Zeitenwende: Keine Zweifel am deutschen Engagement
Als Reaktion auf die russische Annexion der Krim und beginnenden Kampfhandlungen in der Ostukraine 2014, sind seit 2017 Verbände der NATO in den drei Baltischen Staaten und Polen stationiert. Großbritannien, Kanada und Deutschland sind dabei als Rahmennationen der Mission „enhanced Forward Presence“ die hauptsächlichen Truppensteller in Estland, Lettland und Litauen. Infolge des erweiterten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 beschlossen die NATO-Partner auch die Präsenz in den Baltischen Ländern zu erhöhen (s.a. Grafik im Anhang). Die Ansätze unterscheiden sich, das Ziel bleibt gleich: Sicherheit an der NATO-Ostflanke.
Einordnung
Die Erklärung, zukünftig 2 Prozent des nationalen Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben zu wollen, war kein Novum des jüngsten NATO-Gipfels in Vilnius. Als man sich für neue und schon länger der NATO angehörende Mitglieder erstmals auf diesen Richtwert einigte, hieß der deutsche Verteidigungsminister noch Peter Struck. Seit dieser Vereinbarung 2002 war der Streit darum ein Dauerthema im Bündnis. Neu ist hingegen, dass dieser Wert, der derzeit von nur wenigen Ländern im Bündnis erreicht wird, nun nicht mehr als Zielmarke, sondern Mindestwert betrachtet werden soll. „As a floor, not a ceiling“, wie es dazu oft heißt. In der Vergangenheit war es eben dieses nicht erreichte Zwei-Prozent-Ziel, das häufig Ausgangspunkt für Kritik am deutschen Engagement in der NATO war. Die im vergangenen Jahr verordnete Zeitenwende, das Sondervermögen und die Entscheidung, einen bundespolitisch weniger profilierten, aber dafür meinungs- und durchsetzungsstarken Boris Pistorius als Verteidigungsminister zu ernennen, sollten am Kurs und an der Entschlossenheit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik keinen Zweifel mehr lassen.
Litauen – Deutschland: Neue Antworten auf alte Fragen
Und so war es Verteidigungsminister Pistorius, der im Juni die Auseinandersetzung der letzten Monate zwischen Gipfel-Gastgeber Litauen und der deutschen Regierung vorerst beendete. Im Umfeld des vorangegangenen NATO-Gipfels in Madrid im Juni 2022 hatten Bundeskanzler Olaf Scholz und der litauische Präsident Gitanas Nausėda vereinbart, die eFP-Battlegroup in Litauen zu verstärken, um der konkreter gewordenen russischen Bedrohung an der NATO-Ostflanke Rechnung zu tragen. Bereits seit 2017 stellt Deutschland als Führungsnation („Framework Nation“) der NATO-Mission „enhanced Forward Presence“ (eFP) in Litauen Truppen für eine multinationale Battlegroup. Die Zahl der NATO-Soldatinnen und Soldaten in Litauen war nach dem 24. Februar 2022 auf 1.600 aufgestockt worden. Davon rund die Hälfte aus Deutschland. Auch in den anderen Baltischen Staaten und in Polen erhöhten sich die Truppenkontingente. Der „Stolperdraht der NATO“, wie die Mission häufig bezeichnet wird, wurde dadurch erheblich robuster.
Eine bilaterale Vereinbarung zwischen Deutschland und der „Host-Nation“ Litauen im Juni 2022 sah vor, diese Kräfte – je nach Lesart – dauerhaft auf Brigadestärke, rund 4.000 Personen, aufzustocken oder Maßnahmen zu ergreifen, um diese jederzeit aufstocken zu können. Im Zuge der Konkretisierung dieser Pläne kam es zu Spannungen zwischen Vilnius und Berlin. Die Litauer wollten die Brigade als tragendes Element ihrer Sicherheitsarchitektur gerne dauerhaft in voller Stärke im Land haben, auf deutscher Seite hingegen sah man die dauerhafte Stationierung des Brigadestabs mit bedarfsweise aufstockenden deutschen Kräften binnen 10 Tagen als geeigneter an.
Der Wunsch der Litauer wurde mit Blick auf die NATO-Russland-Grundakte (1997) in Berlin lange Zeit abgelehnt. Der Vertrag sieht vor, keine substanziellen Kampftruppen – und als solche zählen Kräfte in Brigadestärke – dauerhaft auf ehemals sowjetisch kontrolliertem Gebiet zu stationieren. Eine Vorgabe, die bisher so strikt eingehalten wurde, dass die deutschen Streitkräfte mit einem nicht unerheblichen logistischen Aufwand nicht nur Personal, sondern auch Großgerät alle sechs Monate in und aus dem Land rotieren müssen. Das Grundlagendokument der Ost-West-Beziehung sah jedoch auch keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und nukleare Drohgebärden von russischer Seite vor, was dazu führte, dass sich unter anderem Polen und die Baltischen Staaten nicht mehr an diese Vorgaben gebunden fühlen.
Am 26. Juni 2023, ein gutes Jahr später, überraschte viele auch deshalb die Ankündigung des deutschen Verteidigungsministers, dass Deutschland nun eine dauerhafte Brigade mit 4.000 Soldatinnen und Soldaten im Partnerland Litauen stationieren möchte. Robust und gefechtsbereit, zur Abschreckung und Verteidigung gegen russische Aggression solle diese Brigade sein.
Ein Vorhaben, das die Bundesregierung nicht zuletzt beim Personal vor eine große – vielleicht die größte – Herausforderung stellen wird. Insgesamt soll die Bundeswehr bis 2031 auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Die Personalstärke war in diesem Juni jedoch das erste Mal seit Juni 2019 wieder unter die Marke von 181.000 gesunken. Orientiert man sich nun am gegebenen Bedrohungsszenario, wird der Kern der Brigade aus mechanisierten und infanteristischen Verbänden bestehen. Kräfte, deren wesentliches Handwerk insbesondere in den sozialdemokratischen Reihen als anachronistisch betrachtet wurde und wird. Es sind eben diese Kampftruppen, die seit dem vergangenen Jahr die Hauptlast der höchstnotwendigen Ausbildung für die Ukrainer auf westlichem Kriegsgerät tragen. Eine weiter zunehmende Auftragsdichte bei abnehmenden Personalzahlen wird den Dienst in den Streitkräften am Ende nicht attraktiver machen.
Sollte sich das geeignete Personal freiwillig und in ausreichender Zahl für die dauerhafte Brigade akquirieren lassen, stellt sich nicht nur die Frage, wie die freiwerdenden Dienstposten im Heimatland nachbesetzt werden, ohne die Erfüllung der bestehenden Aufträge zu gefährden. Auch das Material und die Ausrüstung einer Brigade, wie Kampf- oder Schützenpanzer, Nachtsichtgeräte und Schutzausstattungen werden in Litauen vorgehalten werden müssen, um nicht nur dauerhaft präsent, sondern auch dauerhaft einsatzbereit zu sein. In einem gemeinsamen Tagesbefehl nennen Verteidigungsminister Boris Pistorius und der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer das gesteckte Ziel berechtigterweise ambitioniert. Aber es sei vor allem gelebte Zeitenwende.
Lettland – Kanada: Hilfe zur Selbsthilfe
Welche Rahmenbedingungen für die Stationierung einer Kampfbrigade mit 4.000 Soldatinnen und Soldaten geschaffen werden müssen, zeigt sich im Nachbarland Lettland. Kanada, als Rahmennation der eFP-Mission seit 2017 vor Ort, kündigte ebenfalls auf dem vorletzten NATO-Gipfel in Spanien an, den Aufwuchs einer Brigade in und mit Lettland zu planen. In den Monaten bis zum diesjährigen Zusammentreffen der Partner präzisierte eine gemeinsame Arbeitsgruppe diese Pläne, sodass die Verteidigungsministerinnen beider Länder am Tag vor dem Gipfel in Vilnius eine „Roadmap“ vorstellten, die eine Vorstellung für die Größenordnung der deutsch-litauischen Bestrebungen liefert.
In der Vorbereitungsphase, der ersten von drei Phasen, ordneten die Kanadier die Landstreitkräfte ihrer „NATO Response Force“ formal Lettland zu. Bereits im Januar wurden Elemente eines Brigadestabs verlegt, um die Integration des gesamten Brigadestabs und der zu verlegenden Hauptkräfte in der Multinationalen Division vorzubereiten. Um gegen Ende der folgenden Aufbauphase im Herbst 2024 erstmalig eine Übung in Brigadestärke durchführen zu können, braucht es Infrastruktur, die durch die lettischen Partner gestellt wird. Ein entscheidendes Projekt ist die Einrichtung des Truppenübungsplatzes „Selonia“, der mit 25.000 Hektar Übungsraum zu den größten in Europa zählen wird und Unterkünfte in ausreichender Anzahl bereithalten soll. Für den ersten Bauabschnitt plant Lettland bereits mit 38 Millionen Euro.
Die Bereitstellung von Personal in Brigadestärke liegt für die Kanadier zumindest langfristig auch in lettischer Hand. Der Fahrplan des gemeinsamen Vorhabens unterstreicht an mehreren Stellen die Rolle der kürzlich eingeführten Wehrpflicht in dem Land, um einen stetigen Personalzugang von Seiten des Stationierungslandes zu gewährleisten. Die in der dritten Phase – „Steady State Phase“ genannt – dauerhafte kanadische Truppenstärke wird mit 2.200 Soldaten angegeben, zusätzlich der Bereitschaft hunderte mehr zu verlegen, wenn es benötigt werde.
Dauerhafte Stationierung: Familienzuzug stellt hohe Anforderungen
Diese Zahl liegt nicht nur weit unter dem, was man auf deutscher Seite nun verkündet hat, das aktuelle kanadisch-lettische Dokument enthält darüber hinaus auch keinerlei Informationen über den etwaigen Familienzuzug der kanadischen Soldatinnen und Soldaten. Ein solcher ist aber Teil und Bedingung der deutschen Ankündigung und stellt weit größere Anforderungen an die Infrastruktur im Gastland. Zum einen kann sich die Zahl von 4.000 Stationierten in signifikantem Maße erhöhen, zum anderen wird auch die Art der Unterbringung nicht der entsprechen können, die der üblichen Unterbringung von Soldaten in Einsatzländern entspricht. Schulen, Betreuungs-, Sport-, Kultur- und medizinische Versorgungseinrichtungen müssen bereitstehen, um Soldatinnen und Soldaten dazu zu bringen, sich mit ihren Angehörigen freiwillig für einige Jahre ins Ausland versetzen zu lassen, anstatt nur für wenige Monate in den Einsatz zu gehen.
Estland – Großbritannien: „Wir haben entschieden, die Dinge anders zu machen“
Auch in Estland stieg die Unsicherheit ob des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im vergangenen Jahr. Schon vor dem Überfall Ende Februar 2022 verstärkten die Briten als Führungsnation der multinationalen eFP-Battlegroup ihre Präsenz im kleinsten der drei Baltischen Staaten. Mit der Verlegung einer zusätzlichen Battlegroup in Bataillonsstärke verdoppelten die Briten die Zahl ihrer Kräfte vor Ort auf mehr als 1.600. Beratungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Estland hinsichtlich der zukünftigen Truppenpräsenz führten im zweiten Halbjahr 2022 jedoch zu einem gänzlich anderen Ansatz als dem der „Host- und Framework Nations“ Lettland und Kanada bzw. Litauen und Deutschland. Es wurde beschlossen, die Stationierung des zusätzlichen britischen Verbands nicht über die nächste Rotation hinaus zu verlängern, sondern eine eigenständige britische Brigade in hoher Einsatzbereitschaft im Heimatland bereitzuhalten. Um eine schnelle Integration der Kräfte jederzeit gewährleisten zu können, sei die Kommandostruktur im britischen eFP-Hauptquartier in Estland bereits auf Brigadeniveau angehoben worden.
Auf estnischer Seite scheint man mit dieser gemeinsamen Entscheidung in Politik und Militär gut leben zu können. Die amtierende Ministerpräsidentin Kaja Kallas sagte gegenüber dem öffentlichen estnischen Rundfunk, es sei kein Problem, dass die britischen Truppen nicht dauerhaft im Land seien, wie man es in Litauen und Lettland plane. Dass auch die nicht dauerhafte Stationierung nicht ohne infrastrukturellen und damit finanziellen Aufwand der „Host-Nations“ auskommt, zeigt das Projekt zur Errichtung von zwei sog. „Reception areas“. Diese sollen als Bereitstellungsraum für 1.600 zusätzliche Soldaten der Alliierten, Unterkünfte und Versorgungseinrichtungen auf dem Weg in den Übungs- und im Ernstfall Einsatzraum bieten. Bereits die Fördersumme durch die NATO beträgt hierfür 40 Mio. Euro. Martin Herem, Befehlshaber der estnischen Verteidigungsstreitkräfte, sagte, man habe entschieden, die Dinge anders zu machen. Manche Länder seien bereit, hunderte Millionen Euro in Infrastruktur zu investieren, um alliierte Truppen im Land zu behalten, während andere Länder bereit seien, Tausende ihrer Soldaten und deren Familien in ein fremdes Land zu schicken. Sie – die Esten und Briten – werden dieses Geld in militärische Fähigkeiten investieren und die schnelle Verlegung der Brigade nach Estland trainieren.
Eckpunkte unklar: Planung bis Ende 2023
Die letzten Äußerungen auf litauischer und deutscher Seite lassen vermuten, dass wichtige Eckpunkte der dauerhaften deutschen Brigade in Litauen noch zur Diskussion stehen. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, hat zu der Frage, wie seine Soldaten davon überzeugt werden sollen, für mehrere Jahre einen Dienstposten in Litauen zu besetzen, eine klare Vorstellung. Man müsse Bedingungen schaffen, die so gut seien, dass sich die Soldatinnen und Soldaten gegen Ende der Verwendung fragen würden, warum sie eigentlich wieder zurück nach Deutschland gehen sollten. Die jährlichen Kosten hierfür sollen sich laut ersten Prognosen auf ca. 190 Mio. Euro belaufen.
Der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas sagte auch mit Blick auf den Familienzuzug, man müsse abwarten und sehen, was passiert. Aber wenn derartiges gebraucht werden würde, denke er, dass Litauen sicherlich in der Lage sei, das zu leisten. Die Ministerien beider Länder kündigten an, bis zum vierten Quartal 2023 gemeinsam einen detaillierteren Plan mit konkreten Maßnahmen, ähnlich den „Roadmaps“ der Partner, erarbeiten zu wollen.
Fazit
Erst am Ende wird sich zeigen, welche jeweiligen Kosten und Herausforderungen die drei unterschiedlichen Ansätze der Baltischen Länder und ihrer Partner nach sich ziehen. In keinem Fall werden sie gering sein, aber in jedem Fall eine gute Investition in die europäische Sicherheit darstellen. Es ist der deutschen Seite zu wünschen, dass das Brigade-Projekt trotz der unverändert angespannten Haushaltslage im Verteidigungsministerium und der zähen Umsetzung der Zeitenwende durch die Bundesregierung auf die Strecke gebracht werden kann.
Wie eng und schnell man dieses Wendemanöver in der Regierung bereit ist zu fahren, warf dabei zuletzt Fragen auf. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro – mit einer Grundgesetzänderung ursprünglich auf den Weg gebracht, um zusätzlich zu einem höheren Wehretat die bestehenden Defizite in den Streitkräften zu beseitigen – dient nun als Schemel, um das seit Jahren verfehlte Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Doch auch das Sondervermögen kann nur zeitlich begrenzt dazu beitragen, den eigenen Verpflichtungen nachzukommen. In der kürzlich veröffentlichten ersten nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland verschrieb man sich dem Ziel, diese Marke lediglich im mehrjährigen Durchschnitt „zu den NATO-Fähigkeitszielen“ erreichen zu wollen. Auch das genaue Ziel der Investitionen ist noch nicht genau definiert: Fließen diese hauptsächlich in die Truppe oder auch in andere Bereiche, wie humanitäre Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit?
Im jüngst verabschiedeten Haushaltsfinanzierungsgesetz sollte das in Vilnius erneut bekräftigte Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel auch gesetzlich verankert werden. Auf Drängen des Auswärtigen Amtes soll die jährliche Quote vor der Verabschiedung im Kabinett aus dem Entwurf gestrichen worden sein. Nach einem Entschluss, eine einsatzbereite und verteidigungsfähige Bundeswehr und damit auch das Brigade-Vorhaben nachhaltig finanzieren zu wollen, klingt das nicht.
Eine gelungene Umsetzung wäre ein starkes Zeichen, dass die neu entdeckte sicherheitspolitische Schaffenskraft und Verantwortungsbereitschaft gegenüber den Partnern, aber insbesondere gegenüber den strategischen Gegenspielern, allen voran Russland, unterstreicht. Nicht nur in diesem Hinblick wäre ein Scheitern fatal. Die US-Wahlen im Herbst 2024 werden zeigen, wie gut man im transatlantischen Bündnis seit dem letzten Jahr zusammengewachsen ist. Ein derzeit möglicher republikanischer Präsidentschaftskandidat Trump könnte sich mit dem Scheitern Deutschlands in den Thesen seiner ersten Amtszeit bestätigt fühlen. Der über die letzten Jahre stetig gespannte Stolperdraht an der NATO-Ostflanke würde damit zum eigenen Fallstrick. Allerdings kann die insgesamt verstärkte Präsenz in den Baltischen Staaten auch als Chance zur Neufokussierung und Klarstellung der eigenen Stärke gedeutet werden: Vom Stolperdraht zum schweren Geschütz.
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