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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
über Preußen möchte ich heute mit Ihnen sprechen, über Preußens Erbe und seine Bedeutung für Brandenburg. Ich möchte mit einigen Zitaten beginnen, die für mich Preußen umreißen:
Das erste lautet:
„Die Religionen müssen alle tolerieret werden und muss der Fiscal nur das Auge darauf haben, dass keine der andern Abbruch tue, denn hier muss ein jeder nach seiner Façon selig werden.“
Dieses Zitat, die Toleranz gegenüber allen Religionen, ist exemplarisch für viele revolutionäre Neuerungen Friedrich II. Dazu gehören die weitgehende Abschaffung der Folter, eine für damalige Verhältnisse beispielhafte Pressefreiheit, Ansätze des Rechtsstaatsprinzips durch die Möglichkeit von Eingaben an den König durch alle Untertanen sowie die Abschaffung der Leibeigenschaft auf den königlichen Besitztümern; die vom Preußenkönig gewollte allgemeine Abschaffung der Leibeigenschaft scheiterte am Widerstand des Landadels.
Friedrich II., der deshalb zu Recht den Namen „der Große“ trägt, machte Preußen zum modernsten Staat seiner Zeit.
Das zweite Zitat stammt von Madame de Stael, einer französische Schriftstellerin, die 1803 Deutschland bereiste und über Preußen sagte: „Preußen zeigt ein Doppelgesicht, wie der Januskopf: ein militärisches und ein philosophisches“.
Drittens möchte ich den Historiker Heinrich von Treitschke zitieren, der im Jahre 1864 über Preußen festhielt: „Dieser Staat mit all seinen Sünden hat alles wahrhaft Große getan, was seit dem Westfälischen Frieden im deutschen Staatsleben geschaffen ward, und er ist selber die größte politische Tat“.
In unserer Zeit ist gerade zum Preußenjahr 2001 viel über Preußen geschrieben worden. Denken Sie an die Bücher von Sebastian Haffner, Christian Krockow und Gräfin Dönhoff. Der Umgang mit Preußen ist einfacher geworden, er ist unverkrampfter.
Bis noch wenige Jahre zuvor litt Preußen unter einem katastrophalen Ruf, den es, da sind sich heute alle Historiker einig, kaum verdient hat.
Sie werden sich ebenso wie ich an die peinliche Diskussion um die Anwesenheit des deutschen Bundeskanzlers bei der Rückführung der Gebeine Friedrichs des Großen nach Potsdam im Sommer 1991 erinnern.
Heute wissen wir, dass Deutschland damals doch nicht an der Schwelle zum Rückfall in den Militarismus stand. Weder haben wir mittlerweile versucht, unseren Nachbarn im Osten die ehemals preußischen Gebiete zu entreißen noch haben sich die Hohenzollern an die Macht geputscht. Und ich wage zu sagen: beides steht auch nicht bevor.
Das war eine bundesrepublikanische Debatte, ja, es war eine westdeutsche Debatte, wie sie heute nicht mehr vorstellbar ist.
Man rief Gespenster zur Hilfe, um die eigene Geschichtslosigkeit zu verschleiern und um politisch zu polarisieren.
Dennoch stand Preußen lange in diesem Verdacht. In einem Ultimatum der Entente-Mächte in Versailles heißt es 1919: „Die ganze preußische Geschichte ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert“.
Die Siegermächte des ersten und natürlich auch des zweiten Weltkriegs bedienten sich nur zu gern Preußens als Feindbild. Und vielleicht war es auch ein kollektiver Selbstschutz, daß die Deutschen nach den Schrecken des Dritten Reiches und des Angriffskriegs nur zu gern die Schuld auf Preußen schoben. Das gab es ja nicht mehr, das konnte sich auch nicht wehren.
Wahr ist: Preußen hatte eine leistungsfähige Armee, die im Vergleich zu den anderen europäischen Großmächten am wenigsten Kriege führte, die sich allerdings im 19. Jahrhundert auch nicht in die Gesellschaft integrierte. Gleichwohl wirkte sie ihrerseits nachhaltig auf das gesellschaftliche Bewusstsein. Stand die Armee noch 1806 an der Spitze des Fortschritts, so entwickelte sie sich zum Ende des Jahrhunderts hin stärker zum Militarismus.
Dennoch müssen wir eines ganz klar festhalten: Preußen hat von allen bedeutsamen europäischen Staaten die wenigsten Kriege geführt. Es war nicht die zentrale Brutstätte des Militarismus; dies ist eine geschichtsferne Legende.
An allen zwischen 1701, dem Krönungsjahr Friedrichs des I. und 1933, dem Ende der Weimarer Republik, geführten Kriegen sind europäische Staaten wie folgt beteiligt gewesen:
- Frankreich mit 28%,
- England mit 23%,
- Russland mit 21% und:
- Preußen mit 8%.
Kein preußischer König kann – auch nur von fern – mit den kriegerischen Monarchen Ludwig XIV. oder Napoleon I. verglichen werden. Nicht zufällig schrieb die Londoner Times 1860, dass Preußen sich lieber auf Konferenzen vertreten lasse, als dass es sich danach dränge, auf den Schlachtfeldern des Kontinents zu erscheinen. Preußen brauchte selbstverständlich – als Land ohne natürliche Grenzen – ein starkes Heer. Doch auf den preußischen Kanonen stand die Inschrift: „Ultimo ratio regis“ – der Waffengang ist der letzte Ausweg.
Maßlosigkeit der Ansprüche und protziges Auftreten wurden in Preußen verabscheut.
Theodor Fontane lässt in seinem Roman "Der Stechlin" einen Offizier sagen: „Dienst ist alles, und Schneidigkeit ist nur Renommisterei. Und das ist alles, was bei uns am niedrigsten gilt. Die wirklich Vornehmen gehorchen nicht einem Machthaber, sondern einem Gefühl der Pflicht. Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht. Es ist dies außerdem etwas speziell Preußisches.“
Wilhelm II. machte hierbei eine unrühmliche und das Preußenbild leider bis heute dominierende Ausnahme. Bis zur Zerstörung des Preußentums durch die nationalsozialistische Ideologie und das Inferno des Zweiten Weltkrieges galten preußische Wertmaßstäbe und bestimmten die innere Haltung vieler Menschen.
Sie flammten zum letzten Mal bei den Attentätern des 20. Juli auf, die überwiegend preußisch geprägt waren.
Mit dem Staat Preußen verband sich die Idee des Dienens, eine Idee, durch die Menschen gebunden und in die Gesellschaft eingebunden werden konnten.
Der Nationalsozialismus hingegen war alles andere als preußisch. In der Einleitung zu dem gemeinsam mit Sebastian Haffner 2001 herausgegebenen Band „Preußische Profile“ macht Wolfgang Vernohr dies eindrucksvoll deutlich. Nicht umsonst gehörten die bekanntesten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 namhaften preußischen Familien an, die für die preußischen Werte kämpften. Henning von Tresckow ist hier in jeder Hinsicht beispielhaft.
Viele weitere klangvolle Familiennamen Preußens finden sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Stauffenberg, Yorck und Moltke, Witzleben und Schulenburg, Schwerin und Stülpnagel sowie zahlreiche andere aristokratischer und bürgerlicher Herkunft.
Aber auch sie, über deren Tat wir dankbar sind, haben lange gezögert: Glanz und Versagen, Licht und Schatten liegen in der preußischen Geschichte ebenso nebeneinander, wie in jener anderer Staaten. Wir können heute daraus lernen und bewusst an das positive Ethos anknüpfen.
War auch der Versuch, in letzter Stunde den Aufstand gegen den Tyrannen zu wagen, die Charaktertat von einzelnen, so handelten sie doch in preußischem Geist und aus christlicher Verantwortung. Vor dem Hintergrund ihrer Tat gewinnt das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche, der ehemaligen Standortkirche vieler der Verschwörer, eine besondere und tiefere Bedeutung: „Üb“ immer Treu und Redlichkeit“.
Auch Hans von Ribbeck, Sproß einer alten preußischen Adelsfamilie, wurde nach dem 20. Juli verhaftet und im Februar 1945 im KZ Sachsenhausen ermordet. Er war ein direkter Nachfahr des von Fontane besungenen Hans-Georg von Ribbeck, dessen Geschichte ebenso Teil der preußischen Kulturgeschichte ist.
Heute, da der preußische Staat von der Landkarte Europas verschwunden ist, können wir das kulturelle Erbe Preußens ebenso unbefangen wie kritisch würdigen.
Und dieses preußische Erbe geht eben über die diversen kulturellen Güter, etwa die Stiftung „Preußische Schlösser und Gärten“ und die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“, weit hinaus, so großartig und wichtig diese für Brandenburg und Deutschland auch zweifellos sind.
Mich treibt die Frage um: Was ist mit den Ideen und den Idealen, die Preußen trugen? Vielleicht können Menschen auch heute von Idealen gebunden werden, die Preußen kultiviert hat. Ihrem Wesen nach können dies nur solche sein, die unabhängig von der damaligen Staatsform und ihren Zeitbedingtheiten Geltung haben.
Sprechen wir also über die „preußischen Tugenden“!
Allgemein ist unter Tugend eine durch Handeln erworbene Fähigkeit zu verstehen, das sittlich Gute zu tun. Ethisch zu unterscheiden sind hierbei Verstandestugenden, wie Weisheit und Klugheit von Willenstugenden, wie Tapferkeit und Mäßigung. Das „sittlich Gute“ ist – zumindest in gewisser Weise – abhängig von den zeitbedingten Wertvorstellungen eines Volkes.
Dennoch gibt es einen Kern der Bestand hat. Danach ist das „sittlich Gute“ dasjenige, was das Glück vermehrt und das Leid mindert; wobei zu berücksichtigen ist, dass das wirkliche Glück der Einzelne nie auf Kosten der Gemeinschaft und jene nie zu Lasten des Einzelnen erreichen kann; es muss stets einen Ausgleich zwischen den Anliegen des Individuums und der Gesellschaft geben.
Eigenschaften wie selbstloser Dienst, Gelten durch Leistung, Bescheidenheit, Pflicht vor allem gegenüber dem Staat, Haltung und Ehre, wurden in Preußen geschätzt und hochgehalten.
Preußen war ein sparsamer Staat, die Mark Brandenburg ein armes Land, nicht gesegnet mit den Reichtümern der Natur. Preußen konnte sich nur behaupten, weil es die Fähigkeiten seiner Bewohner förderte und nutzte, sie zu Fleiß, Sparsamkeit und Bescheidenheit anhielt. Auf dieser Grundlage war der preußische Staat – zu Zeiten des Soldatenkönigs und Friedrichs des Großen – modern.
Dieser – manche sagen – Militär- und Beamtenstaat konnte durchaus vorzügliche Leistungen aufweisen. Vielleicht ist auch deshalb die Neigung seiner Untertanen zur kritiklosen Unterordnung befördert worden. Auch Gutes kann sich unheilvoll auswirken.
Als dieses Preußen bei Jena und Auerstädt unterging, erneuerte es sich danach aus eigener Kraft, um wieder an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, wie Scharnhorst es nannte. Denn dieser Geist hatte die Steins und Hardenbergs geboren, die es für eine solche Katharsis brauchte.
Heute spüren wir in unserem Land zunehmend die negativen Folgen der Massen- und Wohlstandsgesellschaft, vom Egoismus bis zum Verfall des Wert- und Rechtsbewusstseins; das gilt für Brandenburg, aber auch für Deutschland allgemein. An preußische Ideale in tugendhafter Absicht anzuknüpfen kann heißen, diesen Erscheinungen entgegenzuwirken und einen Neuanfang zu beginnen.
Die preußischen Reformen können uns in vielem heute Vorbild sein. Lesen Sie einmal in Hardenbergs „Rigaer Denkschrift“ von 1807; sie ist nach wie vor hochaktuell, etwa beim Verhältnis von Individuum und Staat. ...
Denn heute muss es darum gehen, die Menschen wieder stärker auf ein überindividuelles, am Gemeinwohl orientiertes Ethos zu beziehen. Das Glück der Einzelnen ist nur vollständig, wenn sie über sich selbst hinausgehoben werden und ihnen das Schicksal der anderen nicht gleichgültig ist.
Wir brauchen auch heute eine Idee von unserer Gesellschaft, vom Dienst an der Gemeinschaft, die die Herzen höherschlagen lässt. Heimat, Nation, Demokratie, kulturelles Bewusstsein sowie die sich damit verbindenden Grundwerte müssen stärker in ihrem Wert erkannt und bewusst gemacht werden.
Die preußische Idee hat, wie der Geisteswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps gesagt hat, „nichts Rauschhaftes“ in sich, denn „über dem Preußentum lacht nicht die Sonne des Südens, sondern es ist stets in die rauhe Luft der Pflichterfüllung eingetaucht gewesen“.
Daher wird es im vereinten Deutschland – der Berliner Republik – die nicht nur östlicher geworden ist, als die Bonner, sondern auch protestantischer und leider auch atheistischer, künftig darauf ankommen, die positiven Werte Preußens stärker zu kultivieren.
Natürlich sind Tugenden auch mißbrauchsfähig. Manche preußischen Ideale wurden zum Werkzeug einer verbrecherischen und menschenverachtenden Ideologie. Unsere geschichtliche Erfahrung, dass sich Tugenden durchaus als missbrauchsfähig erweisen bedeutet nicht, dass sie in ihrem Wesensgehalt schlecht sind. Es kommt darauf an, dass wir uns ihnen mit Bedachtheit nähern.
Wir sind gut beraten, wenn wir uns in der Frage der Tugenden an dem griechischen Philosophen Aristoteles orientieren, der das nachdenkliche Abwägen selbst zu einer Tugend erhebt. Demnach ist der tugendhafte Weg gewissermaßen jener der Mitte. Es kommt auf das gute Maß an.
Bei Aristoteles heißt es zu den Tugenden „Tapferkeit“ und „Besonnenheit“: „Wer alles ... fürchtet und nichts aushält, der wird feige, wer aber vor gar nichts Angst hat, sondern auf alles losgeht, der wird tollkühn; und wer jede Lust auskostet und sich keiner enthält, wird zügellos, wer aber alle Lust meidet, wird stumpf wie ein Tölpel. So gehen Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermaß und Mangel zugrunde, werden aber durch das mittlere Maß bewahrt“.
Tugenden sind, ebenso wie Macht, ein Mittel und kein Selbstzweck; es stellt sich immer die Frage, wozu man sie nutzt. Die preußischen Tugenden waren auf das Königtum und den damaligen Staat hin orientiert – beides besteht nicht mehr.
Die Frage nach den vorrangigen Werten und nach den Zielen denen sie dienen, muß daher stets neu beantwortet werden. Unser Grundgesetz gibt darauf eine eindeutige Antwort: Artikel l GG gibt den Rahmen vor: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. In ihm verkörpern sich auch preußische-deutsche Traditionen wie auch Tugenden, die über unsere nationale Kultur hinausreichen.
Unsere Demokratie ist auf Dauer nur lebensfähig, wenn sich die Menschen, die sie ausmachen, nicht am Egoismus, sondern am Gemeinwohl orientieren. Was haben Grundwerte, was Menschenwürde oder Toleranz, was Freiheit oder Frieden für einen Sinn, wenn sich niemand davon in die Pflicht nehmen lässt? In die Pflicht nehmen lassen heißt: Handeln.
Dies setzt nicht nur Engagement, sondern auch Persönlichkeit und Charakter voraus. Ich habe die Hoffnung, dass die so beschriebene Tugendhaftigkeit in unserer Demokratie – bei allen Unzulänglichkeiten unserer Gesellschaft – gerade durch den Pluralismus der Meinungen und durch die Kraft zur Entscheidung, vor allem aber durch unsere Freiheit zum Di skurs, befördert wird. Denn die Freiheit ist die Grundlage all dessen, was wir schaffen können.
Lassen Sie mich – in diesem Sinne - zum Abschluss den Preußen Wilhelm von Humboldt zitieren, der im Jahre 1792 ein Werk mit dem bescheidenen Titel „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen des Staates zu bestimmen“ schrieb. Darin heißt es: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung“.
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