Um die gesamte weltpolitische Lage zu bewerten, reichen 90 Minuten längst nicht aus. Trotzdem hat Dr. Christoph Heusgen die Zeit genutzt, um seine Einschätzung zu den aktuellen Konflikten abzugeben. Seine Kernbotschaft wurde schnell deutlich: Deutschland und Europa müssen gerade in diesen Zeiten mehr Verantwortung übernehmen, enger zusammenarbeiten und sowohl sicherheitspolitisch als auch wirtschaftlich unabhängiger werden.
Seinen Impuls begann Heusgen mit dem Hinweis, dass selten zuvor eine Zeit so von globalen Unsicherheiten geprägt war wie die gegenwärtige. Ein zentrales Thema war die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus, die im Januar bevorsteht. Heusgen, der in Trumps erster Amtszeit als Berater von Kanzlerin Merkel tätig war, sagte, man müsse sich darauf einstellen, dass die transatlantischen Beziehungen erneut auf die Probe gestellt würden.
Die USA könnten ihren Schutzschirm nicht mehr im gleichen Maße über Europa halten, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Daher sei es entscheidend, dass Europa eigenständige Verteidigungsfähigkeiten aufbaue und geschlossen auftrete. Die politischen Leitlinien, die sich die EU-Kommission jüngst für die kommenden Jahre gegeben hat, seien dahingehend ein guter Schritt.
Wirtschaftliche Herausforderungen und Freihandel
Heusgen sprach auch über die Bedeutung des internationalen Handels. Mit Blick auf das kürzlich abgeschlossene Mercosur-Abkommen sieht er die Chance, dass auch Deutschland neue Märkte für sich in Lateinamerika erschließen kann. Das Abkommen sei eine Antwort auf eine US-amerikanische Handelspolitik, die in den kommenden Jahren voraussichtlich protektionistischer wird: „Für den nächsten amerikanischen Präsidenten wird Freihandel nichts selbstverständliches mehr sein. Wir in Europa müssen deshalb alternative Partnerschaften stärken.“ Gleichzeitig mahnte Heusgen, die deutsche Entwicklungshilfe strategischer einzusetzen, um nachhaltige wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen – insbesondere in Lateinamerika und Afrika.
Sicherheitspolitik und Verantwortung Deutschlands
Heusgen wies darauf hin, dass Deutschland – auch vor dem Hintergrund seiner Geschichte – Schwierigkeiten hat, militärische Investitionen zu rechtfertigen. Dennoch sei es unumgänglich, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, um langfristig die Freiheit Europas zu garantieren: „Wir müssen uns fragen, wie viel uns unsere Sicherheit wert ist“, sagte er. Die enge Zusammenarbeit innerhalb der EU sei auch aus diesem Grund unverzichtbar.
Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine bezeichnete Heusgen die bisherigen Bemühungen, Russland diplomatisch einzubinden, als Fehlannahme. „Früher haben wir geglaubt, dass wir mit Russland Geschäfte machen können. Aber das war ein Fehler. Daher kam Nordstream 2“, so Heusgen. Zugleich warnte er davor, Russlands Präsident Putin zu unterschätzen: „Er hat die Unterstützung seines Volkes und stellt den Krieg als Verteidigungskampf dar. Ein Großteil der russischen Bevölkerung glaubt das.“
Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Wehrpflicht vs. Gesellschaftsjahr?
Im Gespräch mit dem Publikum ging es um die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Obwohl Heusgen einer Wiedereinführung der Wehrpflicht kritisch gegenübersteht, sprach er sich für ein gesellschaftliches Pflichtjahr aus, das jungen Menschen ein soziales Engagement ermöglicht. „Das würde nicht nur den Zusammenhalt stärken, sondern auch ein neues Bewusstsein für Verantwortung schaffen“, so Heusgen.
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