Gründe für die vorgezogenen Neuwahlen
Am 9. November 2023 rief der portugiesische Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa vorgezogene Neuwahlen für den 10. März 2024 aus. Anlass war der überraschende Rücktritt des portugiesischen Premierministers António Costa, nachdem im Zuge eines Ermittlungsverfahrens u.a. Costas Kabinettschef Vítor Escária und ein befreundeter Unternehmer wegen des Verdachtes illegaler Vorteilsnahme, Korruption und Bestechung verhaftet worden waren. Zusätzlich eröffnete der Oberste Gerichtshof Portugals eine separate Untersuchung hinsichtlich der Rolle Costas bei der Lizenzvergabe zweier Lithiumminen und weiterer Investitionen in Erneuerbare Energien.
Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa erfüllte nicht den Wunsch Costas, seinen Nachfolger durch seine sozialistische Fraktion wählen zu lassen, die über eine absolute Mehrheit verfügte. Aufgrund der aufgewühlten politischen und sozialen Stimmung im Land, vielen Demonstrationen und einer zweistelligen Zahl von Korruptionsfällen und Rücktritten von Spitzenpersonal der sozialistischen Regierung entschied sich Rebelo de Sousa, das Parlament aufzulösen. Den späten Termin für die vorgezogenen Neuwahlen erst für den 10. März 2024, also Monate nach dem Rücktritt Costas begründete der Staatspräsident vor allem mit der Notwendigkeit, dass für 2024 ein ordentlicher Haushalt verabschiedet werden müsse, um nicht noch mehr Instabilität heraufzubeschwören.
Die Wahlen fielen zeitlich mit dem 50-jährigen Jubiläum der sogenannten Nelkenrevolution zusammen. Im April 1974 begann die demokratische Transition in Portugal, die in die Verabschiedung der portugiesischen Verfassung von 1976 mündete. Bis 2015 alternierten die Mitte-links orientierte Sozialistische Partei (PS) und die Mitte-Rechts orientierte Sozialdemokratische Partei (PSD) an der Macht, wobei jeweils der relative Wahlverlierer eine Minderheitsregierung des Wahlgewinners tolerierte, um den Einfluss kleiner Randparteien zu beschränken. Diese Form des Bipartidismo endete mit den Parlamentswahlen 2015, den ersten nach dem Rettungspaket der internationalen Institutionen von 2011 (Troika) und den darauffolgenden Jahren eines strikten Sparkurses. So gewann die liberalkonservative Partido Social Democrata (PSD) 2015 die Wahlen, aber die Sozialistische Partei (Partido Socialista, PS) bildete eine von António Costa geführte Regierung mit parlamentarischer Unterstützung der beiden linksextremen Parteien CDU und BE.
Wahlergebnisse
Die Umfragen, die noch bei den Wahlen von 2022 signifikant vom tatsächlichen Wahlergebnis abgewichen waren, zeigten sich bei dieser Wahl weitgehend bestätigt. Nur die Aliança Democrática erreichte in den Prognosen einige Prozentpunkte mehr. Allerdings müssen noch bis zum 20 März die zwei Auslandswahlbezirke „Europa“ und „Außereuropäisches Ausland“ mit je 2 Mandaten ausgezählt werden. Erst dann wird das offizielle Endergebnis feststehen.
Zentrale Trends und Ergebnisse
Das Vertrauen in die traditionellen Parteien sinkt weiter, was sich jedoch nicht wie befürchtet in einer steigenden Wahlenthaltung widerspiegelte, sondern vielmehr zu einer massiven Zunahme der Protestwähler führte. Die Wahlbeteiligung lag bei für Portugal hohen 66,23%.
- Der vorläufige Wahlgewinner ist die liberalkonservative, Mitte-rechts-gerichtete Wahlkoalition Aliança Democrática (AD) mit ihrem parteiintern nicht unumstrittenen Spitzenkandidaten Luís Montenegro (Partido Social Democrata, PSD). Sie ist mit gegenwärtig 79 Mandaten auf dem ersten Platz. Daraus leitet Montenegro den Anspruch ab, eine Regierung unter seiner Führung zu bilden. Abzuwarten bleibt, ob Staatspräsident Rebelo de Sousa ihm den Auftrag zur Regierungsbildung geben wird. Über die Ernennung muss im Parlament nicht mehr abgestimmt werden.
Die AD hatte ausgeglichen weibliche und männliche Wähler ansprechen können. Ihre Hauptwählerschaft liegt in der mittleren Alterskohorte von 35 und 64 Jahren (58 %), weniger jedoch bei den jüngeren Wählern. 43 % ihrer Wähler haben einen höheren Bildungsabschluss, 37 % einen Sekundarschulabschluss - und nur 21 % haben einen niedrigen Bildungsabschluss.
- Dank ihres überproportionalen Wachstums gilt die rechtspopulistische Chega, die erstmals über eine Millionen Stimmen erreichte, als der Hauptgewinner dieser Wahl. Unter ihrem kommunikationsstarken, populistischen Parteiführer André Ventura vervierfachte Chega die Zahl ihrer Abgeordneten von bisher 12 auf nun mindestens 48 Abgeordnete. Ventura fordert Luís Montenegro dazu auf, den Wählerwillen der Portugiesen zu akzeptieren und eine stabile Regierung aus AD und Chega zu bilden, die über eine absolute Mehrheit verfügte.
- Der größte Wahlverlierer ist die Sozialistische Partei (PS), die mit dem Spitzenkandidaten Pedro Nuno Santos antrat. Santos, der vor etwas mehr als einem Jahr ebenfalls wegen eines Abfindungsskandals bei der staatlichen Fluglinie TAP als damaliger Infrastrukturminister zurücktreten musste, vermochte noch nicht die Lücke auszufüllen, die Antonio Costa hinterlässt. Die Sozialisten verloren 43 Mandate und ihre absolute Mehrheit, fallen jedoch mit 77 errungenen Mandaten nur knapp hinter die AD zurück (28,66% vs. 29,49%),
- Weder der linke noch der rechte Block erreichen in der Addition ihrer Parteien eine absolute Mehrheit im Parlament. Der Substanzverlust der früheren linksextremistischen bzw. linkspopulistischen Koalitionspartnern der Sozialisten, die Kommunistische Partei (CDU) und der Linke Block (BE), setzt sich auch bei diesen Wahlen fort. Für linksgerichtete Wähler wird dementgegen die progressive Partei Livre zunehmend interessant.
Auf der rechten Seite bleiben die Aliança Democrática (AD) und die liberale Initiative (IL), die 8 Mandate erringen konnte, ebenfalls unterhalb der Grenze zur absoluten Mehrheit. Diese würde rechnerisch nur gemeinsam mit Chega möglich. Luis Montenegro hat diese Option im Wahlkampf und am Wahlabend jedoch kategorisch ausgeschlossen.
Inhaltliche Schlaglichter des Wahlkampfes
Aliança Democrática (Demokratische Allianz, AD)
Einige Tage vor Weihnachten 2023 kündigten die liberalkonservative PSD und die konservative CDS-PP (und später auch die PPM, die Monarchistische Partei) an, dass sie bei den Parlamentswahlen 2024 in einer Koalition namens Aliança Democrática antreten würden, einer Neuauflage einer erfolgreichen Koalition, die zwischen 1979 und 1983 bestand, als Francisco Sá Carneiro der PSD-Vorsitzende war. Mit der Wahl des Namens sollte "eine Verbindung zu Zeiten des Wandels, des Reformismus und des Kampfes gegen die radikale Linke" hergestellt werden.
Unter der Führung des PSD-Vorsitzenden Luís Montenegro verspricht die neue AD "einen wirksamen Wandel in Portugal“, "mit viel mehr Ehrgeiz, mit dem Ziel eines hohen Wohlstandsniveaus, eines Wirtschafts- und Lohnwachstums und Chancen für alle Portugiesen". Nuno Melo, der Vorsitzende der CDS-PP und damit Co-Vorsitzender der AD, wirbt für eine Regierungsführung, die auf Ethik, Integrität und politischer Verantwortung sowie auf einem unbedingten Respekt der Gewaltenteilung und einem starken Engagement im Kampf gegen Korruption beruht.
Montenegro versteht sich als "Versöhner", der mit dem Gespenst der Sparpolitik der Vergangenheit brechen will. Viele Portugiesen assoziieren die Krisenjahre und die Troika, die die PSD damals zu diesem Sparkurs zwang, immer noch mit hoher Arbeitslosigkeit, mit Wohnungsknappheit, Austeritätspolitik und mit Kürzungen bei Gehältern und Renten. Mit einer Kombination aus liberalen Anreizen für Produktionssteigerungen und Steuersenkungen bei Älteren, den Rentnern, der Jugend, dem Mittelstand und den Unternehmern will er wirtschaftspolitische Notwendigkeiten mit sozialpolitisch motivierten Maßnahmen verknüpfen und damit zur Versöhnung der portugiesischen Gesellschaft beitragen.
In dieser Linie versprach AD im Wahlkampf unter anderem den Ausbau der Unterstützungsmaßnahmen für die am stärksten benachteiligten älteren Menschen (höhere Zuschüsse, kostenlose Medikamente usw.), die Senkung der Einkommenssteuer für junge Menschen bis 35 Jahre und der Körperschaftssteuer auf bis zu 15%, eine Steuerbefreiung für den ersten Hauskauf sowie eine bessere Versorgung mit Hausärzten und Krankenschwestern für jeden portugiesischen Bürger.
Partido Socialista (Sozialistische Partei, PS)
Nuno Santos versicherte im Wahlkampf, dass er für "Portugal als Ganzes" kämpfen werde, einschließlich der Jugend, der älteren Menschen, der Frauen, der Arbeiter und der Geschäftsleute. Er bekräftigte, er wolle das öffentliche Gesundheitssystem retten, für wirtschaftliche Stabilität eintreten, über starke öffentliche Finanzen verfügen und die Staatsverschuldung reduzieren. Außerdem versprach er, sicherzustellen, dass die Jugend nicht für bessere Löhne und Lebensqualität ins Ausland abwandern muss und die Regierung den Sozialstaat weiter ausbaue und modernisiere, wobei die Qualifikation der Beschäftigten erhöht und die Wirtschaft diversifiziert werden solle.
Des Weiteren versprach die PS, das Mindesteinkommen bis 2028 auf 1.000 EUR anzuheben, die Rentenerhöhungen an die Lohnentwicklung zu koppeln, die Finanzierungsquellen der Sozialversicherung zu erweitern und die Dienstleistungen des Nationalen Gesundheitsdienstes zu verstärken (einschließlich der Zahngesundheit).
Es konnte den Sozialisten nicht gelingen, sich in kurzer Zeit das Vertrauen als zukünftige Gestaltungskraft aufzubauen, hatte diese Partei doch seit 8 Jahren regiert, die letzten zwei Jahre sogar mit absoluter Mehrheit. Sie ist maßgeblich für die Zustände in den Problemfeldern wie Wohnen, Erziehung, Migration etc. und von denen weiter unten einige skizziert werden, verantwortlich. Zusätzlich waren es vor allem Korruptionsfälle in ihren Reihen, die der politischen Kultur weiter geschadet haben und zur Parlamentsauflösung geführt hatten.
Aus dieser Perspektive ist das Abschneiden der Sozialisten trotz des Einbruches erstaunlich. Es gibt offenbar eine feste Wählerschaft, die mittelbar oder unmittelbar von öffentlichen Zuwendungen abhängt, sei es als Bezieher von Pensionen, als Beschäftigte im stark ausgebauten staatlichen Sektor oder als Subventionsempfänger. Diesen Personengruppen sicherte Santos Besitzstandswahrung zu und beschwor zugleich die These, dass eine konservativ-liberale Regierung diese sozialen Errungenschaften wieder abbauen werde.
Am Wahlabend waren auch selbstkritische Äußerungen im Hinblick auf den Erfolg von Chega zu vernehmen. Interims-Premierminister António Costa wurde in Público.pt mit den Worten zitiert: „Wer acht Jahre lang Ministerpräsident war, trägt mit Sicherheit Verantwortung für die folgenden Wahlergebnisse“.
Chega: (“Basta”-Partei, CH)
Die “Basta”-Partei ist eine rechtspopulistische Partei mit Verbindungen zu anderen rechtspopulistischen Führern wie bspw. Santiago Abascal in Spanien (Vox) und Marine Le Pen in Frankreich (RN). Sie wurde erst 2019 gegründet. Bei den Parlamentswahlen 2019 zog der Parteivorsitzende André Ventura erstmals (als einziger Abgeordneter) mit Chega in die portugiesische Abgeordnetenkammer ein. Bei den darauffolgenden Wahlen im Jahr 2022 steigerte sich das Ergebnis dieser Partei von einem auf zwölf Mandate und nun sogar auf 48 Mandate.
Chega bezeichnet sich selbst als rechtsgerichtete, konservative, reformistische, liberale und nationalistische Partei, weshalb sie mindestens als rechtspopulistisch eingestuft werden muss. Die Familie steht als „Garant der sozialen und politischen Stabilität“ im Zentrum ihrer Weltanschauung, weshalb Ventura die Schaffung eines Familienministeriums fordert. Chega ist euroskeptisch und tritt u.a. für Steuersenkungen, einen besseren Grenzschutz zur Migrationskontrolle, die Abschaffung des Bildungsministeriums und die Abwicklung der öffentlichen Gesundheitsversorgung ein. Für Aufsehen sorgten radikale Forderungen wie die Einführung der Todesstrafe und die chemische Kastration von Sexualverbrechern.
Im Kern nutzte Chega im Wahlkampf die zentralen politischen Baustellen gnadenlos für sich aus: der Kaufkraftverlust durch hohe Inflation, ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem, die Wohnungsnot sowie Verwerfungen im Bildungssystem. Das sind Bereiche, die Millionen von Menschen existenziell betreffen. Die vielen Korruptionsskandale in der sozialistischen Regierung munitionierten zudem sein für deutsche Beobachter schwer erträgliches Leitmotiv, das politische System „säubern“ zu wollen. Der Zuwachs auf über 1 Million Stimmen zeugt davon, dass die Strategie verfangen hat, sozial und politisch enttäuschte Menschen zu einer Protestwahl zu bewegen. Im Übrigen löste Chega faktisch die Linksextremisten in der Funktion als Sammelbecken der Unzufriedenen ab.
Chega hat den höchsten proportionalen Anteil an männlichen Wählern (58 %) und spricht laut einer Studie des Umfrageinstituts CESOP der Universidade de Católica überproportional deutlich die jüngsten Wähler an (18-34 Jahre). Das dürfte maßgeblich auf sehr erfolgreiche Social-Media-Strategien zurückzuführen sein. Die Klick- und Followerzahlen von Ventura sind in Relation signifikant höher als bei den Spitzen der übrigen Parteien. Interessanterweise erhält Chega bei den älteren Wählern ab 65 Jahren die geringste Zustimmung. Auch ist der Anteil an Hochschulabsolventen (22%) bei diesen Wählern am niedrigsten, während 55% einen Sekundarschulabschluss innehaben.
Iniciativa Liberal (Liberale Initiative, IL)
Die Liberale Initiative unter der Führung von Rui Rocha ist eine durchweg liberale Partei, die Ideen des wirtschaftlichen Liberalismus mit gesellschaftspolitischen Vorstellungen des liberalen Progressismus, bspw. in Fragen der Sexualität und des Drogenkonsums, und dem politischen Liberalismus verbindet. IL konnte trotz interner Streitigkeiten im Vorfeld und generell höherer Erwartungen die bisherigen acht Abgeordnetenmandate verteidigen, was angesichts des schwierigen Umfelds als Erfolg gilt. Sollte Montenegro zum Ministerpräsidenten ernannt werden, gilt es als wahrscheinlich, dass die IL in der Abgeordnetenkammer mit der AD punktuelle Vereinbarungen aushandeln könnte. Dies wäre insbesondere für die Verabschiedung des Staatshaushalts 2025 relevant.
Bloco de Esquerda (Linker Block, BE)
Der linksextremistische Linke Block stützte von 2015 bis 2022 zusammen mit der Kommunistischen Partei CDU (und zeitweise auch den portugiesischen Grünen) die erste und zweite Minderheitsregierung der Sozialisten unter Führung des Premiers António Costa. Doch seit der Block und die Kommunisten Ende 2021 die Haushaltsverhandlungen mit Costa platzen ließen, weshalb 2022 Neuwahlen ausgerufen werden mussten, hat die Partei unter Führung ihrer Spitzenkandidatin Mariana Mortágua an Relevanz verloren. Von den 19 Mandaten, die der Block 2015 gewinnen und 2019 bestätigen konnte, bleiben mittlerweile nur noch 5 Abgeordnete übrig.
Coligação Democrática Unitária (Unitarische demokratische Koalition, CDU)
Ähnlich ergeht es den linksextremen Kommunisten, die bei dieser Wahl in einer festen Wahlkoalition mit den portugiesischen Grünen antraten. Kamen die Kommunisten 2015 noch auf 17, und 2019 auf immerhin noch 12 Abgeordnetensitze, so rutschten sie 2022 auf 6 Mandate und nun im Jahr 2024 trotz Wahlkoalition auf 4 Mandate ab. Auch wenn die endgültigen Wahlanalysen noch abgewartet werden müssen, so zeichnet sich ab, dass es in einigen Gegenden Portugals eine relevante Wählerbewegung von der extremen Linken hin zu Chega gegeben zu haben scheint. Dies berichten auch Beobachter vor Ort.
In der Gemeinde Silves (Faro), bspw., einer Hochburg der Kommunisten, die dort auf Lokalebene regieren, konnte Chega bei diesen Wahlen den höchsten Stimmenanteil gewinnen.
Livre (Frei)
Livre (Frei) ist eine 2014 gegründete, progressistische und linksgerichtete Partei, die viele unzufriedene Wähler der Sozialistischen Partei anspricht. Spitzenkandidat Rui Tavares gilt als moderat und besonnen, weshalb sein Beliebtheitsgrad in der Bevölkerung relativ hoch ist. Bei dieser Gruppierung sind Themen wie Migration und Umwelt prominenter vertreten. Das Programm liest sich unverbrauchter als die der politischen Wettbewerber. Livre könnte sich aufgrund ideologischer Überschneidungen künftig als Koalitions- oder Verhandlungspartner mit den Sozialisten herauskristallisieren. Die Beliebtheit ihres Spitzenkandidaten, gepaart mit der Unzufriedenheit vieler PS-Wähler, diente der Formation, um ihren Wähleranteil von rund 70.000 auf knapp 200.000 Stimmen zu erhöhen und damit vier Mandate zu erringen.
Mögliche Gründe für das Wahlverhalten – Gesamtbewertung
In Interviews mit portugiesischen Partnerinstitutionen, Analysen von portugiesischen Think Tanks und der portugiesischen Presse allgemein werden nachfolgende Sachverhalte als ursächlich für das Wahlergebnis beschrieben:
Sozioökonomische Spannungen trotz positiver makroökonomischer Rahmendaten
Die makroökonomischen Kennzahlen legen nahe, dass es der portugiesischen Wirtschaft gut gehe. So wuchs die portugiesische Wirtschaft 2021 um 6,2%, und 2022 um 6,9% - allerdings nach einem vorhergehenden BIP-Einbruch aufgrund der Corona-Krise im Jahr 2020 von 8,3%. 2023 betrug das Wachstum noch 2,4%. Auch die Staatsverschuldung sank 2023 erstmals seit 2009 auf unter 100% (2023: 98,7%, 2022: 112,00%).
Doch bei vielen Privathaushalten kommt von diesen positiven Kennzahlen nicht viel an. Im Gegenteil: das durchschnittliche Einkommen stagniert, die Lebenshaltungskosten in den Großstädten nehmen zu und die Jugendarbeitslosigkeit konnte in den letzten Jahren nicht gesenkt werden und verharrt auf hohem Niveau bei rund 20%.
Dem Eurobarometer zufolge bewerteten rund 80% der Portugiesen die wirtschaftliche Lage des Landes im Herbst 2023 als schlecht oder sehr schlecht. Vor allem die steigenden Lebenshaltungskosten besorgen die Menschen. Die Verbraucherpreise haben sich 2023 um 4,3%, 2022 sogar um 7,8% erhöht, wobei die Preise insbesondere im Bereich der Lebensmittel und Mieten, d.h. im Bereich derjenigen Kosten, für die Beschäftigte mit niedrigen Einkommen einen Großteil ihrer Einkünfte aufbringen müssen, noch überproportional gestiegen sind.
Wohnungsknappheit
Auch das Wohnen wurde teurer. Im Zeitraum von Dezember 2022 bis Dezember 2023 stiegen die Mieten in Porto um 23%. Während der Durchschnittslohn aktuell bei monatlich ca. 1.041€ liegt, betrug schon im Juli 2023 die Durchschnittsmiete im Raum Lissabon ca. 1.463€.Damit kämpft vor allem die Jugend. Rund 30% der portugiesischen Jugend lebt deshalb heute im Ausland. Viele derjenigen, die sich ihren Lebensunterhalt nicht im Ausland verdienen können, müssen zurück zu ihren Eltern ziehen. Angesichts dieser Diskrepanz sind hohe Armutszahlen keine Überraschung: 2,1 Millionen Portugiesen, das entspricht 20% der Bevölkerung, gelten als arm oder von Armut bedroht. Dies betrifft vor allem Kinder, Jugendliche und Alleinerziehende. Ohne staatliche Sozialhilfen wäre diese Zahl doppelt so hoch. Die makroökonomische Erholung kommt also nach acht Jahren sozialistischer Regierung nicht überall in der Bevölkerung an, und insbesondere nicht bei Erwerbstätigen mit niedrigen Einkommen.
Hohe Mieten und Immobilienpreise, die aus der steigenden Inflation, steigenden Zinssätze (die meisten Portugiesen schließen typischerweise Hypotheken mit variablen Zinssätzen ab) und fehlenden Investitionen der öffentlichen Hand, gepaart mit einem Investitionsstau privater Investoren resultieren, erschweren Menschen mit niedrigen – und zunehmend auch mittleren - Einkommen die Möglichkeit, Zugang zu einem angemessenen Wohnraum zu bekommen. Die öffentliche Hand in Portugal zeichnet nur für 2% der Wohnimmobilien verantwortlich.
Korruption und Arroganz der Macht in der Regierung Costa
Seit 2022 sah sich die Regierung Costa mit mehreren Skandalen innerhalb der eigenen Regierung konfrontiert. Insgesamt tauschte Costa in nur zwei Jahren zehn Spitzenvertreter aus. Einige davon umrankten die Fluglinie TAP, die sich überwiegend in Staatshand befindet und in die der neue Parteivorsitzende Santos verwickelt war, ohne dass es seine neue Karriere behindert hätte. Den bisherigen Schlusspunkt der Skandale setzte die „Operation Influencer“, im Rahmen derer gegen enge Vertraute Costas strafrechtlich ermittelt wird.
Nationaler Gesundheitsdienst am Boden
Die Unzufriedenheit der Portugiesen mit dem nationalen Gesundheitsdienst besteht zwar schon länger als nur in den letzten drei Legislaturperioden Costas. Trotzdem gewann dieses Thema in den vergangenen beiden Jahren besondere Relevanz und Dringlichkeit. Denn 1,7 Millionen Portugiesen haben mittlerweile keinen zugewiesenen Hausarzt mehr. Für Facharzttermine bestehen mittlerweile Wartezeiten von bis zu 3 Jahren. Das medizinische Personal ist zudem unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen. Die häufigsten Kritikpunkte lauten niedrige Löhne, "eingefrorene" Karrieren ohne Aufstiegsmöglichkeiten und Personalmangel. Zuletzt wurde immer häufiger über Chaos in den Notaufnahmen der großen Krankenhäuser mit Wartezeiten von mehr als 10 Stunden und vielen geschlossenen Einrichtungen berichtet.
Aus ideologischen Gründen hatte die Regierung Costa die öffentlich-privaten Partnerschaften im Krankenhauswesen abgeschafft, obwohl der letzte Bericht des Rechnungshofs anerkennt, dass dieses Verwaltungsmodell in den Krankenhäusern von Braga, Cascais, Loures und Vila Franca de Xira Millionen von Euro für die öffentlichen Finanzen einsparen konnte und hervorragende medizinische Leistungen erbrachte.
Bildung – auch als Misere empfunden
Die Performance der Costa-Regierung im Bereich des öffentlichen Bildungswesens stand hinsichtlich zweier unterschiedlicher Aspekte im Fokus des portugiesischen Wahlkampfes.
Einerseits sind die Eltern unzufrieden mit dem zunehmenden Lehrermangel an öffentlichen Schulen. Aufgrund des schwierigen Zugangs zur Lehrerlaufbahn und der Vergabe vieler befristeter und schlecht bezahlter (Teilzeit-) Stellen durch die öffentliche Verwaltung wird der Beruf zunehmend unattraktiv für junge Menschen. Zugleich steigt das Durchschnittsalter der aktiven Lehrer jedoch stark an: in allen Bildungsstufen, von 3 bis 18 Jahren, sowohl in öffentlichen als auch in privaten Schulen, sind mehr als 80% der Lehrer älter als 40 Jahre, und fast 50% sind älter als 50 Jahre - jedes Jahr geht zudem ein erheblicher Teil der Lehrer in den Ruhestand.
Andererseits war die Costa-Regierung nicht in der Lage, in den vergangenen Jahren einen Streit mit den Lehrergewerkschaften zu lösen, der zu Streiks und damit dem Ausfall von Schulunterricht führte: In den Jahren der Finanzkrise und nach dem internationalen Rettungspaket von 2011 war es aufgrund von Sparmaßnahmen und der Notwendigkeit, im öffentlichen Dienst Geld zu sparen, nicht möglich, Lehrkräfte innerhalb ihrer Laufbahn zu befördern, weshalb die Lehrerlaufbahnen damals für über sechs Jahre „eingefroren werden mussten“. Die verlorenen Gehaltsanpassungen fordern die Gewerkschaften nun zurück, doch Costa entgegnete, dass, wenn die Lehrer diese Zeit und das Geld zurückbekommen, die Regierung das Gleiche mit anderen Laufbahnen machen muss, was finanziell unbezahlbar wäre (allein ein Ausgleich der Lehrergehälter würde zwischen 330 und 575 Mio. EUR an Zusatzkosten verursachen). Die meisten Oppositionsparteien (außer die Iniciativa Liberal) versprachen jedoch im Wahlkampf, die Angleichung vorzunehmen.
Vorläufiges Fazit
In Anbetracht der skizzierten sozialen und ökonomischen Lebenslage von Millionen Portugiesen halten wir die These vom „Rechts-Ruck“ in Portugal zur Beschreibung des Wahlergebnisses für zu undifferenziert, wenn nicht sogar für unzutreffend.
Zum einen gab es keinen „Ruck“, also eine Art plötzliche oder überraschende Wendung. Die hohe Unzufriedenheit in essenziellen Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit oder Bildung ist seit langem sichtbar.
Zum anderen insinuiert der Begriff „Rechts“ insbesondere aus deutscher Perspektive, dass nun fast ein Fünftel der portugiesischen Gesellschaft autoritär, nationalistisch, xenophob oder europafeindlich geworden wäre. Wir erkennen weder in den Wahlprogrammen noch in den Debatten diese ideologischen Auseinandersetzungen.
Es dürfte sich vielmehr um eine Protest- und Denkzettelwahl gehandelt haben, gepaart mit einem Repräsentationsdefizit und einem tiefen Misstrauen gegenüber den politischen Kräften, die seit langem an der Macht sind. In den Wahlkreisen vor allem in der Algarve, in denen Chega nun stärkste Kraft geworden ist, hatten zuvor die sozialistische oder kommunistische Partei die stärksten Ergebnisse.
Fehlende Mehrheitsverhältnisse und eine von rechts wie links attackierte und blockierte Minderheitsregierung verspricht wenig politische Stabilität, geschweige denn eine politische Handlungsstärke, die das Land nun benötigt. Die Portugiesen haben jedoch immer wieder bewiesen, dass sie Meister in Aushandlungsprozessen und eben nicht radikal sind. Das lässt vermuten, dass jenseits der scharfen Abgrenzungsrhetorik am Wahlabend und am Tag danach perspektivisch doch punktuelle Verhandlungslösungen gefunden werden.
Es ist wahrscheinlich, dass Luís Montenegro von der AD durch den Staatspräsidenten Marcelo Rebelo de Sousa zum Ministerpräsidenten ernannt wird, wenn das offizielle Endergebnis seine relative Mehrheit bestätigen sollte. Sein einziger möglicher Koalitionspartner, der bereit wäre, mit ihm zusammenzuarbeiten, wäre Rui Rocha von der Iniciativa Liberal. Diese stellt jedoch nur acht Abgeordnete. Beide zusammen verfügen folglich mit nur 87 von 116 notwendigen Mandaten nicht über eine eigene Mehrheit.
Pedro Nuno Santos von der PS will die Partei nach Costas Rücktritt neu aufbauen und kündigte deshalb an, die baldige Vorlage eines Regierungsprogramms durch Luís Montenegro nicht zu blockieren. Allerdings schloss Nuno Santos kategorisch aus, mit der AD im Herbst einen Haushalt verhandeln zu wollen.
Die PS verweigert somit der anderen großen portugiesischen Volkspartei der Mitte von vornherein jegliche Kooperation, obwohl die PSD jegliche Zusammenarbeit mit Chega ausschließt. Público.pt erinnert daran, dass 1996 der Oppositionsführer Marcelo Rebelo de Sousa (damals PSD) den Haushalt von António Guterres (PS) unterstützte, um die Vorbereitungen zum Eintritt in den Euro nicht zu gefährden. Sollten folglich aufgrund dieser kategorischen Verweigerungshaltung von Pedro Nuno Santos (PS) bald Neuwahlen notwendig werden, wäre die PS für eine Stärkung von Chega mitverantwortlich, falls diese erneut ähnlich gut abschneiden würde. Die PS benützte damit Chega als Druckmittel, um die PSD zu schwächen, was als Nebeneffekt das politische System weiter erodieren lassen könnte. Zumal viele Enttäuschte Chega aufgrund der letzten chaotischen Wahlperiode gewählt haben dürften.
André Ventura von Chega fordert dementgegen von Luís Montenegro eine aktive Regierungsbeteiligung. Sollte er diese nicht bekommen, droht er mit einer Fundamentalopposition. So bleibt abzuwarten, ob sich die linksgerichteten Sozialisten mit den Rechtspopulisten tatsächlich zusammen in einer negativen Blockadehaltung verschanzen werden, die der PSD das Regieren unmöglich machen würde.
Diese Regierung wird jedoch in jedem Falle sehr fragil sein und es ist fraglich, wie Montenegro im Herbst einen Haushalt verabschieden kann.
Zeitplan
- bis zum 15. März 2024: der Staatspräsident hört die Parteien an (er ist nicht daran gebunden, den meistgewählten Spitzenkandidaten zum Premierminister zu ernennen)
- 20. März 2024: Bekanntgabe der gewonnenen Mandate der beiden ausstehenden Wahlkreise Europa/ außereuropäisches Ausland
- 25. März 2024: offizielle Bekanntgabe der Wahlergebnisse
- Anfang April 2024: Konstitution der Legislaturperiode in der Assembleia
- Anfang April 2024: Wahl des neuen Parlamentspräsidenten
- April 2024: eventuell Einsetzung der neuen Regierung
- April/ Mai 2024: eventuell Vorstellung des neuen Regierungsprogramms (die Opposition bedarf einer absoluten Mehrheit, um dieses abzulehnen)
- 9. Juni 2024: Wahlen zum Europäischen Parlament
- 10. September 2024: Staatspräsident Rebelo de Sousa darf sechs Monate nach dem Wahltermin erneut das Parlament auflösen, falls keine stabile Regierung etabliert werden konnte
- Ende Oktober 2024: die Regierung muss ihren Haushalt verabschieden, wofür sie eine Mehrheit auf ihren Entwurf vereinigen können muss. Kommt diese nicht zustande, würden Neuwahlen ausgerufen werden
- November 2024: Bekanntgabe eines möglichen Wahltermins
- Januar 2026: Präsidentschaftswahlen
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