch privat oder beim Sport zeigten. Beide neuen Parteien haben erkannt, wie müde die Bevölkerung von der gewohnten politischen Landschaft ist. Auch der neue Präsident hatte dies bei einer Reformkonferenz in Toronto betont, und dass die größten Anstrengungen im Justizbereich geschehen müssen, nicht zuletzt um ein besseres Investitionsklima zu schaffen.
EVP-nahen Parteien stehen Verluste bevor
Die Unterstützung für die Partei des ehemaligen Präsidenten Poroschenko Jewropeijska Solidarnist – „Europäische Solidarität“ (ehemals Block Petro Poroschenko, BPP) wird sich voraussichtlich halbieren im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2014. Von den damals 21 Prozent bleibt voraussichtlich nicht einmal die Hälfte übrig. Aus den letzten Parlamentswahlen ging BPP mit 143 Mandaten als stärkste Kraft hervor und führte die folgenden fünf Jahre die Regierung an. Die Enttäuschung der Bevölkerung, die sich nach dem Maidan schnell spürbare Veränderungen und insbesondere eine Verbesserung der sozioökonomischen Situation gewünscht hatte, spiegelt sich also nach den verlorenen Präsidentschaftswahlen auch in den Umfragen zu den Parlamentswahlen wieder. Auch wenn die Partei mit neuem Namen und Logo auftritt, fehlen in den vorderen Reihen die neuen Gesichter und auch die Zeit für einen grundlegend neu gestalteten Wahlkampf.
Batkiwschtschyna erzielte in den Wahlen 2014 nur knapp sechs Prozent und 21 Sitze. Nun könnte sie die Mandatszahl zwar leicht erhöhen, bleibt jedoch noch weit hinter dem Wahlerfolg von 2012 zurück – damals erreichte sie 25 Prozent. Batkiwschtschyna wurde 1999 gegründet. Sie sieht sich selbst als wahrscheinlichster Koalitionspartner des Präsidenten Selenskyj, da sie am meisten Parlamentserfahrung mitbringt. Außerdem strebt Julia Timoschenko offenkundig an, zum dritten Mal Ministerpräsidentin zu werden, wird aber auch von Experten als neue Parlamentspräsidentin gehandelt.
Samopomitsch, die Partei des Bürgermeisters von Lemberg hatte erst im Juni 2019 einen Beobachterstatus der Europäischen Volkspartei erhalten. Bei den letzten Parlamentswahlen 2014 zog die Partei mit 11 Prozent (33 Sitze) erstmals in die Werchowna Rada ein. Nach Verlassen der Regierungskoalition 2016 und nach den Präsidentschaftswahlen 2019 verlor die Partei jedoch viele Abgeordnete durch Austritte oder an andere Parteien (Sluha Narodu, Syla i Tschest oder Holos). Samopomitsch liegt in Umfragen aktuell unter zwei Prozent und der Einzug ins Parlament ist daher äußerst unwahrscheinlich.
Ausblick: Welche Chancen birgt das neue Parlament?
Natürlich bleiben die möglichen Koalitionen die spannendste Frage. Mindestens ein Koalitionspartner scheint notwendig zu sein, auch wenn die Möglichkeit einer alleinigen Mehrheit noch besteht. Dies könnte auch eintreten, wenn Sluha Narodu unter 50 Prozent der Stimmen erreichen sollte, aber in Kombination mit den Direktmandaten und den durch die Fünf-Prozent-Hürde zusätzlich vergebenen Sitzen die nötige absolute Mehrheit von 226 Sitzen erhält. Ferner ist es unwahrscheinlich, dass alle Mandatsträger von Sluha Narodu nach dem Einzug ins Parlament den Präsidenten in seinen Reformvorhaben bedingungslos unterstützen werden. Die Fraktionstreue und Parteimitgliedschaften sind in der Rada generell eher volatil und es kommt sowohl zur Einflussnahme von oligarchischen Gruppen als auch zur Vertretung eigener Interessen.
Eines ist sicher – im neuen Parlament der Ukraine werden zahlreiche neue Abgeordnete ohne politische Erfahrung sitzen, was auch Risiken mit sich bringt. Vor allem durch die Mandate von Holos und Sluha Narodu, die zusammen bis zu 60 Prozent erreichen könnten. Diese neuen Gesetzmacher könnten zu einem Generationenwechsel in der Politik und politischen Kultur des Landes führen, den sich die ukrainische Bevölkerung schon seit der Unabhängigkeit gewünscht und in drei Revolutionen eingefordert hat.
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